FriedIIIFriedrich III., auch „99-Tage-Kaiser“ genannt, beschäftigt immer noch die Deutschen. Hätte die Geschichte des Kaiserreiches einen anderen Verlauf genommen, wenn der Hohenzoller in jüngeren Jahren als gesunder Mann auf den Thron gekommen wäre? Schon zu seinen Lebzeiten waren die Meinungen geteilt. Die sozialdemokratische Presse belächelte den Mythos vom liberalen Kronprinzen. In der Bevölkerung war Friedrich beliebt; er galt als bescheiden und höflich und hatte sich als General in mehreren Kriegen bewährt.

In seiner Umgebung äußerten jedoch selbst ihm wohlgesonnene Menschen Zweifel an seiner Fähigkeit, das Amt des Kaisers auszufüllen. Entscheidungsschach, von seiner Frau abhängig, zuweilen depressiv und ohne Initiative, ja faul – so lauteten einige kritische Kommentare aus den achtziger Jahren. In der Tat: Zwischen dem hochbetagten, aber immer noch rüstigen Kaiser Wilhelm I. und dem energiegeladenen Machtmenschen Bismarck wirkte Friedrich nach 1871 matt und erschöpft. Das war nicht mehr der erfolgreiche Truppenführer aus den Jahren 1866 und 1870.

In diesem Beitrag geht es um die politische Rolle des Kronprinzen. Zweimal galt er als Hoffnungsträger der Liberalen: Im preußischen Verfassungskonflikt in den sechziger Jahren und zu Beginn der achtziger Jahre, als die deutschen Liberalen noch einmal versuchten, eine vereinte liberale Partei zu gründen. Gleichzeitig stellt sich aber auch die Frage nach der Durchsetzungsfähigkeit und dem Profil des deutschen Liberalismus zwischen 1861 und 1888.

Liberale Mutter – konservativer Vater

Friedrich wurde am 18. Oktober 1831 in Berlin geboren. Er entstammte der Ehe zwischen Prinz Wilhelm von Preußen und Prinzessin Augusta von Sachsen-Weimar-Eisenach. Wilhelm kam als zweitältester Sohn ursprünglich nicht für die Thronfolge in Betracht. Er absolvierte eine militärische Laufbahn und war ein passionierter Soldat. Wilhelm vertrat entschieden konservative Ansichten und lehnte vor der Revolution von 1848/49 Zugeständnisse an die liberale und demokratische Opposition ab. Seine Ehefrau hingegen war fortschrittlicher eingestellt. Prinzessin Augusta entsprach nicht dem Frauenbild, das Wilhelm hatte. In Privatbriefen beklagte er ihre Neigung, mit ihm zu diskutieren und sich dabei nicht wie eine Prinzessin zu verhalten. Augusta war belesen und interessierte sich für Politik. Das Leben einer Ehefrau eines kommandierenden Generals und die damit verbundenen gesellschaftlichen Pflichten langweilten sie. Die Spannungen in Friedrichs Charakter scheinen in dieser Familienkonstellation ihre Wurzeln zu haben: auf der einen Seite der konservative Vater, der in den Jahren vor 1848 selbst gemäßigte Reformen ablehnte, und in der Bevölkerung Hass erregte; auf der anderen Seite seine liberal eingestellte Mutter, eine Frau, die ihrem Mann intellektuell überlegen war, aber keinen Einfluss auf die Leitung der Staatsgeschäfte hatte.

Im März 1848 brach auch in Berlin die Revolution aus. Am 18. März 1848 kam es in der Stadt zu Barrikadenkämpfen. Wilhelm plädierte dafür, Berlin zu räumen und von außen „sturmreif“ zu schießen. In der Bevölkerung wuchs die Wut auf den „Kartätschenprinzen“. Der preußische König, Friedrich Wilhelm IV. (1840 bis 1861), befahl seinem Bruder deshalb am 20. März, das Land zu verlassen und nach London zu reisen. Prinzessin Augusta blieb mit ihren beiden Söhnen in Potsdam. Ihr Ruf als liberal eingestellte Prinzessin sorgte dafür, dass für sie keine Gefahr bestand. Am 30. Mai 1848 bekannte sich Wilhelm öffentlich zu den Grundsätzen der konstitutionellen Monarchie und konnte nach Berlin zurückkehren. Er blieb bis an sein Lebensende ein Konservativer, hatte aber begriffen, dass die Entwicklung zum Verfassungsstaat nicht aufzuhalten war.

Friedrich trat in die Fußstapfen seines Vaters und wurde Offizier. Bei einem Regimentsessen äußerte er im Frühjahr 1849 im Kreis seiner Kameraden, dass eine Volksvertretung unverzichtbar sei. Die meisten Offiziere in der preußischen Armee teilten diese Auffassung nicht. Auch wenn man diese erste überlieferte politische Stellungnahme des jungen Prinzen nicht überbewerten sollte, so deutete sie doch an, dass Friedrich seiner Mutter näher stand. Und da die Ehe des Königs kinderlos blieb und Prinz Wilhelm schon das fünfzigste Lebensjahr überschritten hatte, würde Friedrich eines Tages den preußischen Thron besteigen. Ein freisinniger Monarch, der die Verfassung von 1848 auch ernst nimmt, darauf richteten sich die Hoffnungen der Liberalen nach der gescheiterten Revolution.

