Auch die weitere Entwicklung Raetiens muss im Zusammenhang mit den politischen Bedingungen der Zeit gesehen werden.
531 unterliegt das Reich der Thüringer den Franken, 546/47 beansprucht König Theudebert gegenüber dem byzantinischen Kaiser Justinian die „Gebiete der unterworfenen Thüringer und deren Provinzen und (…) [die Gebiete] entlang der Donau bis an die Grenzen Pannoniens.“ Pannonien war damals byzantinischer Einflussbereich.
Auch anhand von Fibelfunden lässt sich für diese Zeit noch ein relativ einheitlicher Kulturraum von Niedersachsen und das Rheinland bis nach Niederösterreich und in das Gebiet der – in Pannonien und in Südmähren sitzenden – Langobarden rekonstruieren.
Die Ausbreitung der elbgermanischen Kultur nach Bayern lässt sich demnach in zwei Phasen gliedern: In eine spätrömische (Vinarice-Kultur, Funde z.B. in Neuburg a.d.Donau und Eining) und in eine merowingerzeitliche (Friedenhain-Prestovice-Kultur).
Als Mitte des 6.Jhs. das „Herzogtum der Bajuwaren“ von den Franken etabliert wurde, hatten sich die Bajuwaren als Stammesverband schon gebildet. Noch immer aber ist unklar, ab wann dieses Ereignis als abgeschlossen betrachtet werden kann.
Weitere Hinweise liefert die Natur des frühen Herzogtums Bayern als „Dukat“. Der bairische Dux, so wie er uns Mitte des 6.Jhs. und in der „Lex Baiovariorum“ begegnet, scheint dem zur gleichen Zeit im Byzantinischen Reich üblichen Duces nachgebildet zu sein. Die Byzantiner gingen zu dieser Zeit dazu über, den zuvor rein römischen Amtsträgern gewisser Grenzprovinzen, etwa in Libyen oder in Syrien, weitergehende Rechte zu gewähren, die schließlich dazu führten, dass diese Duces in den Rang von Unterkönigen gelangten, was ihnen schließlich auch durch die Zuerkennung der Bezeichnung „Rex“ anerkannt wurde.
Ähnliches geschah offenbar in Raetien. Mitte des 6.Jhs. war das ein Gebiet, das die Franken erst vor kurzem eingenommen hatten und das von Osten her bedroht wurde. Die frühen Duces im byzantinischen Reich waren Militärbefehlshaber mit dem Recht, Steuern und Wirtschaft in ihrem Geltungsbereich zu regeln. Aus der „Lex Baiovariorum“ sind für den bairischen Herzog ganz ähnliche Rechte zu entnehmen, und der Nachfolger des ersten „Dux“ Garibald wird dann „Rex“ Tassilo (I.) genannt. Wenn aber Garibald ein Dux nach byzantinischem Vorbild war, dann hatte er in erster Linie die Aufgabe, seinen Dukat militärisch zu schützen. Auffällig ist nun, dass alle Bezeichnungen von Bevölkerungsgruppen mit der Endung „-varii“ militärische Einheiten bezeichnen. In Nachbarschaft zu den „Baiovarii“ finden wir folgerichtig auch die alamannischen „Raetovarii“ (sie sind im Gebiet des Nördlinger Rieses nachweisbar und standen laut der zwischen 395 und 433 entstandenen „Notitia Dignitatum“ – einer Übersicht über spätrömische Militäreinheiten – zusammen mit einem weiteren alamannischen Stamm aus der Gegend von Mainz in oströmischen (!) Diensten). Der Name „Baiovarii“ sagt also nichts oder wenig aus über die Herkunft dieser Leute aus Böhmen. Vielmehr lässt sich aus dieser Bezeichnung herauslesen, dass es sich um eine militärische Gruppe in römischer Tradition handelt, die ethnologisch vermutlich durchaus heterogen war und für die es sich daher anbot, mangels fehlender gemeinsamer Herkunft den Ort ihrer Entstehung als Unterscheidungsmerkmal von anderen „-varii“-Gruppen zu verwenden (z.B. waren die „Chattovarii“ mitnichten Chatten, diese siedelten aber im ehemaligen Gebiet der Chatten). Da Anfang des 5.Jhs., wie oben gesehen, Böhmen bzw. Südböhmen und das Limesvorland ein einheitlicher Kulturraum waren und weiterhin die keltischen Boier nicht nur in Böhmen, sondern auch südlich davon an der Donau siedelten, liegt hierin die Erklärung für den Namensbestandteil „Baio-“ bei den Bajuwaren/Baiovarii.
Um die Mitte des 6.Jhs. wird der Name „Baiovarii“ allgemein als bekannt vorausgesetzt, so muss die Stammesbildung zu diesem Zeitpunkt schon einige Zeit abgeschlossen gewesen sein. Als vorerst wahrscheinlichster Zeitpunkt nehme ich die Zeit um 500 ins Blickfeld, als sich in Bayern gewaltige Umbrüche ereigneten, nicht nur durch die an der Änderung der Grabsitten erkennbaren Zuwanderung von Alamannen, sondern auch durch die Räumung Norikums durch Odoaker. In den Salzburger Annalen wird überdies schon zum Jahr 508 von Bajuwaren gesprochen; dies ist allerdings ein vereinzelter Nachweise, dazu noch aus einer Handschrift des 12.Jhs.