Die weitere Verwahrlosung droht
Nicht immer funktioniert der Sozialstaat in unserem Land, es ist gar nicht so schwer, durch seine Maschen hindurch zu fallen. Eine schwerfällige Bürokratie baut gelegentlich kaum zu überwindende Grenzen auf. Dann hilft manchmal nur der Rückgriff auf Methoden, die sich hart am Rande der Legalität befinden, um dem Glück auf die Sprünge zu helfen und den endgültigen Abstieg zu verhindern. Die von mir geschilderten Ereignisse liegen zwar schon länger zurück, genauer gesagt im Jahre 1970, und inzwischen hat sich vieles getan, dafür wird es aber mit Sicherheit eine Menge neuer Probleme geben.
Mein Klassenlehrer in der Hamburger Realschule glaubte 1964 zu wissen: Karlheinz hat eine kriminelle Veranlagung. So stand es jedenfalls in meinem Schulzeugnis. Und als ich 1966 schließlich mit Ach und Krach den Realschulabschluss schaffte (das Abitur holte ich viel später an einer Abendschule nach), bekam ich noch von der Schulbehörde einen Abschiedsbrief mit, in dem über mich keine schmeichelhaften Dinge zu lesen waren. Zum Schluss stand dort die Warnung: Die weitere Verwahrlosung droht! Beinahe hätte sich diese Prophezeiung erfüllt. Grund für diese düstere Sozialprognose waren eine Reihe unerfreulicher Auseinandersetzungen mit dem autoritären Lehrkörper gewesen.
Am 8.Oktober 1970 wurde ich aus dem Gefängnis entlassen. Dabei hatte ich eigentlich keine wirkliche Straftat begangen. Wie es dazu gekommen war, hatte ich schon in einem anderen Thread berichtet. https://geschichte-wissen.dehttps://geschichte-wissen.de/forum/viewtopic.php?f=76&t=3785&hilit=soldaten
Schuld war meine damalige Kriegsdienstverweigerung gewesen. Seinerzeit hatte die Regierung alles versucht, um solche Verweigerungen zu verhindern. Der Antragsteller musste Gewissensprüfungen über sich ergehen lassen und letztendlich konnte er eigentlich nur vom Gericht nach einem längeren Verfahren anerkannt werden. Das erreichte ich am Ende auch. Da ich aber bei der Bundeswehr die Befehle verweigert hatte, wurde ich vom Gericht zu 7 Monaten Gefängnis verurteilt und verbrachte diese in einer norddeutschen Justizvollzugsanstalt. Die dortige Leitung isolierte mich von Anfang an von den anderen Häftlingen, vielleicht weil ich ja eigentlich kein richtiger Verbrecher war. Der Nachteil: Ich verbrachte 7 Monate in einem abgelegenen Gefängnistrakt, in dem sich außer mir keiner aufhielt, blieb 23 Stunden am Tag in einer 8 qm großen Einzelzelle eingeschlossen. Mein Hofgang wurde zeitlich so gelegt, dasssich außer mir dann dort keiner aufhielt. Kein Radio, kein Fernsehen, keine Zeitung, nur 6 Bücher pro Woche und die Bibel, keine Arbeit. Die einzigen Menschen, mit denen ich überhaupt in Kontakt kam, waren die Schließer, die mehrmals am Tag für einen kurzen Moment auftauchten und Anweisungen erteilten. Die Stille in dem Trakt, die hässlicheblaue Anstaltskleidung, die Wegnahme aller persönlichen Gegenstände, die Häftlingsnummer, mit der ich angeredet wurde, die täglichen Leibesvisitationen, die häufigen Handfesselungen nach dem Verlassen der Zelle, die lange, erzwungene Einsamkeit ohne die Möglichkeit einer Kommunikation mit anderen Menschen, all das hatte mich psychisch auf den Nullpunkt gebracht.