Da Friedrich nicht das Leben eines königlichen Prinzen einer Nebenlinie führen würde, musste er auf seine zukünftigen Aufgaben als König vorbereitet werden, auch wenn er formell noch kein Kronprinz war. Seine Mutter setzte durch, dass er von 1849 bis 1852 in Bonn Rechtswissenschaften und Geschichte hören konnte. Danach widmete er sich wieder seiner militärischen Karriere und nahm Repräsentationsaufgaben wahr. Bei einem Besuch der Weltausstellung 1851 in London lernte er Victoria, die älteste Tochter der britischen Königin, kennen. Im Januar 1858 heirateten sie. Im selben Jahr wurde Prinz Wilhelm offiziell zum Regenten erklärt, da Friedrich Wilhelm IV. aufgrund mehrerer Schlaganfälle seit 1857 nicht mehr seinen Pflichten nachkommen konnte.

 

Preußen: Ein „unvollendeter“ Verfassungsstaat

In Preußen hatte die Regierung am 05. Dezember 1848 eine Verfassung einseitig erlassen. Was vor der Revolution ein politischer Fortschritt gewesen wäre, geriet nun zum autoritären und konterrevolutionären Akt, da die demokratisch legitimierte preußische Nationalversammlung übergangen wurde. Die Verfassung wurde am 31. Januar 1850 in einem konservativ-reaktionären Sinne geändert.

Das Königreich Preußen war eine konstitutionelle Monarchie, in der die vollziehende Gewalt beim Thron lag. Regierungsakte des Königs bedurften zu ihrer Gültigkeit der Gegenzeichnung eines Ministers. Die Minister waren den gesetzgebenden Organen, der Ersten und der Zweiten Kammer, nicht verantwortlich. Ein Gesetz kam erst zustande, wenn der Monarch und die beiden Kammern zugestimmt hatten. Artikel 62 legte fest, dass die Gesetzgebung „gemeinschaftlich“ von den drei Verfassungsorganen ausgeübt wird. Die Erste Kammer, die ursprünglich aus geborenen und gewählten Mitgliedern bestand, wurde 1855 in ein Herrenhaus umgewandelt, dessen Mitglieder nur noch vom König ernannt wurden. Die Zweite Kammer trug seit 1855 offiziell den Namen Haus der Abgeordneten; die Bezeichnung Landtag bürgerte sich ein. Das ungleiche Wahlrecht zum Landtag gemäß dem Dreiklassensystem begünstigte Vermögen und Besitz und benachteiligte das Kleinbürgertum, die Landarbeiterschaft und das sich entwickelnde Industrieproletariat. Der Historiker Reinhard Rürup spricht von einem „Scheinkonstitutionalismus. Die Verfassung wurde nicht nur verändert, sondern auch umgangen und ohne Zögern verletzt“. Die Presse litt unter Zensur und die Wahlen wurden von der Regierung beeinflusst. In der Zweiten Kammer dominierten in den fünfziger Jahren die Konservativen. Allerdings bildeten sie keinen homogenen Block. Eine kleine Gruppe träumte von einer feudal-reaktionären Wiederherstellung der vorrevolutionären Verhältnisse. Ministerpräsident Otto Theodor von Manteuffel steuerte einen gouvermental-bürokratischen Kurs, der im Inneren auf eine Festigung der staatlichen Macht setzte und in der Außenpolitik eine antinationalistische Linie vertrat. Er gab alle Pläne für eine Einigung Deutschland unter preußischer Führung („kleindeutsche Lösung“) auf und akzeptierte die Vormachtstellung des Kaiserreiches Österreich im Deutschen Bund.

Die Politik der preußischen Regierung in dieser Zeit glich einem Versuch, einen Strom zu begradigen und Schutzdämme zu errichten. Die Liberalen und Demokraten, die während der Revolution von 1848/49 in vielen deutschen Staaten die Politik bestimmt hatten, konnten sich nur mit Einschränkungen oder gar nicht betätigen. Führende Mitglieder der Linken waren in die Emigration gegangen oder zogen sich in das Privatleben zurück. Mochte das Kabinett Manteuffel auch mit den Mitteln des Obrigkeitsstaates das noch 1848 in verschiedene politische Lager gespaltene Land scheinbar ‚befrieden‘, so veränderte sich Preußen in den fünfziger Jahren des 19. Jahrhunderts trotzdem. Die Industrialisierung machte Fortschritte, die vom Staat mit einer relativ liberalen Gewerbepolitik unterstützt wurde.

