Globalisierung ist das Schlagwort der Stunde. Welchen Bereich unseres Lebens man auch betrachten mag, immer ist Globalisierung die Erklärung für neue Entwicklungen.
Ob Firmen Fertigungsbereiche oder gleich den Sitz des Unternehmens von einem Land in das andere verlagern, ob die Börse in Frankfurt ins Schlingern gerät, nur weil in Thailand ein Fax falsch interpretiert worden ist, oder ob man in Sekundenschnelle per E-mail mit Gesprächspartnern am anderen Ende der Welt kommunizieren kann, immer fällt den Menschen als erstes das Stichwort Globalisierung ein, um die zunehmende Vernetzung der Welt in allen Lebensbereichen zu beschreiben und zu begründen.
Und immer sind sie überzeugt, dass diese ominöse Globalisierung ein Kennzeichen, wenn nicht sogar ein Wahrzeichen unserer modernen Zeiten ist.
Hätte man aber vor hundert Jahren die Bürger irgendeiner europäischen Großstadt befragt, nach welchen Regeln ihre Welt funktioniert, auch ihnen wäre sicherlich als eines der ersten Stichworte „Globalisierung“ eingefallen, hätte es dieses Wort damals schon gegeben. Doch es gab auch damals schon viele Begriffe, die dem der Globalisierung entsprachen.
Denn auch vor hundert Jahren schon war die Welt ein sprichwörtliches Dorf. Die englischen Teeklipper fuhren um die halbe Welt, um chinesischen Tee nach Großbritannien zu bringen. Sie konnten dabei sicher sein, im Notfall einen englischen Hafen anlaufen zu können, denn ihr Weg war gesäumt von englischen Kolonien, in denen die Kultur des Mutterlandes hingebungsvoll gepflegt wurde. Gebaut wurden die Schnellsegler in amerikanischen Werften an der Ostküste, und auch ihre Wettbewerber waren meist amerikanische Schiffe.
Mit ihren Konkurrenten lieferten sie sich wahre Wettrennen, denn das Schiff, das als erstes in England ankam, konnte den Teepreis für die ganze Saison bestimmen. Die Klipper stellten dabei Rekorde auf, die erst im letzten Jahrzehnt von hypermodernen Rennbooten aus Fiberglas gebrochen wurden. Diese Beispiele moderner Ingenieurskunst sind aber ausgerüstet mit Hochleistungscomputern, GPS und sämtlichem Know-how, das die heutige Technik bieten kann.
Alle Länder, die sich damals als selbständige Industrienationen fühlten, beanspruchten nicht nur ihr eigenes Territorium, sondern auch noch andere Teile der Erde. Sie fühlten sich verpflichtet, diese Kolonien mit ihrer Kultur zu bereichern, und sie fühlten sich dazu berechtigt, im Austausch für diese Wohltat Rohstoffe aus den Kolonien nach Hause zu bringen, wo sie dann von der heimischen Industrie weiterverarbeitet wurden. Auch dadurch war die Welt vernetzt. Jeder Engländer, Franzose, Spanier, Portugiese, Deutsche, Italiener, US-Amerikaner, ja sogar Däne, Norweger und Belgier konnte sich auf fremden Kontinenten zu Hause fühlen, konnte er doch auf fremdem Boden bekannte Kultur vorfinden und Handel treiben, als wäre er in seiner Heimat. Und wenn in Europa zwischen zwei Staaten Eiszeit herrschte, waren auch die Verbindungen zwischen den jeweiligen Kolonien in Afrika, Asien Amerika oder Ozeanien gestört.
Über die kolonialen Beziehungen und den daraus entspringenden weltweiten Handelsbeziehungen war die Welt auch damals schon globalisiert, und auch damals gab es schon die Gewinner der Globalisierung, die den Handel steuerten, und die Verlierer, die nur auf die Ansprüche der Steuerleute reagieren konnten und darauf angewiesen waren.
Die gleiche Rollenverteilung finden war aber auch schon, wenn wir noch weiter auf der Zeitleiste zurückgehen. Was war denn zum Beispiel das Handelshaus der Fugger anderes als eine Weltfirma? Über Monopole steuerten die Augsburger Großhändler ganze Teilbereiche des Welthandels, sie trieben Handel mit Indien und China, mit Afrika und Amerika, sie zogen europaweit Transaktionen durch, spekulierten mit weltweiten Perspektiven und unterhielten in allen großen Zentren Banken, über deren Konten sie ihren Handel bargeldlos abwickelten.
