Herr Bernhard Sauer bietet eine Biographie über Rudolf Freitag als kostenloses E-Book an. Der Autor berichtet über seine Jugendzeit im 3. Reich. Geschichte-Wissen freut sich über die Möglichkeit, exklusive Auszüge aus dem Buch zu veröffentlichen – wie erlebte Rudolf Freitag das Jungvolk, in dem 10 bis 14 jährige Jungen indoktriniert und vormilitärisch ausgebildet wurden?
Mein Jungenschaftsführer hieß Hans. Er besuchte die Realschule in Reichenbach. Ein oder zwei Monate nach meinem Eintritt ins Jungvolk ernannte er mich zu seinem Stellvertreter. Da war ich zunächst schon etwas stolz, aber der Haken an der Sache kam noch. Zu dieser Zeit mussten Mitgliedsbeiträge, 30 Pfennig pro Monat, bezahlt werden. Die Kassierung sollte ich nun übernehmen. Von den Jungs erhielt ich aber das Geld nicht. Entweder sie hatten nichts, oder sie wollten es nicht rausrücken. Also musste ich zu den Eltern in die Wohnung gehen und um die Mitgliedsbeiträge bitten. Das war für mich ein Gräuel. Hätte ich Geld gehabt, dann würde ich es, wenn auch schweren Herzens, von mir selbst genommen und abgerechnet haben. Zum Glück fiel noch im gleichen Jahr der Mitgliedsbeitrag ganz weg, und ich hatte eine Sorge weniger. Unser damaliger Fähnleinführer wurde „Sam“ gerufen, seinen richtigen Namen kannte ich gar nicht. Er übergab, als ich noch im vierten Jungzug war, das Fähnlein an „Mulle“. „Mulle“ war sein Spitzname. Kurz gesagt, ein toller Bursche. Diese Veränderung hatte zur Folge, dass Werner, unser Jungzugführer nun Hauptjungzugführer wurde, Hans, der Jungenschaftsführer, bekam die grüne Schnur und ich wurde Jungenschaftsführer und durfte mich mit der rotweißen Führerschnur, genannt Affenschaukel, schmücken.
An dieser Stelle muss ich eine Einfügung machen. Mein Eintritt ins Jungvolk ging nicht so reibungslos vonstatten wie bei den meisten anderen Jungs. Ich wollte unbedingt dabei sein, waren doch die meisten meiner Klassenkameraden schon angemeldet, und vor allem meine besten Freunde waren dabei. Ich wollte kein Außenseiter sein und wenn ich dem Fähnlein zusah, wie es mit Fahne und Fanfarenzug anmarschiert kam, so kann ich zugeben, dass es mir gefallen hat. Damals sollte für die Aufnahme ins Jungvolk noch ein schriftlicher Antrag gestellt werden, der vom Vater zu unterschreiben war. Genau das war mein Problem. Vater unterschrieb nicht. Nun war mein Vater alles andere als ein Rabenvater. Von ihm konnte ich alles haben im Rahmen seiner Möglichkeiten. Er war immer für mich da. Aber unterschreiben, das kam für ihn nicht in Frage. Warum, das wurde mir erst zwei oder drei Jahre später klar. Mein Vater war seit 1911 Mitglied der SPD später SAP (Sozialistische Arbeiterpartei). Es kam aber noch eine schlimme Sache hinzu, die ich aber auch erst viel später bruchstückweise mitbekam. Unmittelbar nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten im Jahre 1933 fanden in Deutschland sehr viele Verhaftungen von Mitgliedern der KPD, SPD, Gewerkschafter und Anderer statt. Die Festgenommenen wurden während ihrer Haft schwer misshandelt. Zu den Verhafteten gehörte auch mein ältester Bruder Karl, damals 24 Jahre alt. Auch ein Cousin von mir, KPD-Mitglied, wurde festgenommen. Mein Cousin wurde mit Gummiknüppeln „behandelt“. Karl kam nach reichlich zwei Wochen wieder nach Hause. Er hat nur gesagt: Ich habe unterschrieben, dass ich gut behandelt worden bin. Die SA bzw. SS nutzte das Volkshaus in Reichenbach als Foltereinrichtung. Mein Vater wurde auch verhaftet. Er saß schon zusammen mit anderen auf dem LKW, als ein in unserem Ort führender Nationalsozialist die Anweisung erteilte, meinen Vater freizulassen. Beide kannten sich von früher, hatten zwar entgegengesetzte politische Ansichten, aber achteten sich trotzdem. Auch an mindesten zwei Hausdurchsuchungen in den Jahren 1934 oder 1935 kann ich mich noch dunkel entsinnen. Es ist also kein Wunder, dass mein Vater die von mir erbetene Unterschrift verweigerte. Schließlich unterschrieb meine Mutter, um endlich „Ruhe zu haben“. Mein Vater machte gute Miene zum bösen Spiel, er wollte ja auch nicht, dass sein Sohn unter seinen Gleichaltrigen eine Außenseiterrolle einnimmt. Sicherlich tröstete er sich damit, sein Gesicht gewahrt zu haben. Etwa um die Zeit des Kriegsausbruches (1. September 1939) war die Unterschrift nicht mehr erforderlich.