Die Opposition bestand seit 1851 vor allem in der sogenannten „Wochenblatt-Partei“. Hier fanden sich liberal-konservative Politiker zusammen. In der Innenpolitik waren die Gegensätze zwischen der „Wochenblatt-Partei“ und der Regierung nicht besonders groß. Deutlicher traten die Differenzen auf dem Gebiet der Außenpolitik hervor. Während die Regierung Manteuffel im Krimkrieg aus Rücksicht gegenüber dem traditionellen Verbündeten Russland neutral blieb, strebte diese liberale Richtung des preußischen Konservatismus eine nationalstaatliche Einigung Deutschlands unter preußischer Führung an. Der Liberalismus der „Wochenblatt-Partei“ war außenpolitisch motiviert: Nur ein Preußen, dass sich als reformorientierter Staat präsentierte, konnte auf die Unterstützung der Liberalen in Deutschland hoffen. Gleichzeitig erkannten die führenden Köpfe dieses Kreises, dass die Industrialisierung die sozialen Verhältnisse änderte. Ein moderater Konservatismus bot die Chance, Teile des liberalen Bürgertums zu gewinnen. Eine gesellschaftliche Allianz zwischen Industriebürgertum und landbesitzendem Adel hätte alte Fronten aufgelockert. Für kurze Zeit sah es so aus, als ob hier eine Partei wie die britischen ‚Tories‘ entstehen würde, eine politische Kraft, die den Konservatismus mit dem Verfassungsstaat aussöhnte. Die Niederlage des Zarenreiches im Krimkrieg gegen England, Frankreich und dem Osmanischen Reich am Ende des Krimkrieges 1856 erleichterte eine Neuorientierung der preußischen Außenpolitik. In der „Wochenblatt-Partei“ setzte man auf London als Bündnispartner.

Prinz Wilhelm von Preußen wurde 1849 zum Generalgouverneur der Rheinprovinz und Westfalen ernannt und nahm seinen Dienstsitz in Koblenz. Das Kurfürstliche Schloss wurde zum „Mittelpunkt“ der Liberal-Konservativen, so der Historiker Frank Lorenz Müller. Prinzessin Augusta förderte diese Entwicklung. Prinz Wilhelm hatte sich zu einem gemäßigten Konservativen gewandelt. Mit seiner Ernennung zum Regenten am 07. Oktober 1858 begann ein kurzer Abschnitt in der preußischen Geschichte, der als „Neue Ära“ bezeichnet wird. Der „Kartätschenprinz“ wurde plötzlich zum liberalen Hoffnungsträger. 1861 bestieg er nach dem Tod seines Bruders als Wilhelm I. den Thron.

Die Geschichte der „Neuen Ära“, die von 1858 bis 1862 dauerte, ist eine Geschichte der Missverständnisse und der unrealistischen Hoffnungen. Die Übernahme der Regentschaft durch einen gemäßigten Konservativen leitete das Ende des reaktionär-konservativen Regimes ein. Doch wer genauer hinsah, der konnte feststellen, dass Wilhelm nach wie vor auf die monarchische Autorität pochte: „Vor allem warne ich vor der stereotypen Phrase, daß die Regierung sich fort und fort treiben lassen müsse, liberale Ideen zu entwickeln, weil sie sich sonst von selbst Bahn brächten“.

Die Opposition schöpfte trotzdem Hoffnungen. Nicht nur Liberale, auch demokratische Politiker wie Johann Jacoby engagierten sich wieder im öffentlichen Leben. Neuer Ministerpräsident wurde Karl Anton von Hohenzollern-Sigmaringen. Er stand der „Wochenblatt-Partei“ nahe. Wilhelm strebte eine aktivere Deutschlandpolitik an. Das europäische Mächtesystem hat sich durch die Niederlage Russlands zugunsten Preußens verändert. 1859 kam es zur Einigung Italiens. Die Frage einer Reform des Deutschen Bundes in Richtung eines deutschen Nationalstaates stand damit wieder auf der Tagesordnung. Am 19. Juli 1859 veröffentlichten 25 Liberale, von denen 20 aus Hannover stammten, eine „Erklärung freisinniger Vaterlandsfreunde“. Die Liberalen reagierten auf die Gründung des Königreiches Italien, das mit Hilfe Frankreichs das Kaiserreich Österreich geschlagen hatte. „Der Krieg zwischen Oesterreich und Frankreich ist beendet. Damit ist aber eine Sicherung des öffentlichen Rechtszustandes nicht herbeigeführt… Das bedrohende militairische Übergewicht Frankreichs ist durch den Krieg noch erhöht.“ Die drohende Dominanz des französischen Kaiserreiches erforderte in den Augen dieser Liberalen eine Neuordnung der deutschen Verhältnisse. Der Deutsche Bund erschien dazu ungeeignet. „Das Verlangen nach einer mehr einheitlichen Verfassung Deutschlands unter Betheiligung von Vertretern des deutschen Volks an der Leitung seiner Geschicke mußte damit immer größer werden. Nur eine größere Concentrirung der militairischen und politischen Gewalt, verbunden mit einem deutschen Parlament, wird eine Befriedigung des politischen Geistes in Deutschland, eine reiche Entwicklung seiner inneren Kräfte, und eine kräftige Vertretung und Vertheidigung seiner Interessen gegen äußere Mächte herbeiführen können.“

Ohne Wilhelm beim Namen zu nennen, würdigte man die preußische Regierung, die einen „Systemwechsel“ vorgenommen hätte. Während das geschlagene Österreich nicht die Kraft besäße, Frankreich zu widerstehen und zudem durch seine außerdeutschen Territorien gezwungen wäre, keine rein deutsche Politik zu treiben, wäre Berlin dazu berufen, bei der deutschen Einigung eine Führungsrolle zu spielen: „Die Ziele der preußischen Politik fallen mit denen Deutschlands im Wesentlichen zusammen“.