Darüber hinaus mischten sie sich auch aktiv in die Politik ein. Der Habsburger Karl V. wäre ohne fugger´sche Gelder nicht auf den römisch-deutschen Kaiserthron gekommen, die Kriege des 16. Jahrhunderts, die den 30jährigen Krieg einleiten sollten, wären ohne die Fugger ganz anders verlaufen.
Und die Fugger waren nur ein Handelshaus der Renaissance. Die Welser, deren Hauptsitz sich ebenfalls in Augsburg befand, waren ebenso international, ja interkontinental tätig, und die Medici in Florenz waren nicht nur Europas führendes Bankhaus, sie stellten auch mehrere Male das politische Schwergewicht dieser Zeit, den Papst. Es kam nur wenige Male vor, dass jemand Papst wurde, der den Medici nicht genehm war.
Viele unserer Fachbegriffe, ohne die die Bank- und Handelswelt von heute nicht auskommen kann, stammen aus dieser Zeit, und viele sind italienischen Ursprungs: Das Girokonto zum Beispiel, der Lombardsatz und andere.
Die Städte ganz Europas waren auf den Handel angewiesen, und wenn eine Stadt aufblühte und zur Großstadt wurde, dann in den allermeisten Fällen nur deswegen, weil sie an einem großen Handelsweg lag. Diese Wege verbanden im wahrsten Sinn des Wortes die ganze Welt miteinander: Brügge, Paris, Nürnberg, Prag und Krakau lebten von den großen Fernstraßen, London, Hamburg, Lübeck, Lissabon und Nowgorod waren Eckpunkte des Seehandels, und ohne den Handel mit Arabern und Chinesen wären Venedig, Konstantinopel oder Alexandria nicht die strahlenden Perlen unter den Städten der mittelalterlichen Welt geworden, als die sie noch heute berühmt sind.
Auch die Politik dieser Tage unterschied sich in ihrer geographischen Spannweite kaum von der späterer, „modernerer“ Tage. Die Habsburger beherrschten nicht nur Europa von Spanien bis nach Ungarn, von der Nord- und Ostseeküste bis nach Italien, zu ihrem Machtbereich gehörte auch ein nicht unbeträchtlicher Teil Nord- und Südamerikas. In Zeiten der höchsten Machtfülle bestimmten sie auch, was in England und Frankreich, in Polen und Russland, im Osmanischen Reich der Türken und in Nordafrika geschah.
Doch Kaiser wie Karl V. strebten nur danach, etwas noch Älteres wieder herzustellen: Das Römische Reich, das erste wahre Weltreich, denn es umschloss in der Antike nicht nur fast die ganze bekannte Welt der Menschen des damaligen Europa, sondern seine Beziehungsnetze waren tatsächlich auch weltweit gespannt: Es sammelte wie ein Magnet Güter aus der ganzen Welt auf: Elfenbein, Gold, Häute und Sklaven aus Afrika, Seide, Porzellan, Gewürze und Luxusgüter aus Asien, und mit dem Chinesischen Reich, dem zweiten damaligen Weltreich am anderen Ende der Welt, wurden zeitweise sogar offizielle diplomatische Beziehungen unterhalten.
Römische Eroberungspolitik wurde zu einem nicht geringen Teil auch von handfesten Handelsinteressen gesteuert. Der Krieg gegen Karthago wurde unter anderem deswegen geführt, weil diese Seemacht den Handel im westlichen Mittelmeer beherrschte und dabei ein übermächtiger Konkurrent der aufstrebenden Großmacht Rom war. Pontius Pilatus war unter anderem deswegen Prokurator in Palästina, weil dieses Land an einem wichtigen Handelsweg nach Arabien lag.
Auch die Römer mussten also schon weltweit denken. Der einzige Unterschied zwischen den Römern der Antike, den Augsburger und Florentiner Handelsherren der Renaissance, den englischen Kaufherren des 19.Jahrhunderts und den dotcom-Unternehmern des 21. Jahrhunderts ist die Geschwindigkeit, mit der sie ihre Unternehmungen abwickeln, mit der sie um die Welt reisen und mit der sie mit ihren Handelspartnern kommunizieren.
Doch rechnet man die technischen Raffinessen unserer Tage heraus, enthüllt sich die Globalisierung als doch nicht ganz so neue Weltordnung.