Aber am 8.Oktober war dies endlich zu Ende. Ich bekam meine normale Kleidung und die persönlichen Gegenstände zurück. Merkwürdigerweise erhielt ich aber nicht meinen Ausweis, sondern nur einen Haftentlassungsschein. Ich sollte mich in Hamburg neu anmelden, dann würde ich vom dortigen Einwohnermeldeamt einen neuen Personalausweis ausgestellt bekommen. Da sie mir im Gefängnis keine Arbeit zugewiesen hatten, erhielt ich auch keinen Arbeitslohn, sondern nur eine winzige Summe Haftentlassungsgeld. Die würde kaum für die Fahrkarte nach Hamburg reichen. Die Beamten wünschten mir alles Gute, öffneten die Tür und plötzlich stand ich auf der Straße. Das Tor wurde hinter mir wieder geschlossen und jetzt stand ich allein und ziemlich verloren auf dem Bürgersteig. Ich besaß einen Rucksack und einen Schlafsack. Den hatte mir die Bundeswehr gelassen.
„‚Einfach immer geradeaus gehen, dann kommen sie nach einiger Zeit in den Ort und zum Bahnhof“, hatten mir die Schließer erklärt. Passanten blickten mich misstrauisch an. Sie hatten gesehen, woher ich gekommen war. Also nichts wie los. Der Weg zum Bahnhof war wirklich nicht weit. Aber die vielen Menschen, die vielen Geräusche! Das machte mich alles krank. Nach den Monaten der Einsamkeit war ich dies nicht gewohnt, die vielen Eindrücke verwirrten mich. Ich kaufte eine Fahrkarte, stieg in den nächsten Zug und nach über einer Stunde sah ich endlich die Kirchtürme meiner Heimatstadt Hamburg. Aber wie weiter? Ich hatte keine Adresse, meine Eltern waren schon lange tot, zuletzt hatte ich in einem Lehrlingsheim gewohnt, aber dort konnte ich nicht wieder hin. Ich besaß nur die Telefonnummer und die Anschrift eines Freundes, aber der meldete sich nicht. Stundenlang irrte ich ziellos durch die Stadt, ging zum Bahnhof zurück. Der Hauptbahnhof machte damals einen reichlich schmuddeligen Eindruck und lud nicht zum Verweilen ein. Dafür gab es aber gleich daneben AKI, die Abkürzung für Aktualitätenkino. Die existierten damals auch in anderen deutschen Städten und sollten den Bahnreisenden die Wartezeit verkürzen. Hier wurde von morgens 9.00 Uhr bis 23.00 Uhr alle 50 Minuten lang immer das gleiche Programm gezeigt, eine Mischung aus Wochenschauen, Kulturfilmen und Zeichentrick- oder Slapstick Filmen. Man konnte kommen und gehen, wann man wollte und so lange bleiben, wie man Lust hatte. Der Eintrittspreis galt für alle Sitzplätze. Eigentlich eine schöne Erfindung, an die sich heute kaum noch jemand erinnert. Ich hielt mich dort so lange auf, bis sie mich um 23.00 Uhr herauswarfen. Mein Freund meldete sich noch immer nicht, es war zum Verzweifeln.
Ich suchte mir eine verlassene Stelle im Hauptbahnhof, rollte mich in den Schlafsack und nickte ein.
„He, du Penner, steh mal auf!“ Jemand stieß mir mit dem Fuß unsanft in die Seite. Zwei unfreundlich blickende Bahnbeamte standen vor mir. „Zeig mal deinen Ausweis, Bursche!“ So etwas hatte ich leider nicht. Also gab ich ihnen meinen Haftentlassungsschein. Sie warfen sich bezeichnende Blicke zu. ‚Ja, Jungs, ist nicht gerade eine Referenz, weiß ich selber‘. Sie brachten mich auf die Polizeistation. Die waren auch nicht besonders begeistert über meine Person, aber ich hatte keine strafbare Handlung begangen. Ich sollte nur in Zukunft den Bahnhof nicht mit einem Hotel verwechseln und erhielt für den Rest der Nacht dort Hausverbot.
