Biblische Motive und Ereignisse haben die Entwicklung und Kulturgeschichte der Welt geprägt. Sie beeinflussten auch sehr das 20. Jahrhundert. Der Völkermord der Nationalsozialisten und der Zweite Weltkrieg missachteten und verletzten jegliche christlichen Moralvorstellungen aufs Gröbste und hinterließen eine Bürgschaft, die in den ersten Nachkriegsjahren überwiegend in Sprachlosigkeit und Bestürzung erstarrte. Das grausamste Kapitel der Weltgeschichte hatte zu annähernd 60 Millionen Toten, darunter sechs Millionen ermordete Juden und 500.000 ermordeter Sinti und Roma geführt.
Die Verfolgung der jüdischen Bevölkerung erreichte in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 einen dramatischen Höhepunkt. Um die 400 Menschen wurden ermordet oder in den Suizid getrieben, über 1.400 Synagogen und Betstuben wurden in Brand gesetzt oder geschändet und 7.500 jüdische Geschäfte wurden zerstört. In der Nacht und in den Tagen danach verhaftete die Gestapo etwa 30.000 jüdische Männer und verschleppte sie in Konzentrationslager. Überlebende Häftlinge wurden größtenteils nach einigen Wochen und Monaten wieder freigelassen.
Dies ist die traurige Bilanz eines Pogroms, der das unsagbare Verbrechen der Nationalsozialisten und ihrer Sympathisanten am Judentum mit aller Deutlichkeit aufzeigte.
Bundespräsident Roman Herzog legte in einer Rede aus Anlass des 60. Jahrestages der Reichskristallnacht am 9. November 1998 in Berlin dar, dass die Nationalsozialisten bewusst die ethische Grundlage zerstören wollten, „die durch die Zehn Gebote und im besonderen durch das Tötungsverbot gelegt sind“. Er sprach von einer „ausdrücklichen Gottlosigkeit“, die in den brennenden Synagogen offenkundig wurde.
Auch die DDR hatte 1963 die Schandtaten der Nationalsozialisten angeprangert.
Gemäß der Überlieferung im 2. und 5. Buch Mose des Alten Testaments empfing Mose die Zehn Gebote von Gott auf dem Berg Sinai (Horeb) nach seinem Auszug aus Ägypten mit dem Volk Israel (Exodus). Im Gegensatz zum Christentum, das den Inhalt der Gebote proklamiert, steht im Judentum die göttliche Offenbarung im Vordergrund. Nach jüdischer Auslegung und Tradition sind sie eingebunden in die Tora, die nach enger Begriffsdeutung die fünf Bücher Mose umfasst und in ihrer Gesamtheit von Gott (Jahwe) offenbart wurde.
Seit der Antike sind zahlreiche religiöse, literarische, musikalische und bildnerische Werke überliefert, die den Exodus und/oder die Offenbarung Gottes zum Gegenstand haben. Beispielhaft seien genannt Johann Wolfgang Goethes Erzählung „Israel in der Wüste“, das Musical „Die Zehn Gebote“ von dem Komponisten Dieter Falk und dem Librettisten Michael Kunze, Carl Philipp Emanuel Bachs Oratorium „Die Israeliten in der Wüste“, Michelangelos Mose-Statue in der Kirche San Pietro in Vincoli in Rom und Rembrandts Gemälde „Mose mit den Gesetzestafeln“.
Auch der US-amerikanische Monumentalfilm (Stummfilm) „The Ten Commandments“ (1923) und kolossale Neuverfilmungen (1956) sowie als zweiteiliger Fernsehfilm (2006) hatten sehr eindrucksvoll das Leben von Moses mit dem Exodus und den Gesetzestafeln zum Inhalt.
In meiner Heimatstadt Herborn war der von Johannes Calvin begründete Calvinismus die führende Lehrmeinung an der ehemaligen Hohen Schule (1584-1817), die zeitweise europaweite Anerkennung genoss. Calvin, der neben Martin Luther die spätmittelalterliche Kirche reformierte, widmete sich in seinem theologischen Hauptwerk, der „Institutio“, bereits in der Erstfassung von 1536 auch einer umfangreichen Darlegung der Zehn Gebote. Anlässlich seines 500. Geburtstages im Jahr 2009 fand in den benachbarten Städten Herborn und Dillenburg eine Calvin-Festwoche statt.
Ein berühmter Schüler Calvins, Caspar Olevian, war der erste Rektor der Hohen Schule und zusammen mit Johannes Piscator ihr führender Theologe. Er war zuvor 1563 an der Schlussfassung des Heidelberger Katechismus u.a. mit einer Auslegung der Zehn Gebote beteiligt.
