Afrikanische Perspektiven für das 21.Jahrhundert

afrikaWas ist los mit Afrika? Das fragen sich Politiker und Entwicklungshelfer, mehr als 50 Jahre nach Beginn der Entkolonialisierung Afrikas. Der Kontinent, in dem ein Großteil der weltweiten Bodenschätze liegen und der landwirtschaftliche Überschüsse erzeugen könnte, wankt von einer Hungersnot in die andere und ist von Kriegen und Chaos geprägt. Von den 20 ärmsten Ländern der Welt liegen 16 in Afrika. Warum lassen sich geografische Vorzüge nicht in Wohlstand umsetzen?

Wer sich in der europäischen Geschichte auskennt, erkennt frappierende Parallelen zwischen der Lage des modernen Afrika und der Situation in Europa am Beginn der Neuzeit.

Damals befand sich Europa im Umbruch. Die sozialen und politischen Mechanismen des Mittelalters griffen nicht mehr, und Ersatz war noch nicht geschaffen. Der Einfluss der Kirche war noch immer sehr groß, doch das religiöse Gewicht des Klerus mit dem Papst an der Spitze war angesichts der um sich greifenden Dekadenz, Verweltlichung und Pervertierung uralter Regelungen minimal geworden. Allerorten suchten sich die Menschen Ersatz für den als leere Hülle empfundenen alten Glauben und folgten neuen Propheten, die in allen Regionen Europas aus dem Boden schossen. Manche waren Scharlatane, manche aber auch Reformer mit einem echtem Bedürfnis, die „Mutter Kirche“ zu erneuern. Martin Luther war einer von ihnen, und er hat sich den Bruch mit der Papstkirche alles andere als leicht gemacht. Neben dem weit verbreiteten Verdruss über die katholische Kirche machte sich Aberglaube breit. Die berüchtigten Hexenverfolgungen waren keine Sache des Mittelalters, sondern des 15., 16. und 17. Jahrhunderts, also der frühen Neuzeit!

Auch das soziale Gefüge war am Zerbrechen. Zwar hielten die familiären Strukturen noch, doch strömte die verarmte Landbevölkerung vermehrt in die Städte, die daraufhin überquollen. Zunehmend verwandelten sich einzelne Viertel in verwahrloste Elendssiedlungen, während weite Landstriche verödeten. Ungünstiges Klima trug mit zu dieser Landflucht bei, weil lange Winter und Dürreperioden die Landwirtschaft massiv beeinträchtigten, doch wichtiger war etwas anderes: Die Rentenwirtschaft dieser Zeit, bei der ein Grundherr, meist ein Adliger oder wohlhabender Städter, die Einnahmen aus seinem Land abschöpfte. Er war an maximalem Gewinn interessiert, doch die wenigsten Grundherren waren auch zu Investitionen bereit, weswegen die Entwicklung neuer Anbaumethoden stagnierte und die abhängigen Bauern unter immer höheren Abgaben stöhnten.

Währenddessen zerfleischten sich die europäischen Staaten in endlosen Kriegen. Söldnerheere durchzogen die Länder und holten sich von den Bauern, was sie zum Leben brauchten. Die Kriegsführung jener Tage zielte selten direkt auf die Annexion von feindlichen Landesteilen oder ganzer Länder, sondern in erster Linie auf eine wirtschaftliche Schädigung des Gegners. Daher wurden nur selten richtige Schlachten geschlagen, sondern meistens zogen Söldnertrupps umher und verwüsteten gezielt Äcker und Dörfer. Wieder hatten vor allem die Bauern zu leiden, vor allem unter dem jahrzehntelangen gesamteuropäischen Krieg, den Historiker als 30jährigen Krieg bezeichnen. Er war weniger ein Religionskrieg, sondern ein Krieg um die europäische Vorherrschaft zwischen Frankreich, Habsburg und der aufstrebenden Großmacht Schweden.