Doch die Beamten langweilten sich und erklärten mir ausführlich die nächsten Schritte, die ich zu tun hätte: Sozialamt, Einwohnermeldeamt, Wohnungsamt, Arbeitsamt. Einer von ihnen machte sich sogar die Mühe und zeichnete auf einem Blatt Papier eine Skizze mit den Straßen und den Örtlichkeiten. Wirklich sehr zuvorkommend. Dann durfte ich gehen. Inzwischen war es bereits kurz nach Mitternacht und draußen hatte ein unangenehmer Nieselregen eingesetzt. Wo ich den Rest der Nacht verbringen sollte, konnten sie mir leider auch nicht sagen. Eigentlich gab es eine Bahnhofsmission für solche Fälle wie mich, doch die hatte man wegen Renovierungsarbeiten vorübergehend geschlossen. Schließlich bekam einer von den jungen Polizisten eine Idee:
„Es gibt hier ein Asyl für Obdachlose in der Nähe von St. Pauli.“ Das Ding kannte ich, Pik As hieß diese Bude, in der sich nur Volltrunkene aufhielten. Nein, Jungs, das ist nichts für mich. Er hatte eine weitere Idee: „Die Heilsarmee, auch auf St. Pauli. Die haben bestimmt noch geöffnet. Die können ihnen vielleicht weiter helfen.“
Das klang schon besser. Also ab durch den Regen, ein Fußmarsch von etwa einer Stunde. Auf der sündigen Meile, der Reeperbahn, war auch um diese Zeit noch Hochbetrieb. Ich fragte mich durch und erreichte schließlich das Hauptquartier der Soldaten Christi. Ich fand diese Leute immer ein wenig lächerlich in ihren schwarzen Uniformen, aber nun wurden sie zu meinen rettenden Engeln. Sie verstanden, dass ich nicht ins Pik As wollte und den Rest der Nacht konnte ich in einem Nebenraum bis zum Morgengrauen auf einem Stuhl dösen. Frühmorgens erhielt ich sogar noch ein Frühstück, Tee mit Brot und Marmelade. Wir beteten zusammen für die armen Sünder und sangen mehrere fromme Lieder. Einer der christlichen Soldaten blies unangenehm laut in eine Trompete.
Mit Hilfe der von der Polizei angefertigten Karte suchte ich nun die verschiedenen Ämter auf. Zuerst das Sozialamt. Die Frau hinter dem Schalter konnte ihre Abscheu mir gegenüber nicht verbergen, als ich ihr meinen Haftentlassungsschein zeigte.
In einem zickigen Ton erklärte sie mir:
„Da sie keinen festen Wohnsitz haben, besitzen sie keinen Anspruch auf Sozialhilfe“. Das war keine gute Nachricht, ich besaß fast kein Geld mehr. Was nun?
„Sie können nur ein Tagegeld bekommen in Höhe von 3,50 DM. Sie müssen jeden Morgen um 8.00 Uhr hier erscheinen und sich das Geld abholen.“ Nun, besser als gar nichts. Mein Name wurde in eine Liste eingetragen und ich erhielt die 3,50 DM.
Auf dem Einwohnermeldeamthatte ich auch kein Glück. Ohne festen Wohnsitz könnte ich keinen Ausweis bekommen. Einstweilen hätte ich doch das Haftentlassungspapier. Das sei eine Art Ersatzausweis, jedenfalls so ähnlich. Das ich mit dem Ding nur Ärger kriegen würde, wenn ich es irgendwo vorzeigen müsste, war den Leuten zwar auch klar, aber sie zuckten nur mit den Schultern.
Also auf zum Wohnungsamt.