Die Verfasser der Erklärung gingen davon aus, dass die Bevölkerung in den Mitgliedsstaaten des Deutschen Bundes die deutsche Einigung wünschte. Aber auch die betroffenen Regierungen sollten einsehen, dass die Abtretung von Rechten an eine von Preußen dominierte Bundesverwaltung in ihrem Interesse läge: „Umgeben von autokratisch regierten, stark centralisierten Militairstaaten können in Mitteleuropa nur straffer organisierte Völker und Staaten ihre Unabhängigkeit und Existenz auf Dauer retten.“ Am Schluss forderten die Unterzeichner Preußen auf, die erforderlichen Schritte zur Einberufung eines deutschen Parlaments zu unternehmen. Das bedeutete nichts anderes, als die Abschaffung des Deutschen Bundes und eine deutsche Einigung unter Ausschluss Österreichs, auch wenn dies nicht so deutlich gesagt wurde. Das zukünftige Deutsche Reich sollte ein föderaler Bundesstaat bleiben und konstitutionell regiert werden. Doch war das Königreich Preußen in der Lage, diese Politik durchzusetzen?

 

Friedrichs Rolle im preußischen Verfassungskonflikt

Im November 1858 stellte Wilhelm seinen Sohn dem Kabinett vor. Friedrich sollte in Zukunft an den Sitzungen des Kabinetts teilnehmen. Er unterstützte nicht nur den etwas liberaleren Kurs seines Vaters, sondern auch die vom Prinzregenten geplante Heeresreform. Die Mobilmachung von 1859 hatte Schwächen offenbart, die abgestellt werden mussten, wenn Preußen eine aktivere Deutschlandpolitik treiben wollte. 1860 präsentierte Kriegsminister Albrecht von Roon einen Plan, der die dreijährige Militärdienstzeit – die seit 1856 galt – endgültig festschreiben wollte. Gleichzeitig sollte die Friedensstärke des Heeres um 33 % erhöht werden. Mit der Vergrößerung der aktiven Truppe war eine Schwächung der Bürgerwehr vorgesehen. Diese milizähnlichen Verbände stammten noch aus der Zeit der Befreiungskriege. Die Heeresreform sollte sich zu einem Verfassungskonflikt entwickeln, der die preußisch-deutsche Geschichte nachhaltig beeinflusste.

1861 verschärfte sich der Konflikt. Linksliberale und gemäßigte Demokraten gründeten die Deutsche Fortschrittspartei (DFP). Die DFP war eine monarchistische Partei. In ihrem Gründungsaufruf von 1861 hieß es, sie sähe in einer Verfassung das Band, das Krone und Volk zusammenhielte. Die Linksliberalen strebten eine deutsche Einigung unter Führung Preußens und ein gemeinsames deutsches Parlament an. Sie forderten den rechtsstaatlichen Ausbau des Landes, die Stärkung der Unabhängigkeit der Richter, die Ministerverantwortlichkeit gegenüber dem Parlament, die Gleichberechtigung der Religionsgemeinschaften und eine Wirtschaftspolitik, die auf einen Abbau staatlicher Reglementierungen setzte. Die Fortschrittspartei betonte die Notwendigkeit einer Heeresvermehrung, glaubte jedoch, dass eine zweijährige Dienstzeit ausreichen würde. Außerdem sollte die Landwehr erhalten bleiben. Am Schluss forderte die DFP eine „durchgreifende“ Reform des Herrenhauses als Voraussetzung für alle weiteren Veränderungen. Diese konservativ-ständische Bastion sollte zu einer Ersten Kammer werden, wie es sie auch in anderen konstitutionellen Verfassungen Europas gab.

Das Programm der Fortschrittspartei kann als gemäßigt liberal bezeichnet werden. Sie unterstützte das Ziel der Heeresvermehrung, lehnte jedoch die völlige Abschaffung der Landwehr und die dreijährige Dienstzeit ab. Die übrigen Forderungen hätten Preußen nicht zu einer parlamentarischen Monarchie gemacht, sondern die konstitutionellen Elemente der Verfassung betont. Für Wilhelm I. aber war eine Mitsprache der Volksvertreter in Militärangelegenheiten undenkbar. Dies führte zu einem Konfrontationskurs, der bis 1866 andauern sollte und die politische Kultur in Preußen nachhaltig prägen sollte.

Wilhelm löste am 11. März 1862 den Landtag auf und entließ drei Tage später die liberalen Minister seines Kabinetts. Doch die Neuwahlen führten zu einem Sieg der linksliberalen Opposition. Am 23. September 1862 lehnte die Kammermehrheit die Militärausgaben im Haushalt ab. König Wilhelm I. spielte mit dem Gedanken, auf den Thron zu verzichten. Die Militärs dachten an einen Staatsstreich. Am 30. September 1862 ernannte der König den preußischen Gesandten in Paris, Otto von Bismarck, zum Ministerpräsidenten. Der neue leitende Minister versprach, die Militärreform ohne die Zustimmung des Landtags durchzusetzen.