Zu Kriegen, Dürren und Abgaben kamen noch Seuchen, die der Bevölkerung das Leben schwer machten. In mehreren Wellen fegte die Pest über Europa weg und entvölkerte ganze Landstriche. Auch Fleckfieber, Grippe, Masern, Aussatz und andere Ansteckungskrankheiten forderten ihren Zoll von der Bevölkerung. Mit den damaligen medizinischen Mitteln blieb oft nur eines: Abwarten, bis die Seuche vorüber war. Über Bakterien oder Infektionsmechanismen wussten die Ärzte wenig bis gar nichts. Am ehesten hätten noch die sogenannten „Kräuterweiblein“ helfen können, doch in der Hexenhysterie der frühen Neuzeit ging auch viel von diesem uralten Wissen verloren.

Durch Seuchen, Kriege und Landflucht wurden nicht nur unzählige Dörfer verlassen, sondern auch die Wirtschaftskraft Europas empfindlich geschwächt. Wo, wie in der Pfalz, zwischen dem 15. und dem 17. Jahrhundert durch Kriege und Auswanderung fast die Hälfte der Bevölkerung verloren ging, verarmten auch die Städte und der Adel, die damals tragenden Säulen der Wirtschaft.

Zwar gab es auch Bemühungen und Entwicklungen, die das Wirtschaftssystem revolutionierten. Die vorindustrielle Merkantilwirtschaft mit ihren staatlichen Manufakturen anstelle kleiner Handwerksbetriebe war der erste Schritt in das Industriezeitalter. Mit neuen Beamtenapparaten wurde die Landesverwaltung gestrafft und die Position des Landesherrn gestärkt, was zum neuzeitlichen Absolutismus führte. Und neue Ideen in der Finanzwelt hatten die Kontrolle der Geld- und Handelsströme Europas und damit fast der ganzen Welt durch einige wenige mächtige Bankhäuser zur Folge. Auf dem Höhepunkt seiner Macht war ein Jakob Fugger aus Augsburg nicht nur der reichste Mann seiner Zeit, sondern er beherrschte auch eine wirtschaftliche Macht, die, auf heutige Maßstäbe übertragen, einem Konzern entspräche, dem die zehn größten Firmen der Welt angehörten.

Doch diese unerhörten Machtmittel konzentrierten sich in den Händen weniger Finanzmagnaten und Fürsten. Die breite Bevölkerung litt bittere Not, während kein Jahr verging, ohne dass irgendwo in Europa Krieg oder Bürgerkrieg herrschte.

Im Afrika der heutigen Zeit herrschen ähnliche Zustände. Wegen klimatischer Extremsituationen, nicht angepasster Landwirtschaft und Bevölkerungsexplosion leidet die Landbevölkerung in weiten Teilen des Kontinents Not, während die Eliten in den Städten und in den Regierungen sitzen und die Gewinne abschöpfen. Diese Gewinne werden nicht etwa im Land investiert, sondern auf Konten deponiert oder an Günstlinge und Angehörige verteilt. Die politische Macht konzentriert sich in der Hand weniger, die den Staat als persönliche Versorgungsgrundlage ansehen und in der Art der mittelalterlichen Pfründe innerhalb ihres Anhangs verschachern. Kriege werden um Rohstoffe geführt, Bürgerkriege brechen aus, weil sich jemand nicht in der Weise am Reichtum des Landes bereichern kann, die ihm angemessen erscheint. Religiöse oder nationale Gründe für militärische Konflikte sind meist nur vorgeschoben, in Wirklichkeit geht es fast immer um wirtschaftliche Macht.