„Tja“, meinte die ältere Dame, an die ich mich wenden musste. „Da können wir ihnen leider nicht helfen. Sie könnten einen Paragraph 5 Schein erhalten, dann haben sie Anspruch auf eine billige Sozialwohnung. Derzeit sind aber keine frei. Und sie können diesen Schein auch nur bekommen, wenn sie eine feste Anschrift haben.“
„Also, zuerst muss ich eine Wohnung haben, um eine Wohnung zu bekommen? Aber dann brauch ich doch gar keine mehr!“
„Nun, wir müssen sie doch irgendwie erreichen können, wenn mal eine frei wird. Wie sollen wir das aber jetzt anstellen?“
„Und andere Möglichkeiten?“
„Der freie Wohnungsmarkt. Dann müssen sie aber eine Kaution hinterlegen, festes Einkommen nachweisen und wahrscheinlich einen Makler bezahlen.“
„Das kann ich aber alles nicht.“
„Ja, wissen sie, für solche Fälle wie sie gibt es ein Obdachlosenasyl auf St. Pauli…..“
Geschenkt, geschenkt, das Pik As, ist mit bekannt. Es hatte einfach keinen Sinn, mit diesen Leuten zu reden.
Blieb noch das Arbeitsamt. Der ältere Herr zeigte durchaus Verständnis für mich, aber auch er wusste wenig Tröstliches zu berichten:
„Nun, sie haben einen Realschulabschluss und eine kaufmännische Lehre, aber dieser Gefängnisaufenthalt..“
„Ich habe ihnen doch gesagt, wie dies zu erklären ist.“
„Sicher, sicher, schon. Sie sind ihrer Meinung nach kein wirklicher Verbrecher, das ist mir auch klar, darüber kann man aber geteilter Ansicht sein, das sehen viele natürlich nicht so wie sie. Sie sind nun einmal vorbestraft und das ist keine gute Referenz. Gerade im kaufmännischen Bereich.“
„Und was soll ich jetzt ihrer Meinung nach tun?“
„Nun, ohne Wohnsitz wird das sowieso nichts werden und wir können sie dann auch nicht erreichen. Arbeit gibt es genug, aber in ihrem Falle wird es schwierig.“ Er überlegte und fuhr dann fort:
„Wir haben im Hafen eine Zweigstelle, dort vermitteln sie Tagesjobs. Schiffe sauber machen, Säcke schleppen, was gerade so anliegt. Morgens um 6.00 Uhr müssen sie dort hingehen, dann werden die anfallenden Arbeiten vergeben.“
Ich sah nicht gerade begeistert aus und das entging ihm nicht.
„Nun, vielleicht haben sie auch gar keine Lust zum Arbeiten. Dann können wir ohnehin nichts tun. Also überlegen sie sich das mit dem Hafen.“
Inzwischen war es Nachmittag geworden. Ich hatte Glück gehabt, alle vier Behörden überhaupt aufsuchen zu können. Die Öffnungszeiten waren meist nicht sehr lang und es gab immer viel Andrang und lange Warteschlangen. Mittlerweile hatte ich fürchterlichen Hunger bekommen. Wie weit kam man mit 3,50 DM am Tag? Bei der Bahnhofsmission hätte es Essen gegeben, aber die blieb geschlossen. Schließlich fand ich eine billige Stehkneipe und konnte dort eine Bockwurst mit Salat für 1,70 DM bekommen.
Wo sollte ich bloß die Nacht verbringen? Ich hatte zwischenzeitlich immer wieder versucht meinen Freund Peter zu erreichen, aber es nahm bei ihm niemand das Telefon ab.
Aber dann endlich, eine verschlafene Stimme meldete sich: „Ja, hallo, wer ist denn da?“
Hastig spulte ich meine Geschichte herunter, er war völlig überrascht, aber ich konnte zu ihm kommen. Die eine Nacht konnte ich bei ihm schlafen.
Peter wohnte direkt am Hafen in einer ziemlich verwahrlosten Bude. Zwei Zimmer und voll gestellt mit Gerümpel. Er sah aus wie ein Mädchen. Schulterlanges, glattes blondes Haar und leicht feminine Gesichtszüge. Aber erwar ein netter Bursche, ungefähr Mitte Zwanzig, doch er machte leider immer krumme Dinger. Angeblich war Peter jetzt als Kunstmaler tätig und verkaufte seine Bilder an Touristen im Hafen. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass er davon leben konnte und das war auch nicht der Fall. In Wirklichkeit verkaufte er Drogen, Haschisch und LSD. Das hatte er früher auch schon getan.
