Jochem Schäfer widmet sich in seinem neuesten Artikel der weitsichtigen Städtepartnerschaft zwischen Herborn und Pertuis und arbeitet die engen Bezüge zum deutschen Einheitsprozess und zur Stadt Frankfurt am Main heraus. Wir danken dem Autor, der am Artikelende vorgestellt wird, für diesen Beitrag.

I. Herborn, Pertuis und das partnerschaftliche Verhältnis

Von den Partnerstädten Herborns Pertuis (Frankreich), Guntersdorf und Schönbach (Niederösterreich), Ilawa (Polen) und Post Falls (USA/Idaho) ist Pertuis mit Abstand die Älteste.

Die Städtepartnerschaft wurde am 14. Juli 1968, also vor 54 Jahren, am französischen Nationalfeiertag besiegelt und von der Verankerung der Grundrechte in den nationalen Verfassungen und internationalen Erklärungen und Konventionen beeinflusst. Sie prägte vor allem der beurkundete Gemeinsinn der „Spätheimkehrer und früheren Kriegsgefangenen“, der vorbildliche Kontakt mehrerer Vereine und ein sehr reger Schüleraustausch unter Beteiligung von Johanneum-Gymnasium, Comeniusschule sowie zwei Collèges und eines Gymnasiums in Pertuis. Auch das Engagement von Stadtverordneten, Ortsbeiräten, Mitgliedern der städtischen Partnerschaftskommissionen und Bediensteten der Stadtverwaltungen förderte die Beziehungen.

Sie offenbarten eine gute kameradschaftliche Verbundenheit. Das enge freundschaftliche Verhältnis zwischen den Bürgern der beiden Städte zeigte sich besonders bei einigen Krisen- und Notsituationen: beim Herborner Hochwasser 1984, bei der Tanklasterkatastrophe 1987 und bei der Überflutung der Flüsse La Durance und L’ Eze 1993 in Pertuis und Umgebung. Feuerleute der Partnerstädte leisteten hier jeweils wertvolle Hilfe. Spenden aus der Bevölkerung halfen zudem den am ärgsten Betroffenen.

In den letzten Jahrzehnten belebten insbesondere auch die beiden 1991 und 1993 gegründeten Partnerschaftsvereine „Les amis d’Herborn“ und „Die Freunde Pertuis“ die Jumelage der beiden Städte und trugen mit kreativem Einsatz zur nachhaltigen Festigung der Freundschaft bei. Wein- und Käseabende, gemütliche Stammtische, Kochveranstaltungen mit typischen französischen Erzeugnissen, Dia-Vorträge, Paketaktionen zu Weihnachten, Foto- und Kunstausstellungen über die Provence und Reisen in die Provence oder in den Elsaß gemeinsam mit Freunden aus Pertuis sind einige Beispiele der zahlreichen Aktivitäten.

Die Statue des „Herborner Bären“ vor dem Rathaus in Pertuis (c) Jochem Schäfer

Im Stadtbild der beiden Kommunen werden die Bürger mit Namensbezeichnungen und originellen Darstellungen auf die Partnerschaft hingewiesen. In Herborn sind es der inzwischen weitgehend überbaute Pertuisplatz und die Meynardstraße, in Pertuis der „Jardin d`Herborn“ und eine Bronzestatue des „Herborner Bären“. Die Partnerstädte ernannten die beiden Ex-Bürgermeister Bernd Sonnhoff und Jean Guigues sowie die sehr verdienstvolle Madame Meynard zu Ehrenbürgern.

Die Historie der europäischen Reformationsstadt Herborn

Herborn ist eine sehr schöne Kleinstadt mit etwas über 21.000 Einwohnern. Faszinierend ist die Vielzahl an historischen Häusern mit Fachwerk und kleinen Schiefertafeln, die sich in der Altstadt aneinanderreihen. Das im Jahr 1350 erstmals als Burg erwähnte stattliche Herborner Schloss, die leicht erhöht liegende evangelische Kirche, die ehemalige Hohe Schule und das mit zahlreichen Bürger- und stadtgeschichtlichen Wappen verzierte Rathaus sind die herausragenden Gebäudekomplexe. Zur Belebung des Stadtbildes tragen besonders eine Reihe von spektakulären kulturellen und sportlichen Veranstaltungen und der alljährlich im November stattfindende Martinimarkt bei.