Man sollte sich allerdings hüten, aus dieser Analyse den plumpen Schluss zu ziehen, Afrika befinde sich noch im Mittelalter, Entwicklungshilfe müsse dementsprechend aus Demokratisierung, Industrialisierung und Modernisierung bestehen. Auch Afrika befindet sich im 21.Jahrhundert, auch in Afrika ist man sich der technischen Möglichkeiten unserer Zeit bewusst. Nur wird die Entwicklung gehemmt durch egoistische Machthaber, ewigen Krieg, und durch politische und wirtschaftliche Rahmenbedingungen, die geschaffen wurden von den ehemaligen Kolonialmächten Europas. Unsinnige Grenzziehungen, ideologieverhaftete Wirtschaftssysteme und politische Ränkespiele vor dem Hintergrund des Kalten Krieges haben dazu geführt, dass in vielen Staaten Afrikas unfähige Staatsführer an der Macht gehalten wurden. Für viele Jahrzehnte stand nicht die Befähigung eines Politikers oder das Wohl des Volkes im Vordergrund, wenn es um Förder- oder Hilfsmaßnahmen für Afrika ging, sondern die Zugehörigkeit eines Landes zu einem politischen Block und seine für die europäischen und amerikanischen Industrien interessanten wirtschaftlichen Ressourcen.

Erst seit kurzem kann Afrika relativ selbständig handeln. Das Ende der Blockpolitik des Kalten Krieges brachte auch das Ende des Interesses der weltpolitisch handelnden Mächte an Afrika, es wurde sich selbst überlassen. Auch diese Situation gab es schon einmal in der jüngeren Weltgeschichte: Nach der Entkolonialisierung Lateinamerikas wurden die neuen Staaten Süd- und Mittelamerikas eine Zeitlang sich selbst überlassen. Europa war mit sich selbst beschäftigt, die USA noch nicht bereit, über den eigenen Tellerrand hinauszublicken. Die Folge war nach der Etablierung der Staatenwelt Lateinamerikas im Jahrzehnt zwischen 1820 und 1830 eine fast 150 Jahre dauernde Periode von Rasse-, Partei- und Klassenkämpfen, Grenzkriegen und ausländischen Einmischungen. Erst seit wenigen Jahrzehnten konnten sich jetzt die meisten Staaten so weit festigen, dass sie trotz immer wieder aufbrechender innerer Unruhen ein demokratisches System und wirtschaftliche Prosperität entwickeln konnten. Wie auch in Europa vollzog sich der Übergang vom mittelalterlichen zum neuzeitlichen System in furchtbaren, jahrhundertelangen Krämpfen.

Die Perspektive für Afrika ist also düster. Sollte sich die Geschichte ein weiteres Mal wiederholen, stehen dem schwarzen Kontinent nach den blutigen Jahrhunderten der Kolonialisierung und des Kalten Krieges weiter bittere Zeiten bevor. Doch das muss nicht sein. Afrika hat die Chance, die Entwicklung zu einem politisch stabilen Kontinent schneller als Europa und Südamerika hinter sich zu bringen. Während Europa zwei Weltkriege brauchte, um zur Besinnung zu kommen, und Südamerika gerade noch in den letzten Zuckungen liegt, bevor es (hoffentlich) zur Ruhe kommt, könnte Afrika davon profitieren, dass es nur noch eine Supermacht gibt, in deren Interesse es liegt, dass weltweit Ruhe herrscht. Auch die enormen Mittel der USA sind irgendwo begrenzt, man kann nicht andauernd weltweit Feuerwehr und Polizei spielen, ohne seine Möglichkeiten irgendwann zu überfordern. Außerdem gibt es noch die Vereinten Nationen, die bei aller Machtlosigkeit doch ein Forum für Verhandlungen bieten können. Dass China mittlerweile Afrika als „Nahrungsquelle“ für seinen unerschöpflichen Rohstoffhunger entdeckt hat, könnte allerdings zu neuen Spannungen führen, denn auch die Chinesen arbeiten eng mit lokalen Machthabern zusammen, was das Karussell aus Macht, Reichtum und dem Egoismus der Mächtigen und Reichen Afrikas wieder in Gang bringen könnte.

Gelingt es im 21.Jahrhundert, die Ichbezogenheit der Machthaber Afrikas zu überwinden, die Not der Bevölkerung zu lindern und die wirtschaftlichen und politischen Abhängigkeiten des Kontinents auf ein erträgliches Maß zu bringen, wäre es den Afrikanern vielleicht möglich, zu den geordneten und wohlhabenden Verhältnissen zurückzukehren, die der Kontinent schon einmal erlebt hat: Während der Zeit, die wir in Europa Mittelalter nennen.

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