Friedrich war entsetzt über die Ernennung Bismarcks. Er hoffte auf eine Einigung mit der Volksvertretung. Der Kronprinz unterhielt Kontakte zu gemäßigten Liberalen. Als sein Vater 1862 liberale Minister aus dem Kabinett entließ, besuchte er danach die Politiker, die ihr Amt zur Verfügung stellen mussten. Friedrich wurde in dieser Haltung von seiner Frau unterstützt, die mit der Politik des Königs ebenfalls nicht einverstanden war. König Wilhelm, der schon die liberalen Ansichten seiner Frau und ihre relativ eigenständige Rolle missbilligte, war über den Einfluss seiner Schwiegertochter empört. Schließlich wies er seinen Sohn an, politische Themen nicht mehr mit seiner Frau zu besprechen.

1863 erreichte der Vater-Sohn-Konflikt seinen Höhepunkt. Wilhelm I. hatte per Verordnung die Pressefreiheit eingeschränkt. Friedrich distanzierte sich im Juni 1863 in einer Rede in Danzig von diesen Maßnahmen; er hätte davon nichts gewusst. Der König war wütend. Einige Minister schlugen vor, den Kronprinzen vor ein Kriegsgericht stellen. Bismarck jedoch wollte aus pragmatischen Gründen Friedrich nicht zum Märtyrer machen. Außerdem hätte er – so Frank-Lorenz Müller – erkannt, dass der Thronfolger gar nicht das Haupt einer entschieden liberalen Opposition sein wollte.

Nicht selten ist Friedrich der Vorwurf gemacht worden, er hätte es im Verfassungskonflikt an klaren politischen Standpunkten fehlen lassen. Für einen preußischen Kronprinzen war er jedoch schon recht weit gegangen. Friedrich hatte nicht die Absicht, Anführer der Opposition sein. Der Kronprinz bewegte sich auf der Linie des gemäßigten Flügels der Fortschrittspartei, die mit der Regierung verhandeln wollte. Sein Verhalten entsprach dem eines konstitutionellen Fürsten. Er war zu einem Kompromiss bereit und hätte die zweijährige Dienstzeit akzeptiert. Ein Parteigänger der Fortschrittspartei war er nicht. Sein gemäßigter Liberalismus setzte auf Verständigung, während die Fortschrittspartei das Budgetrecht des Parlaments durchsetzen wollte. Der König und Bismarck hatten den Konflikt um die Heeresvermehrung ebenfalls zu einer Machtfrage erhoben, die schließlich 1866 mit einem Kompromiss endete. Bismarck legte eine Indemnitätsvorlage vor: Die Abgeordneten billigten nachträglich die Ausgaben für die Heeresreform seit 1862 und die Regierung erkannte im Prinzip das Budgetrecht an.

Bismarck hatte seine Chance genutzt: Zwei gewonnene Kriege gegen Dänemark und Österreich, die Auflösung des Deutschen Bundes und die Gründung des Norddeutschen Bundes machten Berlin zur Vormacht in Deutschland. Im liberalen Bürgertum, vor allem in den 1866 annektierten Provinzen, sahen viele Liberale schon in der Einheit Deutschlands ein erstrebenswertes Ziel, und wenn Preußen diese ‚historische Aufgabe‘ erfüllen könne, dann hatte eine Opposition um jeden Preis keinen Sinn. Die Liberalen spalteten sich; neben der Fortschrittspartei bildete sich 1867 die Nationalliberale Partei heraus. Die programmatischen Unterschiede waren noch nicht einmal so groß; auch die Nationalliberalen wollten einen freiheitlich-konstitutionellen Staat. Aber sie glaubten, dieses Ziel sei in Zusammenarbeit mit Bismarck besser zu erreichen.

Friedrich trat in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre kaum noch mit politischen Äußerungen hervor. Seine militärischen Erfolge verbesserten zeitweise das Verhältnis zu seinem Vater. Doch das Misstrauen des Monarchen gegenüber seinem Sohn blieb. Politische Ämter erhielt der Kronprinz nicht. Am Ende der siebziger Jahre sollte er doch noch einmal zum politischen Hoffnungsträger werden.

 

Im Kaiserreich: Ein Kronprinz im Wartestand

Bismarck hatte zwischen 1871 und 1877 im Reichstag mit einer starken nationalliberalen Fraktion zusammenarbeitenmüssen. Bei den Wahlen 1871, 1874 und 1877 konnten sich die Nationalliberalen als stärkste Kraft behaupten und erreichten zwischen 30 und 27 Prozent der Stimmen. Die Linksliberalen vereinigten zwischen 9,3 und 8,5 Prozent der Stimmen auf sich.