Der Krieg veränderte das Denken und Handeln von uns 10-jährigen Kindern zunächst nur zögerlich. Damit meine ich Überlegungen, was ein Krieg wirklich bedeutet für die Menschen. Nach wie vor strolchten wir in den Wäldern herum, spielten Fußball auf einer Wiese oder Völkerball auf der Straße. In der Schule, während des Dienstes im Jungvolk und durch die Wochenschau im Kino, erfuhren wir vom erfolgreichen Vormarsch unserer Wehrmacht. Die Väter erzählten, wie es damals während und nach dem 1. Weltkrieg gewesen war und dass man sich mit Lebensmittel eindecken sollte. Es gab ab sofort „Lebensmittelkarten“, „Bezugsscheine“ für den Kauf neuer Schuhe und später auch „Punktkarten“ für Textilien. Aber damit musste die Mutter zurecht kommen. Noch etwas war für uns Jungs interessant. Mitten durch unseren Ort führt die Eisenbahnstrecke Dresden-München und wir sahen viele Soldatenzüge in Richtung Osten rollen. Da standen wir manche Stunde an der Strecke und winkten den Soldaten zu, die in der geöffneten Tür stehend oder sitzend, zurückwinkten. Der jüngere Bruder meines Vaters wurde auch zur Wehrmacht eingezogen. Er gehörte zu dem Personenkreis, die schon im ersten Weltkrieg gekämpft hatten. Deshalb machte auch der Spruch die Runde: „Wir Alten von 14 – 18 sind wieder da, wo bleibt die SS und SA?“ Mein Onkel wurde aber bereits nach ein paar Wochen, der Polenfeldzug war beendet, wieder entlassen und erzählte nun meinem Vater seine Erlebnisse. An Kämpfen in Polen hatte er nicht teilgenommen. Trotzdem war das, was er berichtete, erschütternd. In vielen polnischen Städten und Dörfern hatte die SS polnische Juden ermordet. An Fensterkreuzen sah er viele aufgehängte Juden. Mein Vater konnte das kaum glauben. Das überstieg seine Erfahrung vom Soldatentum. Einige Wochen später, als der Polenfeldzug beendet war, rollten wieder viele Soldatenzüge durch Netzschkau. Diesmal aber Richtung Westen, gegen Frankreich.
Während des Frankreichfeldzuges schlug die Begeisterung auch bei einigen Lehrern hohe Wellen. So wurden im Fach Heimatkunde/Erdkunde Lieder einstudiert wie „Siegreich woll‘n wir Frankreich schlagen, sterben als ein tapf´rer Held…“, oder „Oh Straßburg, oh Straßburg du wunderschöne Stadt, darinnen liegt begraben, so manicher Soldat…“. Mit dieser kleinen Auswahl von Unterrichtsgestaltung möchte ich lediglich beweisen, dass auch die Volksschule bemüht war, ihrem erziehungspolitischen Auftrag der NSDAP gerecht zu werden. Die älteren Lehrer versuchten meistens ohne großes politisches Engagement durchzukommen. Natürlich erschöpfte sich unser Liedgut nicht nur auf das bisher Geschilderte. Wir sangen auch viele lustige Lieder, Heimat- und Wanderlieder und auch Schlager.
