Die „Stunde Null“ ist – wenn man darüber nachdenkt – ein schwieriger, problematischer Begriff: Er meint die Zeit nach der bedingungslosen Kapitulation des 3. Reichs, als Deutschland besiegt und zerstört auf eine ungewisse Zukunft zusteuerte. Andererseits schwingt in der „Stunde Null“ auch die Wertung eines Neuanfangs mit: Mit dem Schrecken und der Verbrechen wird abgeschlossen, nun beginnt eine neue Zeit. Dass dem nicht so war und eine Auseinandersetzung mit der Schuld erfolgte, war ein wichtiges Ziel der Besatzungsmächte in Deutschland: Die Deutschen sollten im Westen zu Demokraten und freien Bürgern werden; im Osten hingegen sollten sie im Sinne des Sozialismus indoktriniert werden.

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Es ist kaum möglich, sich vorzustellen, wie die Menschen damals lebten und fühlten: Die Nachkriegszeit ist schwierig – Familien sind zerrissen, Heimat gibt es oftmals nicht mehr, alte Ordnungen gelten nicht mehr und doch muss man (über)leben. Die „Trümmerfrau“ wird zum Sinnbild dieser Jahre: Die Männer sind gefallen, verschollen oder gefangen – nun ist es an den deutschen Frauen, die Trümmer der letzten Jahre zu beseitigen. Ebenso wie die Trümmerfrau hat sich in das kollektive Gedächtnis der Schwarzmarkt eingeprägt: Nicht mehr klassische Wertgegenstände, sondern Lebensmittel sind in der ärgsten Not das wichtigste. Doch trotz all dieses Elends entwickelt sich auch ein bejahendes Leben in den Ruinen Deutschlands: Die Menschen erleben eine Lebensfreude, die man aus heutiger Sicht kaum nachvollziehen kann.

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Harald Jähner, ehemaliger Feuilletonchef der Berliner Zeitung, nimmt diese Eindrücke, Stimmungen und Entwicklungen hervorragend in seinen Bildband „Wolfszeit – Ein Jahrzehnt in Bildern 1945 – 1955“ auf. Ihm gelingt es, ein Panorama dieser Zeit zu zeichnen. Die Amerikaner setzen die Deutschen früh mit ihren Verbrechen auseinander – Bilder der Opfer der Konzentrationslager werden veröffentlicht, in der Nähe lebende Bürger müssen Massengräber besuchen und Dokumentationen über den Holocaust werden in den Kinos gezeigt. Andererseits – und das irritiert und verstört viele Menschen zunehmend – schließen „die Deutschen“ schnell mit der Nazi-Vergangenheit ab. Die Entnazifizierung ist schwierig und von dem Hass und dem Fanatismus früherer Zeiten ist bald nichts mehr zu spüren. In diesem Zusammenhang wird sehr deutlich, was Benjamin Ferencz – Chefankläger der Nürnberger Prozesse – meinte, als er in einem Interview des Nachrichten-Magazins „Der Spiegel“ äußerte, dass der Krieg Mörder hervorbringen könne. Er könne Massenmörder aus Männern machen, die normalerweise vielleicht anständige Menschen geworden wären. (Der Spiegel, Nr. 46, 07.11.2020, S. 63)

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Harald Jähner leitet die einzelnen Kapitel mit nachdenkenswerten Erklärungen ein. Neben der unmittelbaren Zeit nach der Kapitulation, der Vertreibung von Millionen Menschen und dem Leben in den zerstörten Städten stellt er auch die Entwicklungen des kulturellen Lebens und das beginnende Wirtschaftswunder dar.

Die sorgsam ausgewählten Bilder verwundern, erschrecken und faszinieren. In Trümmern entstehen Tanzlokale, die von einer neu erwachten Lebensfreude berichten. Fotografen entwickeln das Genre der „Trümmerfotografie“. Gesellschaftliche Entwicklungen sind unaufhaltbar und die deutsche Verwaltung sieht sich bald gezwungen, vor Geschlechtskrankheiten zu warnen.
Letztlich zeigen diese Bilder in ihrer Gesamtheit die bemerkenswerte Fähigkeit des Menschen, sich in seine Lebensumstände einzufinden. Wir können den Bildband sehr empfehlen, ermöglicht er doch einen ungewohnten und neuen Einblick in diese Zeit voller Umbrüche und Ungewissheiten.
Mehr Informationen
- Harald Jähner: Wolfszeit. Ein Jahrzehnt in Bildern. 1945 – 1955
- 264 Seiten, ca. 150 Abbildungen
- € 28,00 (D)/ € 28,80 (AT)
- ISBN: 978-3-7371-0101-1
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