„Du kannst gerne eine Nacht oder auch zwei hier bleiben, aber du müsstest mir bei einer Sache helfen.“ Ich spitzte die Ohren. Hatte ich mir doch gedacht, dass jetzt der Haken kommt.
„Du willst doch nicht in Zukunft von 3,50 DM am Tag vom Sozialamt leben. Und die Leute vom Arbeitsamt hier im Hafen, das sind Sklavenhändler. Mit der wenigen Kohle, die die zahlen, kommst du nicht weit. Das dauert Monate, bis du genug Geld hast, um dir eine Wohnung zu leisten. Und lange kannst du bei mir nicht bleiben, das sieht der Vermieter nicht gerne. Du kannst aber ganz schnell eine Menge Knete machen, wenn du mir hilfst, ein wenig Stoff oder Trips zu vertickern.“
„Also, ich soll für dich mit Drogen dealen oder was? Du bist doch verrückt. Dann lande ich sofort wieder im Knast und das sogar zu recht.“
„Überleg es dir. Am Abend machst du locker an die 1.000,- DM. Natürlich musst du das meiste mir geben, ich habe ja meine Lieferanten zu bezahlen. Aber dreihundert bleiben mindestens für dich übrig.“
Ich begann zu überlegen. Seinerzeit besaß ich eine eigene Rechtsauffassung. Haschisch und LSD waren harmlos, ich hatte das Zeug früher selber oft konsumiert. Anders als bei Heroin oder anderen Drogen wurde man nicht physisch abhängig. Ich sah keinen Unterschied zum Alkohol. In dem Verkauf dieser kleinen Spaßmacher konnte ich kein Verbrechen erkennen, auch heute noch nicht. Warum also nicht? Für einige Tage war ich bereit, mitzumachen und sagte ja.
„Okay, wir vertickern das Zeug auf St.Pauli beim Grünspan. Dort gehst du alleine hin, ich sage den Leuten, dass du für mich arbeitest, damit du keinen Ärger kriegst. Ich komm dann kurz vorbei, übergebe dir eine Dose mit 100 Trips, yellowshunshine heißt das Zeug und du verkaufst die Dinger für 10,- DM das Stück. Astreine Ware, nicht gestreckt, schickt die Leute für mindestens 8 Stunden auf die Reise.“
Schon an diesem Abend sollte es losgehen. Vielleicht sollte ich den Leser kurz mit den Örtlichkeiten vertraut machen:
Vom Hafen aus ist es nicht mehr weit zu der der bekanntesten, sündigen Straße der Welt, der Reeperbahn. Wir gehen sie schnell herunter Richtung Altona, vorbei am Cafe Keese, in dem die Damen beim Tanzen die Wahl haben, einigen miesen Sexlokalen und Imbissläden, in denen man Bier und Bockwurst bestellen konnte, seit Mitte der sechziger Jahre auch erstmals Pommes Frites und die inzwischen ja äußerst beliebt gewordene Currywurst.
Am Ende der Reeperbahn biegt eine nicht minder berühmte Seitenstraße von ihr ab, die Große Freiheit. Damals hätten wir uns zunächst in die Diskothek Sahara begeben können, die gleich am Anfang lag, ein ziemlich übler Schuppen, in dem hauptsächlich Farbige verkehrten, von denen viele mit Kokain handelten. Wenn es zu einer der zahlreichen Razzien kam, warfen sie das in Stanniolpapier gewickelte Koks einfach auf den Boden, der daraufhin silbern schimmerte. Eigentlich ein hübscher Anblick. Peter gab mir auch den Tipp: Wenn die Bullen kommen, schmeiß das Zeug weg!
Vorbei ging es nun an diversen Stripteaselokalen, dem Tabu, dem Safari, Regina und wie sie alle hießen. Dieser Weg glich einem Spießrutenlaufen, denn vor jedem Eingang standen Anmacher, die mit einem Wortschwall und zum Teil äußerst aggressiv die Passanten in ihr Cabaret locken wollten.
Ließ man sich darauf ein, betrat man ein Lokal mit vielen kleinen Tischen und Stühlen sowie einer Theaterbühne, auf der dann die Show ablief.
