Der Urigallu, der oberste Scheschgallu (Zeremonienmeister) des Tempels, tritt vor den König, der vor der Statue des Marduk steht. Der ganze Raum trieft von Blut. Unten am Fluss haben soeben der Maschmasch, der Be-schwörungspriester, und der Nasch-patri, der „Schwertträger“, der den Schafbock geköpft hatte, den Körper und den abgetrennten Kopf des Schafes unter dem Beifall der auf die Ankunft von Marduks Sohn Nabu wartenden Menge im Wasser versenkt. Durch das Reiben des kopflosen Körper an der Tempelwand hat das Opfertier das Böse in diesem Raum in sich aufgenommen und stattdessen sein Blut hier hinterlassen. Der Urigallu ist erschöpft, aber dennoch hellwach. Zuviel hängt von den folgenden Zeremonien ab, als dass er sich jetzt eine Schwäche erlauben könnte. Schon seit drei Tagen steht er vor Sonnenaufgang auf, unterzieht sich rituellen Waschungen und preist in langen Gebeten Marduk als den siegreichen Herrn der Herren. Dem Volk wurde verkündet, dass der Gott „verschwunden“ sei, die ganzen Tage her wurden Zeremonien, Opfer, szeni-schen Darstellungen der Erschaffung der Welt durch Marduk vor seiner Statue vollzogen, um ihm die Rückkehr zu ermöglichen. Einzig während der Reinigungszeremonie war der Sesgallu nicht im Tempel gewesen; zu groß war das Risiko einer zufälligen rituellen Verunreinigung. Nun entkleidet der Urigallu den König seiner Insignien und legt Zepter, Ring und Diadem vor Marduk nieder. Demütig kniet sich der mächtige Nebukadnezar vor den Gott und beichtet. Er beteuert, nichts getan zu haben, was den Bestand des Reiches, der Stadt und der ganzen Welt gefährden könnte. Der Urigallu weiß, dass das stimmt: Der König hat gerecht geherrscht, Tempel und Mauern der Stadt pflegen lassen und nach den Geboten des Gottes gelebt. Er tritt zwischen den König und die Statue, schlägt Nebukadnezar auf die Wange und zieht ihn an den Ohren, um ihn zu ermahnen, auch in Zukunft seinen Pflichten gewissenhaft nachzukommen. Der König erhebt sich, nimmt seine Insignien wieder an sich und erwartet die zweite Ohrfeige. Sie kommt prompt, erheb-lich heftiger und schmerzhafter als die Erste. Sie ist so schmerzhaft, dass sich der König gar nicht bemühen muss, um Tränen aus seinen Augen zu pressen, sie kommen von ganz alleine. Der Urigallu ist glücklich. Das Wasser auf den königlichen Wangen verheißt gutes Wetter und reiche Überschwemmung im nächsten Jahr; of-fensichtlich ist Marduk zufrieden. Am Abend treffen der Urigallu und Nebukadnezar wieder aufeinander. Im Tempelhof wird in einem Graben, in den ein Bündel aus 40 Schilfrohren und einem Palmzweig geworfen worden ist, dem Marduk, dessen Name ja „junger Sonnenstier“ bedeutet, ein weißer Stier geopfert. Er ist Sinnbild für das „strahlende Licht Marduks, das die Dunkelheit erhellt“, wie es im Zauberspruch zu dieser Zeremonie heißt. Am nächsten Tag treffen die prächtig geschmückten Götterstatuen aus den anderen Städten ein, allen voran Na-bu, für den eigens schon Tage zuvor in einer Kapelle des Tempels ein goldener Baldachin errichtet worden ist. Der Schwertträger köpfte zwei, von den Mariummani, den Tempelhandwerkern, gefertigte Holzfiguren. Die mit Gold und Edelsteinen geschmückten Figuren, die eine mit einer Schlange in der linken, die andere mit einem Skorpion in der rechten Hand, stellen eine böse Kraft dar, die mit der Enthauptung der Figuren und der anschlie-ßenden Verbrennung entmachtet werden, so dass Nabu ungehindert einziehen kann. Unter