Die zum 175. Geburtstag Felix Mendelssohn-Bartholdy im Jahr 1984 herausgegebene DDR-Briefmarke
Die zum 175. Geburtstag Felix Mendelssohn-Bartholdy im Jahr 1984 herausgegebene DDR-Briefmarke

Die von Michail Gorbatschows Glasnost und Perestroika profitierenden KSZE-Folgetreffen, das Kulturabkommen zwischen den beiden deutschen Staaten, die deutsch-deutschen Städtepartnerschaften und eine Renaissance des Judentums in kleinen jüdischen Gemeinden flankierten oder entfachten das Engagement zahlreicher weitgehend aus kirchlichen Kreisen entstammender Bürger- und Friedensinitiativen und die Massendemonstrationen für mehr Freiheitsrechte und eine Verbesserung der Umwelt- und Lebensverhältnisse in der nahezu bankrotten DDR im Jahr 1989. Die auf breiter Ebene angestoßene Menschenrechtsdiskussion durch die im Januar 1989 beendete Wiener KSZE-Folgekonferenz sowie das erste Expertentreffen über die menschliche Dimension der KSZE vom 30. Mai bis zum 23. Juni 1989 in Paris im 200. Gedenkjahr an die Französische Revolution beeinflussten die Protestaktionen der Bürger, die durch die offenkundige Wahlfälschung bei den den Kommunalwahlen am 7. Mai 1989 beträchtlich anwuchsen. Sie beförderten Bestrebungen, die nach der abscheulichen Gewaltherrschaft der Nationalsozialisten und der deutschen Teilung im Jahr 1945 planvoll auf eine Öffnung der Berliner Mauer am Jahresgedenktag der Reichskristallnacht gerichtet waren und trugen zusammen mit der von Ungarn, der Tschechoslowakei und Polen unterstützten oder tolerierten Flüchtlingsbewegung aus der DDR entscheidend zur Öffnung am 9. November 1989 bei.

 

​Die Mitwirkenden bei der Uraufführung der Oper Graf Mirabeau am 14. Juli 1989 in der Deutschen Staatsoper Berlin
​Die Mitwirkenden bei der Uraufführung der Oper Graf Mirabeau am 14. Juli 1989 in der Deutschen Staatsoper Berlin

Bedeutsam für die Planungen war das Gedenken in der DDR an die Reichskristallnacht am 9. November 1988. Am 40. Jahrestag dieses verheerenden und menschenunwürdigen Ereignisses erfolgte neben zahlreichen anderen Gedenkveranstaltungen in Anwesenheit Erich Honeckers die symbolische Grundsteinlegung zum Wiederaufbau der durch Pogrom, Bombenangriff und Sprengung weitgehend zerstörten Synagoge in der Oranienburger Straße in Ostberlin. Ein gezielter Einsatz der mit Gerechtigkeitssinn und Menschlichkeit verbundenen David-Metapher, die bereits das Widerstandsgeschehen im Zweiten Weltkrieg und die Völkerversöhnung in der Nachkriegszeit mit geprägt hatte und bei der besonderen Pflege des kulturellen Erbes in der DDR auf einen fruchtbaren Boden stieß, machte sich diese Gedenkkultur zu nutze. In Dresden wurde die von den Ungarn Tibor Miklós (Libretto) sowie Gábor Kémeny und Tibor Kocsák (Musik) nach einem Roman von Stefan Heym konzipierte Rockoper „Der König David Bericht“ nach zahlreichen vorausgegangenen Aufführungen im Volkstheater von Halberstadt und in der Dresdener Staatsoperette planmäßig auch am 9. November 1989 dargeboten. Wichtige Eckpunkte der Planungen, die in der DDR, in der Bundesrepublik und auch von europäischer Seite betrieben wurden, waren ferner