Ein sogenanntes Herrengedeck kostete meistens 30,-DM, dafür gab es dann eine Flasche Piccolo. Unaufgefordert setzte sich in der Regel eine Animierdame mit an den Tisch, die nun versuchte, den Gast zu beträchtlichen Mehrausgaben zu veranlassen, ohne dass dafür eine Gegenleistung erbracht wurde, es sei denn, das alberne Geschwätz war einem mehrere hundert Mark wert.
Auf der Bühne lief allerdings eine Show ab, die es in der Welt nur selten so zu sehen gibt und für die sich eine Investition von 30, – DM schon lohnte.
Phantastisch aussehende Mädchen und Frauen entblätterten sich nicht nur äußerst gekonnt vor den staunenden Publikumsblicken, sondern bei der abschließenden Bodenakrobatik schoben sie sich riesige Kunstpenisse oder Kerzen in die Scheide und ritten auf einem Penis herum. War ein Begleiter dabei, trieben sie es beide auf der Bühne vor aller Augen oder das Mädchen bekam die Peitsche zu spüren, die auf ihren nackten Rücken und Hintern klatschte und dabei richtige Spuren hinterließ. Wer solche Darbietungen liebt, kam hier voll auf seine Kosten.
Heute sind die meisten Cabarets verschwunden. Dafür gibt es jetzt Lokale, in denen nackte Damen auf Tischen tanzen, was auch seinen Reiz haben kann, jedenfalls dann, wenn man nur 2 m von ihnen entfernt sitzt.
Beenden wir jetzt diesen Rundgang und landen nun endlich bei der Diskothek Grünspan, meiner vorläufigen neuen „Arbeitsstelle“ und späterem Lieblingslokal am Ende der bewussten Straße Große Freiheit. Übrigens, damit kein Missverständnis entsteht, die Freiheit hat nichts mit Sex zu tun. Vielmehr konnten sich in dieser Gegend in früheren Jahrhunderten religiös verfolgte Minderheiten ansiedeln, die woanders von fanatischen Rechtgläubigen verfolgt wurden. Hier ließ man sie in Ruhe, genossen also eine „Große Freiheit“.
Das Grünspan war ein ehemaliges Lichtspielhaus, wurde als Diskothek 1968 gegründet und hat sich bis in die Gegenwart erhalten. Hier gab es eine ehemalige Bühne, die noch eine Leinwand besaß, aber ansonsten als Tanzfläche umgebaut worden war. Die Musik war irrsinnig laut und erreichte knapp die Schmerzgrenze für das menschliche Trommelfeld. Sie spielten Psychodelic Rock oder Vorläufer des späteren Hard Rock, Musik von Gruppen wie Iron Butterfly, DeepPurple, Led Zeppelin, BirthControl, Rare Earth usw. Keine doofe Diskomusik oder aktuelle Songs aus den Hitparaden. Dazu setzte der Club als einer der ersten in Deutschland Lasertechnik ein und Disconebel, zeigte mehrere Filme gleichzeitig, auf der Leinwand und an den Seitenwänden, mit einem Projektor wurden psychodelische Bilder auf die Bühne projiziert, eine tolle Sache. Immer voll mit Leuten, die alle so aussahen wie die, vor denen uns unsere Eltern immer gewarnt hatten. Die Öffnungszeit begann um 8.00 Uhr abends und morgens um 6.00 Uhr wurde der Laden geschlossen. Man konnte hier also notfalls sich jede Nacht vergnügen. Die meisten Besucher besorgten sich am Eingang erst einmal Haschisch oder LSD und dröhnten sich dann damit zu. Dabei war es aber fast immer friedlich. Ich habe jedenfalls nie Gewalt erlebt und ich war dort jahrelang Stammgast. Die Atmosphäre versetzte einen in einen Rauschzustand, auch ohne Drogen.