In diesem Zusammenhang ist sicherlich auch zu beachten, dass der Deutsche Wandertag 1927 in Herborn genau 1.400 Jahre nach der durch Inschriften belegten Gründung des St. Katharina Klosters am Fuße des Berg Sinai durch Kaiser Justinian I. stattfand.
Nach der Reichskristallnacht und während des Zweiten Weltkrieges spiegelten insbesondere Denkschriften der Freiburger Kreise, Memoranden eines der führenden Köpfe des zivilen Widerstands, Carl Goerdeler, zur politischen Umwälzung der Gesellschaft und zur Erneuerung von Recht und Moral sowie Denkschriften und Gutachten des bürgerlich zivilen Kreisauer Kreises um Helmuth James Graf von Moltke und Peter Graf York von Wartenburg mit programmatischen Grundsätzen für einen föderalen Wiederaufbau Deutschlands in Europa nach Hitler eine verantwortliche Ethik wider.
Auch der Widerstand der Weißen Rose, die in ihren Flugblättern das Töten der faschistischen Verbrecher anprangerten, zeugte von Menschlichkeit und gesellschaftlicher Verantwortung. Etliche Vertreter der Kirchen äußerten in diesen Jahren ebenfalls massive sittliche und moralische Bedenken in Bezug auf das unwürdige und Leben zerstörende System der Nationalsozialisten.
Hervorzuheben sind die Aktivitäten vieler Pfarrer der Bekennenden Kirche, die Predigten und Briefe des Bischofs von Münster, Clemens August Graf von Galen, gegen die systematische Ermordung von geistig Behinderten oder psychisch kranken Menschen (Euthanasie) und die Verlesung des Hirtenbriefs der deutschen Bischöfe über die Zehn Gebote am 26. September 1943 in den Kirchen.
1943 erschien in den USA auch eine Veröffentlichung unter dem Titel „The ten Commandments: Ten short Novels of Hitler´s War against the Moral Code“ („Die Zehn Gebote: Zehn Kurzgeschichten über Hitlers Krieg gegen das Sittengesetz“) unter Beteiligung von zehn international bekannten Schriftstellern. Quelle: Armin L. Robinson (Ed), Simon and Schuster, New York
Nach einer Novelle des im amerikanischen Exil lebenden deutschen Literaturnobelpreisträgers Thomas Mann zum ersten Gebot „Du sollst keine anderen Götter haben neben mir“ stellten die anderen Autoren in ihren Erzählungen jeweils anhand der übrigen Gebote den scheußlichen Verfall unter den Nationalsozialisten dar. Thomas Mann umschrieb gekonnt in seinem Beitrag, den er am 25. April 1943 auch für eine Rundfunkansprache an das deutsche Volk nutzte und 1944 in Stockholm unter dem Titel „Das Gesetz“ veröffentlichte, den ägyptischen Lebensweg von Mose und das Exodusgeschehen der Bibel mit der Sinaioffenbarung.
Er entfaltete die besondere Beziehung zwischen Mose und Gott und das Bemühen von Mose um Sittlichkeit und Humanität des israelischen Volkes mit den Worten „…und Gott schrieb´s in den Stein mit meinem Griffel, lapidar, das A und O des Menschenbenehmens. In eurer Sprache hat er´s geschrieben, aber in Sigeln, mit denen man notfalls alle Sprachen der Völker schreiben kann.“
Die Erzählung endet mit einer Verdammnis Hitlers, ohne dass sein Name besonders erwähnt wird: „Aber Fluch dem Menschen, der da aufsteht und spricht: ´Sie gelten nicht mehr´. Fluch ihm, der euch lehrt: ´Auf und seid ihrer ledig´. (…)
Nach dem Holocaust und dem Verbrechen an der Menschheit gründete sich die NATO genau 210 Jahre nach der Uraufführung des Händelschen Oratoriums „Israel in Egypt“ am 4. April 1949 in Washington. Die Konstruktion belebte eine von König David im Alten Testament herrührende Metapher. Sie hatte auch den Staatsputschversuch Adolf Hitlers am 21. Geburtstag von Otto Schäfer, dem Vater des Autors, im Jahr 1923, das abscheuliche Verfolgungssystem der Nationalsozialisten und den nationalen und internationalen Widerstand gegen Hitler und seine Verbündeten maßgeblich geprägt.
König David brachte nach dem Alten Testament die Bundeslade mit den Zehn Geboten nach Jerusalem (2 Samuel 6, 1-23).