  • die Ökumenischen Vollversammlungen in Dresden (12.-15. Februar 1988), Magdeburg (8.-11. Oktober 1988) und erneut Dresden (26.-30. April 1989) und die Bündelung der verschiedenen Texte im Einführungsteil unter dem biblischen Wort „Schalom“.
  • die Darbietung von Georg Friedrich Händels Oratorium „Judas Makkabäus“ am 18. Mai 1989, dem Geburtstag des polnischen Papstes Johannes Paul II., im Dom der hessischen Stadt Wetzlar. Am 9. November wird jährlich das von dem Befreiungskampf der Makkabäer gegen die Seleukidenherrscher im 2. Jahrhundert v. Chr. und dem jüdischen Chanukka-Fest hergeleitete Weihefest der Lateranbasilika gefeiert, die die Kathedrale des Bistums Rom und Bischofskirche des Papstes ist und gemäß Inschriften am Haupteingang den Titel „Mutter und Haupt der Kirchen in der Stadt Rom und des ganzen Erdkreises“ führt.
  • der genau zwei Jahre nach dem eindringlichen Appell von US-Präsident Ronald Reagan vor dem Brandenburger Tor „Herr Gorbatschow, öffnen Sie dieses Tor! Herr Gorbatschow, reißen Sie diese Mauer ein!“ beginnende viertägige Staatsbesuch Gorbatschows am 12. Juni 1989 in der Bundesrepublik. Die „Gemeinsame deutsch-sowjetische Erklärung“, die einen Tag später von Bundeskanzler Helmut Kohl und Gorbatschow in Bonn unterzeichnet wurde, betonte das Selbstbestimmungsrecht der Völker.
  • die beiden herausragenden musikalischen Darbietungen am 14. Juli 1989, dem 200. Jahrestag des Sturms auf die Bastille in Paris, in Ostberlin. Im Schauspielhaus spielte das Orchester des Schleswig-Holstein Musik-Festivals mit Leonard Bernstein Werke von Mendelssohn-Bartholdy, Debussy und Berlioz. In der deutschen Staatsoper und zeitgleich in den Opernhäusern von Karlsruhe und Essen ging die Uraufführung der Oper von Siegfried Matthus „Graf Mirabeau“ über die Bühne und nutzte in Verbindung mit der Heimatstadt des Verfassers, Herborn, auch hier einen Davidsbezug. Die idyllische Fachwerkstadt an der Dill war am 14. Juli 1968, im 1200. Jahr der Königskrönung Karls des Großen in Noyon (Dep. Oise, Picardie), eine Städtepartnerschaft mit der südfranzösischen Stadt Pertuis (Dep. Vaucluse, Provence) eingegangen, in deren Kanton das Stammschloss der Familie des eng mit der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte der Französischen Revolution verknüpften Protagonisten der Oper liegt.
  • der Aufruf zur Gründung einer Sozialdemokratischen Partei der DDR (SDP) am 26. August 1989 auf einem Seminar der Berliner Golgatha-Gemeinde durch Markus Meckel, den späteren Außenminister der DDR, und einige andere Teilnehmer. Das Seminar befasste sich mit der Thematik „Menschenwürde – Menschenrechte – Menschenpflichten“ anlässlich des 200-jährigen Jahrestags der Verkündung der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte durch die französische Nationalversammlung. 1846 wurde an diesem Jahrestag auch das von Felix Mendelssohn-Bartholdy in Leipzig komponierte Oratorium „Elias“ in seiner Urfassung in Birmingham uraufgeführt, das die biblische Geschichte des Propheten Elias zum Inhalt hat. Dieser versuchte mit ständigem unnachgiebigem Einsatz das israelitische Volk vom Glauben an falsche Götter abzuhalten.
  • die am 4. September 1989 in Leipzig erstmals einsetzende Montagsdemonstration nach Friedensgebeten in der Nikolaikirche, bei der Versammlungsfreiheit, Vereinigungsfreiheit und offene Grenzen gefordert wurden. Die Aktion offenbarte einen Bezug zu dem 1857 am gleichen Jahrestag feierlich enthüllten Goethe- und Schiller-Denkmal in Weimar und dem Lebenswerk der Dichterfreunde, das untrennbar mit den Freiheitsrechten verbunden ist.
  • die am 40. Jahrestag der DDR, dem 7. Oktober 1989, in der Semper Oper in Dresden sich ereignende Premiere der Oper „Fidelio“ von Ludwig van Beethoven, die von der Zivilcourage einer Frau handelt, die den Machtmissbrauch des Gouverneurs der Staatsgefängnisse mit List und Tücke bekämpft. Die Regisseurin Christine Mielitz gestaltete das Bühnenbild des Gefängnishofs in Form eines Hochsicherheitstrakts mit einem Wachturm aus Beton, Beleuchtungseinrichtungen und Stacheldrahtumzäumungen, der die Zuschauer an die Unmenschlichkeit der deutsch-deutschen Grenze erinnerte und hohe Bedrückung hervorrief.