Kurz vor 8.00 Uhr stellte ich mich am Eingang auf. Peter kam kurz vorbei und gab mir eine Dose mit 100 LSD-Trips. Das Geschäft lief eigentlich wie von selbst. Jeder Diskobesucher ahnte, dass ich etwas zu verkaufen hatte und fragte sofort: „ Hast du Shit oder Trips?“ Klar, hatte ich. „Trips kannst du kriegen, zehn Eier das Stück, beste Ware. Schickt dich für zehn Stunden ins Nirwana.“ Die Leute kauften wie verrückt. Um Mitternacht hatte ich fast alle verscherbelt. Tausend Mark verdient. Klasse. Ich machte es noch drei weitere Tage, dann reichte es mir, ich wollte nicht erwischt werden.
Aber nun besaß ich das Startkapital für den weiteren Aufbau meiner Existenz. Bei Peter konnte ich nicht mehr länger wohnen, doch ich fand eine neue Unterkunft. Nicht weit von ihm entfernt vermietete eine ältere Frau mehrere Zimmer. Natürlich wollte sie Papiere sehen, aber den Haftentlassungsschein konnte ich schlecht vorweisen. Ich sagte ihr, das ich bald einen Ausweis kriegen würde, der sei aber noch beim Amt in Arbeit. Selbstverständlich reagierte sie misstrauisch, doch ich zahlte sofort drei Monate im Voraus und das beruhigte sie augenblicklich. Ich bekam sogar eine Art Mietvertrag und rannte damit am nächsten Tag zum Einwohnermeldeamt. Die guten Leute waren überrascht über mein unverhofftes Wiederauftauchen, aber jetzt zickten sie nicht mehr herum. Schon wenige Tage später hatte ich endlich einen neuen Ausweis.
Jetzt brauchte ich nur noch eine vernünftige Arbeit, Rauschgiftdealer war kein Beruf für mich auf Dauer. Vor allem benötigte ich eine neue Lohnsteuerkarte. Im Gefängnis hatten sie mir zwar keine Arbeit gegeben, aber auf der Karte einen Vermerk hinterlassen, das ich sieben Monate bei ihnen eingesperrt gewesen war. Großartig. Das musste irgendwie verschwinden. Ich behauptete beim Finanzamt, das ich die Karteverloren hatte und beantragte eine neue. Es funktionierte.
„Jetzt können sie aber keinen Lohnsteuerjahresausgleich machen!“ belehrte mich die Sachbearbeiterin. Na so ein Pech aber auch!
Jetzt noch den Lebenslauf frisieren. Für die sieben Monate musste ich mir etwas anderes ausdenken. Da konnte mir Peter helfen. Er kannte jemanden, der in einem Ingenieurbüro arbeitete. Der klaute dort einige Geschäftspapiere und schrieb auf seiner Schreibmaschine für mich ein tolles Zeugnis. Angeblich hatte ich die letzten sieben Monate dort als Sachbearbeiter für die Kundenbetreuung gearbeitet und hervorragende Arbeit geleistet. Na also, geht doch.
Arbeit gab es 1970 glücklicherweise mehr als genug, die Firmen suchten händeringend Leute. Schon nach zwei Tagen fand ich einen tollen Job in einer Firma, die sich mit der Buchhaltung für Verbände und Vereine beschäftigte, mit einem gefälschten Zeugnis und einer Ersatzlohnsteuerkarte war dies kein Problem. Kurze Zeit später holte ich auf einem Abendgymnasium das Abitur nach und begann später mit einem Studium.
Die düstere Prognose: „Die weitere Verwahrlosung droht“ hatte sich nicht bestätigt. Allerdings, der Staat hat mir dabei nicht geholfen. Nur mit illegalen Methoden, Lug und Betrug wurde es möglich, sonst wäre aus mir wahrscheinlich ein Sozialfall geworden. Eigeninitiative ist gefordert, aber ein wenig anders, als es sich die Politiker so vorstellen.
Bild: By dannyone (photo taken by dannyone) [GFDL (http://www.gnu.org/copyleft/fdl.html), CC-BY-SA-3.0 (http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/) or GFDL (http://www.gnu.org/copyleft/fdl.html)], via Wikimedia Commons