Das Herborner Rathaus – die Aufnahme stammt von Oliver Abels. Lizenz: Oliver Abels (SBT), CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons

Eine Siedlung in der Gemarkung Herborn lässt sich anhand von Ausgrabungen und Funden bereits 300 v. Chr. nachweisen. Es erschließt sich ein historisch weites Feld, wenn man die Bedeutung der Stadt im Landesbezirk unter fränkischen und deutschen Königen im frühen und hohen Mittelalter, die urkundliche Erwähnung der „Herborner Mark“ als „Herboremarca“ im Jahr 1048, die Beteiligung nassauischer Grafen an der Gründung des Deutschen Ordens mit einer Spitalbruderschaft in Akko im heutigen Israel („Brüder vom Deutschen Haus Sankt Mariens in Jerusalem“) und die Verleihung der Stadtrechte am 6. November 1251, 800 Jahre nach dem Konzil von Chalcedon, durch den Römischen König Wilhelm von Holland ergründet. Die Verleihung erfolgte drei Jahre nach der Grundsteinlegung des Kölner Doms und der Weihe der Sainte Chapelle in Paris.

Das Herborner Stadtwappen

Auch das Herborner Stadtwappen, als Stadtsiegel bereits im 13. Jahrhundert vorhanden, mit dem thronenden Petrus und den beiden verschwisterten Grafen Walram II. und Otto I. ist dabei zu würdigen, zumal die Trennung des Hauses Nassau in seine beiden gewichtigen Stammlinien ottonischer und walramischer Zweig wenige Jahre nach der Stadtgründung, am 16. Dezember 1255, (orthodoxer Gedenktag an Joseph von Nazareth) stattfand.

Von 1584 bis 1817 war die Stadt an der Dill Standort einer von Johann VI., Graf von Nassau (1536-1606), gegründeten Hohen Schule. Der Gründungsakt fand tragischerweise nahezu zeitgleich statt mit der Ermordung des älteren Bruders von Johann VI., Wilhelm I. von Oranien, Statthalter von Holland, Seeland und Utrecht, der als Begründer des niederländischen Hauses Oranien gilt.

Als Zentrum der Reformierten in Deutschland, beherrscht von dem Gedankengut des schweizerischen Reformators Johannes Calvin (1509-1564), erlangte die Herborner Hohe Schule mit den Fachbereichen Theologie, Philosophie, Recht und Medizin in den ersten Jahrzehnten ihres Bestehens europaweite Bedeutung.

Caspar Olevian, Mitverfasser des Heidelberger Katechismus, Johannes Piscator, Bearbeiter einer weit verbreiteten Bibelübersetzung, Wilhelm Zepper, Autor einer fundamentalen Schrift über die ordnungsgemäße Verfassung der Kirche, Johann Heinrich Alsted, Verfasser der 1630 in Herborn veröffentlichten „Encyclopaedia“, und der Rechtsgelehrte Johannes Althusius gelangten als Professoren der Hohen Schule zu geschichtlichem Ansehen. Althusius unternahm 1603 in seiner „Politica methodice digesta“ als erster Deutscher den Versuch, die Staats- und Gesellschaftslehre unabhängig vom römischen Recht systematisch darzustellen. In späteren Auflagen dieses Werks behandelt er auch das Widerstandsrecht gegen eine tyrannische Obrigkeit.

Bekannt wurden auch der Naturwissenschaftler und Leiter der Hochschulapotheke, Johann Daniel Leers, mit seiner botanischen Schrift „Flora Herbornensis“ aus dem Jahr 1775 und der Buchdrucker und Verleger Christoph Corvinus, der während seiner 35jährigen Herborner Tätigkeit über 900 Werke herstellte und veröffentlichte.

Berühmte Studenten waren Johann Amos Comenius, erster Bischof der böhmischen Brüder und Namensgeber der Universität in der slowakischen Hauptstadt Bratislava, sowie der bekannte Pädagoge und Reformer der Lehrerausbildung Friedrich Adolf Diesterweg.

Als Nachfolgeorganisation des theologischen Fachbereichs der Hohen Schule wurde vor über 200 Jahren ein Theologisches Seminar im Herborner Schloss eingerichtet, das bis heute der Ausbildung von Pfarrerinnen und Pfarrern dient.

Aufgrund seiner Bedeutung als Stätte der Reformation wurde Herborn im Jahr 2016 der Titel „Europäische Reformationsstadt“ verliehen.