  • die Bildung der „Gruppe der 20“ am 8. Oktober 1989 in Dresden, maßgeblich initiiert von den beiden Kaplanen Frank Richter und Andreas Leuschner. Der Name der Gruppe versinnbildlichte den Umsturzversuch gegen Hitler am 20. Juli 1944, der auch katholischer, evangelischer, orthodoxer und koptischer Gedenktag an den Propheten Elias ist und in Westberlin in der Gedenkstätte Deutscher Widerstand zur Eröffnung einer neuen Dauerausstellung über den gesamten deutschen Widerstand gegen den Nationalsozialismus am 20. Juli 1989 geführt hatte. Die Bürgergruppe wurde ersucht, am nächsten Tag mit dem Dresdner Oberbürgermeister über ein ganzes Bündel an Freiheitsrechten, über gewaltfreie Demonstrationen und die Freilassung inhaftierter Demonstranten und anderer politischer Gefangener zu reden. Die Verhandlungsergebnisse wurden am 9. Oktober in mehreren Kirchen der Stadt verkündet.
  • die Montagsdemonstration am 9. Oktober 1989 in Leipzig mit 70.000 Teilnehmern, die den sich postierenden bewaffneten Sicherheitskräften die Stirn boten. Der Demonstrationszug in der Leipziger Innenstadt verlief nach einem friedlichen Bürgeraufruf gewaltfrei und war der Auftakt für die nachfolgenden friedlichen, von staatlichen Übergriffen unbehelligten Massendemonstrationen. In der bundesrepublikanischen Residenzstadt des Rechts, Karlsruhe, wurde an diesem Tag, der auch Gedenktag an Abraham, den Stammvater von Judentum, Christentum und Islam ist, und somit adäquat zur David-Metapher eine unvergleichliche Friedens- und Humanitätssymbolik verkörpert, eine Händelgesellschaft gegründet. Karlsruhe und die Händelstadt Halle in Sachsen Anhalt waren seit 1987 städtepartnerschaftlich verbunden.
  • die am Abend des 9. Oktober 1989 organisierte Gesangseinlage der bekannten jüdischen Sängerin Jalda Rebling, 1987 Projektleiterin der UNESCO-Veranstaltung „Jiddische Kulturtage“ in Ostberlin, in der übervollen Gethsemanekirche am Prenzlauer Berg. Die Kirche war neben einigen anderen Symbol und Hort des Widerstands in der DDR.
  • die Tagung des Rechtsausschusses des Europäischen Parlaments am 9. November 1989 im Reichstagsgebäude in Berlin. Die Tagung am Jahrestag der Reichskristallnacht verdeutlichte den beispiellosen Verstoß der Nationalsozialisten gegen die Menschenwürde und -rechte und verstärkte den Druck zur Aufhebung der rechtswidrigen Ausreisebeschränkungen. Dabei war auch von Bedeutung, dass die EG seit September 1988 bilaterale Kooperations- und Handelsabkommen mit Ungarn, der Tschechoslowakei und Polen abgeschlossen hatte und die DDR in die akute Gefahr geriet, sich auch in weiten Teilen des Ostblocks zu isolieren.
  • die Bürgerdemonstration mit 40.000 Teilnehmern in der Hansestadt Rostock ebenfalls am 9. November 1989, in der die Marienkirche das Herz der friedlichen Revolution bildete. Am Abend des gleichen Tages eröffnete Ministerpräsident Johannes Rau in der Leipziger Oper die Kulturtage Nordrhein-Westfalens in der DDR mit einer Ausstellung zum Thema „Zeitzeichen“ und unterstrich damit die Bedeutung des deutsch-deutschen Kulturabkommens im Einigungsprozess.

Die DDR-Führung konnte dem allseitigen Druck zur Öffnung der Grenze nicht mehr standhalten.

 

Jochem Schäfer
Der Verfasser ist Ministerialrat a.D. In den vergangenen Jahrzehnten wirkte er neben seiner Arbeit als Bundes- und Landesbeamter bei friedens- und umweltpolitischen Ereignissen und Entschei­dungen auf EG-Ebene in enger Zusammenarbeit mit EG-Ministerrat, EG-Kommission und Europäischem Parlament mit; u.a. während seinen Tätigkeiten bei der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik bei der EG, bei der EG-Kommission und als Arbeitsgruppenvorsitzender während der deutschen EG-Ratspräsidentschaft 1978 in Brüssel. Ende 1988 wurde er von europäischer Seite angefordert und arbeitete zielorientiert mit auf die Öffnung der Berliner Mauer und die deutsche Einheit hin. Seit einer ganzen Reihe von Jahren betätigt er sich als freier Schriftsteller. http://jochem-schaefer.jimdo.com/

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