Eine der vielen geistlosen Nachahmungen der Zehn Gebote hat wohl auch die Exekution von zehn Widerstandskämpfern kurz vor Ende des Weltkriegs in Europa beeinflusst, die fast alle im Amt Ausland/Abwehr engagiert waren. Sie erfolgte genau neun Jahre nach der Hochzeit meiner Eltern am ökumenischen Gründonnerstag 1936 im Frankfurter Römer.
Mehr hierzu können Sie im Artikel „Eine persönliche Familiengeschichte“ lesen.
1936 wurde ein Abkommen zwischen Abwehrchef Wilhelm Canaris und dem Leiter der Abteilung für Rechts- und Verwaltungsfragen der Gestapo, Werner Best, sanktioniert, das die „Zehn Gebote“ genannt wurde und die Zusammenarbeit zwischen den Abwehrdienststellen der Wehrmacht und der Geheimen Staatspolizei regelte. Es hatte bis zu einer Neufassung im Frühjahr 1942 Bestand. Quelle: Horst Mühleisen (1999): Das letzte Duell. Die Auseinandersetzungen zwischen Heydrich und Canaris wegen der Revision der „Zehn Gebote“, in: Militärgeschichtliche Mitteilungen, Bd. 58, H. 2, S. 395-458.
Am 4. April 1945 wurden in einem Panzerschrank der Abwehr in Zossen bei Berlin die Tagebücher von Canaris gefunden. Sie umfassten Aufzeichnungen über die Widerstandsgruppen sowie Notizen über Frontreisen, um mehrere Kommandeure für einen Umsturz zu gewinnen. Nachdem der Chef des Reichssicherheitshauptamtes Ernst Kaltenbrunner Hitler am 5. April 1945 davon in Kenntnis gesetzt hatte, ordnete dieser die Exekution der Verschwörer an. Quelle: Landgericht Bonn (2013): Zur Strafbarkeit einer Diffamierung Dietrich Bonhoeffers als Landesverräter als Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener, Urteil vom 9. September 2013, Az. 25 Ns 555 Js 94/12 – 113/13, S. 2.
Zu den hingerichteten zehn Personen gehörten u.a. Pfarrer Dietrich Bonhoeffer, Admiral Wilhelm Canaris, der frühere Reichsgerichtsrat Hans von Dohnanyi und der Schreiner Georg Elser, der in der Anfangsphase des Zweiten Weltkriegs einen Bombenanschlag auf Adolf Hitler im Münchener Bürgerbräukeller verübt hatte.
Dietrich Bonhoeffer befasste sich in seinem mutmaßlich letzten theologischen Text mit einer Auslegung der ersten Tafel der Zehn Gebote im Juni/Juli 1944 im Untersuchungsgefängnis der Wehrmacht Berlin-Tegel. Dabei führte er u.a. aus:
„Immer wenn die Lebensverhältnisse der Menschen durch starke äußere oder innere Erschütterungen und Umwälzungen in Unordnung geraten, erkennen diejenigen Menschen, die sich die Klarheit und Besonnenheit des Denkens und Urteilens zu bewahren vermögen, dass ohne Gottesfurcht, ohne Ehrerbietung gegen die Eltern, ohne den Schutz des Lebens, der Ehe, des Eigentums und der Ehre – wie immer auch diese Güter gestaltet sein mögen – kein menschliches Zusammenleben möglich ist.“
Quelle: Dietrich Bonhoeffer, Gesammelte Schriften, Bd. 4, S. 597-612, hrsg. von Eberhard Bethge, Chr. Kaiser 1961
Zum Autor Jochem Schäfer
Der Verfasser ist Ministerialrat a.D. Im vergangenen Jahrhundert wirkte er neben seiner Arbeit als Bundes- und Landesbeamter bei agrar-, umwelt- und friedenspolitischen Ereignissen und Entscheidungen auf EG-Ebene in enger Zusammenarbeit mit EG-Ministerrat, EG-Kommission und Europäischem Parlament mit. Herausragend waren der Camp-David-Frieden zwischen Israel und Ägypten und die Öffnung der Berliner Mauer mit der deutschen Wiedervereinigung und der friedlichen Auflösung des Warschauer Pakts. In der zweiten Hälfte der siebziger Jahre war er u.a. im EG-Agrarministerrat und an der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik bei der EG in Brüssel tätig. In den Jahre 1989/90 beriet er eine Task Force unabhängiger Sachverständiger bei der EG-Kommission zum Binnenmarkt- und grenzüberschreitenden Umweltschutz und nahm an Tagungen des EG-Umweltministerrats teil. Seine Webseite verweist auf seine Arbeiten als freier Schriftsteller: https://jochem-schaefer.jimdofree.com/