Die Stadt wurde am 18. Januar 1701 in den Gründungsakt des Königreichs Preußen einbezogen und nach dem Deutschen Krieg von 1866 zusammen mit dem Herzogtum Nassau von Preußen annektiert. Von 1868 bis 1944 gehörte sie der preußischen Provinz Hessen Nassau und bis zum Einrücken der Amerikaner im Jahr 1945 der preußische Provinz Nassau an.

Im Jahr 1985 beging die mit Frieden, Freiheit, Toleranz und Völkerversöhnung untrennbar verbundene Hessische Verfassung ihren 40. Geburtstag. In dem Jahr eröffnete der Hessische Ministerpräsident, Holger Börner, im 200. Todesjahr des Preußenkönigs Friedrich des Großen am Jahrestag seiner Königskrönung (31. Mai 1740) den zehntägigen Hessentag in Herborn und spannte damit eine Friedens- und Versöhnungsbrücke zur DDR, die das gemeinsame kulturelle und freiheitliche Geschichtserbe der beiden Teile Deutschlands besonders verband und würdigte.

Im Jahr 2016 fand ein zweiter Hessentag in Herborn statt. Genau 30 Jahre vor dem Hessentags-Festumzug am 29. Mai 2016 wurde die Flagge der Europäischen Union mit dem Kranz von zwölf goldenen fünfzackigen Sternen auf azurblauem Hintergrund erstmals vor dem Berlaymont in Brüssel mit Beethovens Europahymne „Ode an die Freude“, zahlreichen Ehrengästen und einem Bürgerfest gehisst.

Das malerische Pertuis in der Provence

Die ca. 30.000 Einwohner zählende Stadt Pertuis mit den Partnerstädten Utiel in Spanien, Este in Italien, Alton in England und Herborn liegt in der Provence in einer der schönsten Landschaften Frankreichs am Fuß des Luberon-Gebirges im Département Vaucluse. Römische Thermen, Triumphbögen und Amphitheater zeugen von der geschichtsträchtigen Vergangenheit der gesamten Region. Auch das 40 km von Marseille entfernte Pertuis ist aus einer alten römischen Siedlung entstanden. 981 wurde sie unter dem Namen Pertusum erstmals erwähnt. Das Wappen von Pertuis stellt eine blaue Lilie auf gelbem Grund dar, die von einem roten horizontalen Streifen überlagert ist. Dieses Emblem verlieh im Jahr 1493 der in Reims gekrönte König Karl VIII. (1470-1498) an die Bürger der Stadt.

Im Laufe der Jahrhunderte legten die Bewohner zum Teil heute noch sichtbare Wehrmauern und -türme an und schufen mit ländlich provenzialischer Architektur und vereinzelter gotischer und schwungvoller italienischer Bauweise ein reizvolles Stadtbild mit engen Gässchen, freien Plätzen und mehreren kunstvoll gefertigten Brunnen. Dominierende Gebäude sind der 1978 renovierte

St. Jacques-Turm, die im gotischen Baustil errichtete St. Nikolaus-Kirche, das Rathaus und der als Glockenturm ausgebaute Turm am Mirabeauplatz, in dem heute das Fremdenverkehrsbüro untergebracht ist. Auch die kleine Rochuskapelle am südlichen Stadtrand ist sehr sehenswert.

Foto: Verkaufsstände auf dem Mirabeauplatz vor der St. Nikolauskirche in Pertuis (c) Jochem Schäfer

Pertuis zeigt seinen beeindruckenden ländlichen Charme bei historischen Bauern-, Blumen- und Flohmärkten, beim jährlichen Blumenkorso und bei einer Reihe von Musik- und Theaterveranstaltungen. Zum regionalen Naturpark Luberon, der sich über 165.000 ha erstreckt und mit ideenreichen Natur- und Kulturlehrpfaden ausgestattet ist, bildet die Stadt die südliche Pforte. Die kaum befahrene Landstraße der malerischen Bergregion eignet sich besonders auch für Radfahrer, die seitlich ihrer Routen neben den Weinbergen mit dem berühmten Luberonwein eine nahezu unberührte und artenreiche Fauna und Flora vorfinden.

II. Die Beziehung der Partnerschaft zum deutschen Einheitsprozess und zur Stadt Frankfurt

Am 14. Juli 1989, genau 21 Jahre nach der Städtepartnerschaft und 200 Jahre nach dem Sturm auf die Bastille in Paris am Beginn der Französischen Revolution, fand in der Deutschen Staatsoper in Ostberlin die Uraufführung von Siegfried Matthus „Graf Mirabeau“ statt und schürte die friedliche Revolution in der DDR. Das Stammschloss der Familie des Protagonisten der Oper, Honoré Gabriel comte de Mirabeau, befindet sich im Kanton Pertuis. Honoré Gabriel war sehr eng mit der am 26. August 1789 von der französischen Nationalversammlung verabschiedeten Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte verbunden und hatte 1791 auch den Vorsitz der Nationalversammlung inne.