1878 stellten erstmals die Konservativen die stärkste Fraktion. Das katholische Zentrum lag mit den Nationalliberalen gleichauf. Der Reichskanzler nutzte diese Entwicklung. Zwar befand sich der ‚Kulturkampf‘, die Auseinandersetzung zwischen Staat und katholischer Kirche über die Rolle des Klerus noch auf dem Höhepunkt, aber Bismarck sah schon neue Möglichkeiten, um die Zusammenarbeit mit den Liberalen im Reichstag zu beenden. 1878 wurden zwei Attentate auf den Kaiser verübt, und der Reichskanzler brachte geschickt die Sozialdemokratie damit in Verbindung. Er stilisierte sie zu neuen ‚Reichsfeinden‘ hoch und wollte mit Ausnahmegesetzen gegen die junge Partei gleichzeitig die Nationalliberalen spalten. Würden diese ihren freiheitlichen Prinzipien folgen, so müssten sie gegen die Vorlage mit ihren zum Teil illiberalen Bestimmungen votieren. Bismarck wollte die SPD nicht verbieten, aber die sozialistische Propaganda mit den Mitteln des Polizeistaates bekämpfen. Die Liberalen traf er damit an einem wunden Punkt: Sie sahen mit Sorge, wie sich das Industrieproletariat immer mehr den Sozialdemokraten zuwandte. Die Zeiten, in denen Arbeitervereine und Liberale noch Bundesgenossen waren, schienen vorbei.

Hinzu kamen grundlegende Meinungsverschiedenheiten in der Wirtschaftspolitik. Bismarck wollte seit 1876/77 eine Steuerreform durchsetzen, deren Kernstück Einfuhrzölle und indirekte Steuern bildeten. Nach der Verfassung von 1871 standen indirekte Steuern dem Reich zu, das seinen Haushalt ansonsten durch Beiträge finanzierte, die es von den Ländern erhielt.
Das Sozialistengesetz und die Wende in der Wirtschafts- und Finanzpolitik waren nur mit den Konservativen und dem rechten Flügel der Nationalliberalen möglich. Ein Bündnis zwischen Rechtsliberalen und Konservativen erschien Bismarck als die ideale Unterstützung seiner Politik.

Am 02. Juni 1878 wurde der Kaiser beim zweiten Attentat, das in diesem Jahr auf ihn verübt wurde, schwer verletzt. Der Kronprinz übernahm vorübergehend die Regentschaft. Friedrich erkannte die Brisanz des Sozialistengesetzes und die Gefahren für die Liberalen. Im Gegensatz zu Bismarck wollte er bei der Verabschiedung der Vorlage mit dem Reichstag zusammenarbeiten. Für den Historiker Michael Stürmer zeigt dieser Vorgang, dass Friedrich schon eine andere Politik wollte als Bismarck: „Sein Gegenvorschlag: alle notwendigen Gesetze mit den Führern der Reichstagsmehrheit zu vereinbaren. Es zeigte sich hier eine fundamentale Differenz des politischen Stils, noch mehr aber die andere Definition der politischen Ziele. Was der Kronprinz wollte, war das Bündnis mit den Liberalen. Was Bismarck wollte, die Zerstörung des Liberalismus und seine Zähmung durch Interessenpolitik.“ Der Reichskanzler setzte sich im Kronrat durch.

Der Kronprinz stand dem linken Flügel der Nationalliberalen nahe. Er befürwortete die Weiterentwicklung der Reichsverfassung – beispielsweise durch die Einführung der Ministeranklage – lehnte aber eine parlamentarische Monarchie ab. Die sozialdemokratische Arbeiterbewegung betrachtete er als Gefahr für Staat und Gesellschaft. Das Sozialistengesetz hielt er grundsätzlich für sinnvoll. Wie die meisten Liberalen hielt er nichts von der staatlichen Sozialpolitik Bismarcks und setzte auf die Förderung genossenschaftlicher Selbsthilfe.

Der Kronprinz befürwortete entschieden den Freihandel. Typisch für seinen gemäßigten Linksliberalismus war auch eine kritische Haltung gegenüber dem allgemeinen Männerwahlrecht, das Bismarck als Waffe gegen die Liberalen eingeführt hatte. Allerdings war er nicht bereit, das Militär unter parlamentarische Kontrolle stellen zu lassen. In diesem Punkt stimmte er mit seinem Vater und dem Reichskanzler überein. Der Kronprinz wich in einigen Punkten vom Konservatismus des Kaisers ab, aber hätte er seine Politik durchsetzen können? Die Verfassung gewährte ihm einen nicht unerheblichen Spielraum. Wichtig jedoch war vor allem eine starke liberale Partei, auf die er sich hätte stützen können.