den tausenden Zuschauern, die die Prozessionsstraße Babylons säumen, um die lange Prozession der prächtigen Statuen auf ihren Wagen und Barken zu beobachten, sind auch einige Juden. Trotzdem sie jetzt schon einige Jahre in Babylon anwesend sind und viele auch gar nicht mehr in ihre alte Heimat zurückkehren möchten, können sie sich doch nicht an die heiligen Gebräuche Babylons gewöhnen. Verständnislos betrachten sie die hei-ligen Figuren. Man hört, wie sie sich unterhalten. Sprachfetzen wie „Holz aus dem Wald“, „Werk von Men-schenhand“, ..wie es wackelt. Sie haben wohl nicht genug Nägel gehabt um es festzumachen“ ärgern die Umste-henden. Ein bisschen mehr Dankbarkeit könnte man doch wohl erwarten von diesen Halbwilden! Schließlich ha-ben sie wirkliche Kultur erst hier kennen gelernt. Man weiß noch genau, mit wie großen Augen die jüdischen Deportierten die prachtvollen Bauten Babylons bestaunt haben, als sie eintrafen. Erst am nächsten Tag kommt der Höhepunkt des Festes: Nachdem ein Baru-Priester die Omina für das nächste Jahr gedeutet hat, ergreift der König Marduks Hand und wird so erneut inthronisiert. Danach zieht der König mit Marduk auf der Prozessionsstraße, der „Aibur-schabu“ („kein Feind soll hier laut sein“), zum Akitu-Haus aus-serhalb der Stadt, wo Marduk die Urungeheuer Tiamats, Lahmu und Lahamu, erneut besiegen muss, so wie er es am Anbeginn der Welt schon einmal getan hat. Während König und Gott draußen für das Heil der Welt kämp-fen, regiert in der Stadt ein Ersatzkönig. Viele Babylonier stehen auf dem hohen Damm, auf dem die Aibur-schabu verläuft und schauen begeistert zu, wie Nebukadnezar und Marduk vorbeigetragen werden. Dann aber beeilen sie sich, wieder in die Stadt zu kom-men, denn bis zur Wiederkehr Marduks in fünf Tagen wird dort gefeiert, dass es eine Freude ist: Die verkehrte Welt hat Einzug gehalten. Alle Klassenschranken sind gefallen, wilde Ausgelassenheit herrscht. Mancher bemit-leidet insgeheim den Ersatzkönig, denn auch wenn der jetzt die unumschränkte Macht innehat, dieser Sklave, von den Priestern ausgewählt, muss sterben, wenn Nebukadnezar und Marduk wieder zurückgekehrt sind. Schließlich muss ein Königopfer dargebracht werden, denn ganz ohne Fehl und Tadel ist Nebukadnezar dann doch nicht gewesen während des letzten Jahres! Und wirklich, als am elften Tag des Akitu-Festes Nebukadnezar und Marduk Hand in Hand wieder zurückkeh-ren, singen zwar Volk und Priester Hymnen, aber der Urigallu erinnert den König auch öffentlich daran, dass niemand außer Marduk ohne Sünde ist, und er dafür büßen wird müssen. Damit hat für den Ersatzkönig das letz-te Stündlein geschlagen… Voller Ehrfurcht beobachtet die Menge dann, wie Nebukadnezar und die Entu, die Hohepriesterin des Tempels, die den Rest des Jahres im Gagu (Kloster) lebt, den langen Weg zum Hochzeitshaus auf der Spitze des Eteme-nanki hinaufsteigen. Dort oben erwartet die Entu alleine, in Gebete versunken, dass Marduk herunterkommt und mit ihr in Stellvertretung seiner Gattin Sarpanitum, der „Glänzenden“, die Heilige Hochzeit vollzieht. Nebukad-nezar steigt derweil wieder von der Zikkurat herunter. Als die feiernde Bevölkerung schließlich wieder nach Hause geht, begegnen ihr auch die Maschmasch, die aus der Steppe wieder zurückkehren dürfen in die Stadt, aus der sie für die Zeit ihrer Verunreinigung durch das Rei-nigungsritual verbannt waren. 

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