Die Städtepartnerschaft wurde genau 1200 Jahre nach der Ausrufung Karls des Großen in Noyon (Départment Oise) zum König des Fränkischen Reiches beschlossen. Der am 2. April 748 geborene Karl wurde später am ersten Weihnachtsfeiertag im Jahr 800 in Rom zum römischen Kaiser gekrönt und am Davidstag 1165 von Kaiser Friedrich I. Barbarossa und Papst Paschalis III. in der Aachener Pfalzkapelle heilig gesprochen.

Auch Frankfurt am Main hofiert diesen Kaiser auf besondere Weise. 1994 feierte die Stadt ihr 1200. Stadtjubiläum, das sich von Karl herleitete. Er initiierte 794 eine bedeutende Synode mit Kirchenvertretern des fränkischen Reichs in Franconofurd, dem heutigen Frankfurt und nahm selbst an der Veranstaltung teil.

Foto: Gemälde von Karl dem Großen im Kaisersaal des Frankfurter Römer (c) Jochem Schäfer

Im Kaisersaal befindet sich zudem die einzige vollständig erhaltene Galerie aller Kaiser und Könige des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation von Karl dem Großen über Friedrich Barbarossa bis zu Franz II. mit insgesamt 52 gekrönten Häuptern. In einer Glasvitrine ist eine Kopie der Goldenen Bulle von 1356 ausgestellt, die Frankfurt zum Wahlort der deutschen Könige bestimmte. Sie alle beriefen sich bei ihrer Krönung auf Karl den Großen.

Ab 1562 fanden zudem, beginnend mit Maximilian II. bis zu Kaiser Franz II. (1792), fast alle Königs- und Kaiserkrönungen im Frankfurter St. Bartholomäus Dom statt.

Foto: Wappen am Frankfurter Römer mit den zwei beschilderten Knappen, die offensichtlich das Frankfurter Wahrzeichen beschützen (c) Jochem Schäfer

Im Römer hatten 1936 auch meine Eltern am Ökumenischen Gründonnerstag geheiratet, die eng mit dem Dritten Reich, dem Verfolgungssystem und dem Widerstand gegen den Nationalsozialismus verbunden waren (siehe meinen Beitrag bei Geschichte-Wissen: Eine persönliche Familiengeschichte: Meine Eltern während des Widerstands und der Nachkriegszeit).

Nach der Niederlage des nationalsozialistischen Deutschlands hatten die vier Siegermächte USA, Sowjetunion, Großbritannien und Frankreich im Potsdamer Abkommen am 2. August 1945 die Aufteilung Deutschlands in vier Besatzungszonen beschlossen, was später zu den beiden deutschen Staaten DDR und Bundesrepublik führte. Der Tag der deutschen Einheit am 3. Oktober 1990, unser Nationalfeiertag, war auch für Frankfurt am Main von großer Bedeutung. Leipzig, die Stadt der friedlichen Revolution in der DDR und Frankfurt besiegelten an diesem Tag im Jahr ihre Städtepartnerschaft.

Der Autor Jochem Schäfer

Der Verfasser ist Ministerialrat a.D. Im vergangenen Jahrhundert wirkte er neben seiner Arbeit als Bundes- und Landesbeamter bei agrar-, umwelt- und friedenspolitischen Ereignissen und Entscheidungen auf EG-Ebene in enger Zusammenarbeit mit EG-Ministerrat, EG-Kommission und Europäischem Parlament mit. Beruflich tätig war er u.a. bei der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik bei der EG, als Arbeitsgruppenvorsitzender des EG-Ministerrats während der deutschen EG-Ratspräsidentschaft 1978 und als Teilnehmer an den Tagungen der EG-Agrar- und Umweltminister und der Task Force „1992 – The Environmental Dimension“ bei der EG-Kommission in den Jahren 1989/90. Ende 1988 wurde er von europäischer Seite angefordert und arbeitete zielorientiert mit auf die Öffnung der Berliner Mauer und die deutsche Einheit hin. Seine Webseite verweist auf seine Arbeiten als freier Schriftsteller: https://jochem-schaefer.jimdofree.com/

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