Am Ende der siebziger Jahre traten die Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Nationalliberalen deutlich hervor. Bismarcks Kurswechsel in der Wirtschafts- und Finanzpolitik wurde innerhalb der Nationalliberalen Partei kontrovers diskutiert. Dass der Kanzler für diese Politik eine Mehrheit aus Konservativen und dem katholischen Zentrum gefunden hatte, förderte auf dem rechten Flügel der Liberalen die Annäherung an die Konservativen. Der Historiker Heinrich von Treitschke, lange Jahre Mitglied der nationalliberalen Fraktion im Reichstag, veröffentlichte 1879 in den Preußischen Jahrbüchern einen Aufsatz, der deutlich macht, wie Mitglieder des rechten Flügels dachten. „Die Nation ist des Gezänks ihrer Parlamente bis zum Ekel überdrüssig; selbst die Gegner der neuen Wirtschaftspolitik scheinen in ihrer großen Mehrheit entschlossen, den Erfolg der Reformen gelassen abzuwarten und nach den Tatsachen zu urteilen.“ Treitschke gehörte zu jenen Liberalen, die den Platz ihrer Partei an der Seite der Konservativen sahen. Die Vorstellung einer starken liberalen Partei als Kraft der Mitte, die einen Kaiser Friedrich parlamentarisch unterstützen könnte, war in seinen Augen abwegig: „Die Verehrer der bekannten ‚großen liberalen Partei‘ sind bis auf wenige verschwunden, obgleich sie die Wahlbewegung fast ausschließlich leiteten …“. Doch der Historiker unterschätzte den linken Flügel, der nicht bereit war, sich einfach in die Defensive drängen zu lassen. Am 30. August 1880 traten prominente Mitglieder aus der nationalliberalen Reichstagsfraktion aus. Diese ‚Sezessionisten‘ veröffentlichten am 30. August 1880 eine Erklärung, in der sie die Entwicklung der Nationalliberalen kritisierten. Sie lehnten die Schutzzollpolitik ab und hielten am Ziel eines „wahrhaft konstitutionellen Systems“ fest. Das Manifest beschwor noch einmal die Ideale der Nationalliberalen Partei aus ihren Gründungszeiten. Unter einem „wahrhaft konstitutionellen System“ verstanden sie keine parlamentarische Monarchie, sondern eine konstitutionelle Monarchie, in der das Parlament ernst genommen wird und sich nicht auf eine Interessenvertretung reduzieren lässt.

Der Kronprinz unterhielt Kontakte zu den ‚Sezessionisten‘. Schon 1879 hatten ihn führende Mitglieder über ihre Pläne informiert. Auch in der Öffentlichkeit wurde diese Gruppe, die sich als Liberale Vereinigung konstituierte, ‚Kronprinzenpartei‘ genannt. Friedrich beurteilte die Aussichten einer neuen liberalen Partei skeptisch. Erst als die ‚Sezessionisten‘ und die Fortschrittspartei bei den Reichstagswahlen 1881 Stimmengewinne erzielt hatten, beurteilte er ihre Chancen positiver. Die Liberalen, die ihn umwarben, nahmen Rücksicht auf seine Ablehnung eines Militäretats, der jährlich neu zu verabschieden ist, und betonten dagegen ihre wirtschaftspolitischen Ziele. Sie lehnten – wie der Kronprinz – entschieden die staatliche Sozialpolitik des Reichskanzlers ab und forderten eine gesetzliche Regelung des Verhältnisses von Staat und Kirche.

Die Versuche, alle Strömungen des Liberalismus in einer Partei zu vereinen, scheiterten. Anfang März 1884 schlossen sich die ‚Sezessionisten‘ mit der Fortschrittspartei zur Deutsch-Freisinnigen Partei zusammen. Die Freisinnigen formulierten ein linksliberales Programm, das in der Tradition des Manifests der Sezessionisten stand. Gefordert wurde die „Entwicklung eines wahrhaft konstitutionellen Verfassungslebens in gesichertem Zusammenwirken zwischen Regierung und Volksvertretung und gesetzliche Organisation eines verantwortlichen Reichsministeriums.“ Die Partei lehnte den „Staatssozialismus“ (so nannten sie die staatliche Sozialpolitik) ausdrücklich ab und kritisierte auch Schutzzölle. Die „Wehrkraft des Volkes“ sollte erhalten werden; allerdings wollten die Freisinnigen die Dienstzeit verkürzen und die „Friedenspräsenzstärke“ in jeder Legislaturperiode überprüfen. Bei den Nationalliberalen setzte sich endgültig der rechte Flügel durch. In ihrem ‚Heidelberger Manifest‘, das wenige Tage später, am 23. März 1884 veröffentlicht wurde, stellten die Unterzeichner klar, dass sie die bisherige Schutzzollpolitik respektierten und sozialpolitische Vorlagen der Reichsregierung nicht grundsätzlich ablehnen würden.

Die Deutsch-Freisinnige Partei musste bald erkennen, dass der Kronprinz ihr gegenüber keinen eindeutigen Standpunkt einnahm. Der Historiker Frank Lorenz Müller vertritt die These, dass das Verhalten Friedrichs „ein wenig an Bigamie“ erinnerte: „Einerseits traf er sich häufig mit führenden Linksliberalen, deren Ziele er gut verstand. Andererseits hielt er den Kontakt zu Bismarck aufrecht und ließ es zu, dass der Kanzler ihn für seine Zwecke einspannte. Friedrich Wilhelms Beziehung zu den Vorkämpfern der Kronprinzenpartei war überdies wahrscheinlich nicht allein ungetrübter politischer Übereinstimmung geschuldet, sondern Victorias entschieden linksliberale Überzeugungen und kronprinzliche Eitelkeit dürften ebenfalls eine wichtige Rolle gespielt haben.“

Bismarck tat schon Jahren alles, um den Einfluss des Kronprinzen zu begrenzen. Wer im Rufe stand, mit den politischen Ansichten Friedrichs zu sympathisieren, konnte nicht auf ein hohes Amt oder eine Karriere hoffen. Wilhelm I. legte das Misstrauen gegen seinen Sohn nie ab. So blieben dem Kronprinzen nur Gesten, wie etwa seine öffentliche Stellungnahme gegen den in Deutschland wachsenden Antisemitismus oder ein demonstratives Lob für die Berliner Stadtverwaltung, in der liberale Politiker Schlüsselstellungen innehatten.

 

Der 99-Tage-Kaiser – ein liberaler Hoffnungsträger?

1887 erkrankte der Thronfolger an einem Kehlkopfleiden. Im November 1887 begab er sich in das italienische San Remo. Dort erreichte ihn am 09. März 1888 die Nachricht vom Tode seines Vaters. Er kehrte nach Berlin zurück. Obwohl er nicht mehr sprechen konnte, nahm er täglich seine Amtsgeschäfte wahr, soweit sein körperlicher Zustand dies zuließ. Wilhelm Wehrenpfennig, ein hoher Regierungsbeamter, der von 1866 bis 1879 für die Nationalliberalen dem preußischen Abgeordnetenhaus angehört hatte, veröffentlichte Ende März 1888 in den Preußischen Jahrbüchern einen Aufsatz über den Monarchen und dessen erste Regierungshandlungen, vor allem der Proklamation „An mein Volk“: „Kaiser Friedrich ist ein anderer Politiker, als der Kronprinz von 1862 war, aber ein Mann der Reaktion, vollends der gedankenlosen, wie sie in gewissen Köpfen spukt, ist er nicht geworden.“ Der ehemalige Parlamentarier brachte seine Befriedigung darüber zum Ausdruck, dass der Kaiser keine parlamentarische Regierungsform anstrebte und Fürst Bismarck im Amt beließ.

Die liberale Presse hingegen schöpfte Hoffnung und setzte auf einen Wandel. Frank Lorenz Müller beurteilt die Proklamation aus der Warte des Historikers als „wohlklingende, aber inhaltlich blasse Bekenntnisse zu Frieden, Toleranz, Frömmigkeit und einer verfassungsmäßigen Regierung“. Das einzige Ereignis, das die Liberalen während der 99 Tage als Erfolg verbuchen konnten, war die Entlassung des konservativen preußischen Innenministers Robert von Putkamer am 08. Juni 1888. Allerdings spielte auch Bismarck in dieser Angelegenheit eine undurchsichtige Rolle; möglicherweise hatte er ein Interesse am Sturz des reaktionären Politikers, der vom preußischen Landtag (eine Bastion der Konservativen) wegen Wahlmanipulation gerügt worden war. Am 15. Juni 1888 starb der Kaiser in Berlin.

Friedrich war ein gemäßigter Linksliberaler – keine Frage. Aber er war kein Linksliberaler, der an die Umwandlung des Kaiserreiches in eine parlamentarische Monarchie dachte. Der Hohenzoller teilte die Ängste der deutschen Liberalen vor einer Demokratisierung des politischen Lebens. Schon das allgemeine Männerwahlrecht ging manchen Liberalen zu weit, und auf kommunaler Ebene verteidigten Linksliberale undemokratische Zensuswahlrechte. Innerhalb der Arbeiterschaft fanden die liberalen Parteien kaum noch Anhänger.

Bedeutet dies, dass Friedrich – hätte er länger gelebt und wäre gesünder gewesen – nichts hätte bewirken könne? In meinen Augen wäre sein Kaisertum dennoch ein Fortschritt gewesen, vor allem in der Außenpolitik. Friedrich hätte wohl kaum jene Fehler gemacht, die seinem Sohn unterliefen. Eine Konstante in seinem politischen Denken waren gute Beziehungen zu England. Das Empire durch den Bau einer Hochseeflotte herauszufordern, wäre ihm wohl kaum in den Sinn gekommen, auch wenn gerade das liberale Bürgertum sich in den neunziger Jahren zu Fürsprechern der Marine machen sollte. Außerdem war Friedrich – bei allem Bewusstsein für seinen Rang als Kaiser – kein Mann der lauten Worte.
In der Innenpolitik hätte sein moderater Liberalismus möglicherweise jenes Lagerdenken aufgelockert, dass Bismarck zu einem Grundmuster seiner Politik gemacht hatte. Friedrich zweifelte in den achtziger Jahren am Sinn des Sozialistengesetzes. Als konstitutioneller Fürst hätte er die staatliche Sozialpolitik mitgetragen. Vielleicht wäre die deutsche Innenpolitik in ruhigere Bahnen gekommen, weil nun ein Kaiser auf dem Thron saß, der das Parlament ernst nahm – für seinen Sohn war es eine „Schwatzbude“.

Aber das sind Mutmaßungen. Friedrich war ein liberaler Hoffnungsträger – ob er ein liberaler Monarch geworden wäre, der das Kaiserreich geprägt hätte, muss offenbleiben.

Literatur: Ich empfehle das Buch von Frank Lorenz Müller, Der 99-Tage-Kaiser. Friedrich III. von Preußen. Prinz, Monarch, Mythos, München 2013

 

 

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