Ich war also schon ein „Führer“, exerzierte mit meiner Jungenschaft, gab Kommandos, kontrollierte und registrierte die Anwesenheit, teilte ein bei Geländespielen, die häufig stattfanden und anderes mehr. Aber das war noch nicht alles. Wenn nach dem Dienst mit der gesamten Einheit oder dem Jungzug, die anderen Pimpfe nach Hause entlassen wurden, hieß es fast regelmäßig, die Führerschaft bleibt noch hier. Da gab es noch Besprechungen, aber oftmals wurde auch nur Rabatz gemacht. Beliebt war in der dunklen Jahreszeit zum Beispiel das Klingelrutschen. Und die Führer waren immer dabei. Außer den üblichen, sozusagen normalen Diensten wurden auch Höhepunkte organisiert: Sonnenwendfeier mit großem Lagerfeuer über das auch gesprungen wurde. Manchmal Hand in Hand mit Mädels vom BDM (Bund Deutscher Mädel).
Insgesamt haben wir, also unser Fähnlein, zwei Veranstaltungen für die Bevölkerung im Schützenhaus Netzschkau durchgeführt unter dem Motto: Pimpfe singen, spielen, turnen“. Es war jedes Mal ein toller Erfolg. Im Saal saßen neben der Netzschkauer Parteiprominenz, angeführt vom Ortsgruppenleiter Artur Pursche, auch viele Zuschauer, die mit den Nazis nichts zu tun haben wollten. Also ehemalige SPD-, KPD- und SAP-Angehörige, oder Gewerkschafter. Man kann sagen, die gesamte “Volksgemeinschaft“ war vertreten. Das ergab sich einfach so, weil deren Kinder und Enkel auch auf der Bühne standen und ihr schauspielerisches Talent in einem Sketch von Hans Sachs zum Besten gaben, oder turnten oder/und sangen. Die Moderation hatte Siegfried Böhm übernommen, ein ehemaliger Klassenkamerad von mir, sehr klug, der aber inzwischen nach Reichenbach in eine höhere Schule ging. Unter anderem trug er ein Gedicht vor. „Esst deutsches Obst, da werdet ihr niemals krank und außerdem macht`s hübsch und schlank. So dachte ich und pflückte mir vom Baume eine wunderschöne blaue Pflaume“…Dann ging es weiter wie lieblich und schön diese Pflaume in seiner Hand lag und er fragte, ob sie wohl auch so lieblich schmeckt? Und das Ende war dann, dass diese schöne und liebliche Pflaume voller Maden war.“ Der ganze Saal tobte. Ich frage mich heute, ob wohl jemand dabei war, der so weit dachte und dieses Dilemma mit der Pflaume mit dem ganzen Nazistaat verglich? (Siegfried Böhm wurde später, wie viele andere Angehörige einer höheren Schule, Luftwaffenhelfer, überstand den 2. Weltkrieg und machte Kariere in der DDR, wurde Abteilungsleiter in der Abteilung Planung und Finanzen im Zentralkomitee der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands –SED – und bis zu seinem frühen Tod Finanzminister in der DDR.
Eine schöne Erinnerung ist auch eine Fahrradtour über die Pfingstfeiertage 1940 nach Kottenheide, obwohl auf der Fahrt zum Ziel es der Wettergott nicht gut mit uns meinte. Noch viele Kilometer von der Jugendherberge entfernt, überraschte uns ein starker Regenschauer. Im nu waren wir durchnässt. Der Fähnleinführer befahl unseren Fahnenträger und noch einen größeren Jungen mit Tempo voraus zu fahren und in der Jugendherberge Bescheid zu sagen, dass wir klitschnass ankommen werden. Es soll geheizt werden. Im Vogtland, vor allem in seinem höher gelegenen Teil kann es zu Pfingsten immer noch sehr kalt sein. Das hat auch alles geklappt, es war warm in der Unterkunft als wir ankamen, und alle fühlten sich als richtige tapfere Jungs. Von Kottenheide aus fuhren wir während der beiden Pfingstfeiertage mit dem Rad weiter ins schöne Vogtland bis zum Schneckenstein und der Mulden-Talsperre.
Abends waren wir todmüde. Trotzdem wurden in der Jugendherberge noch lustige Heimabende veranstaltet.
Noch ein paar Bemerkungen zu den Geländespielen, die häufig stattfanden. Es ist kein Wunder, dass diese Art von Dienstdurchführung bei uns sehr beliebt war. Das gleiche hatten wir schon früher gespielt als Indianer und Trapper, als Räuber und Gendarm. Sich tarnen, den Gegner beobachten, sich anschleichen und dann der Überfall. Natürlich waren diese Geländespiele spätestens wenn es dem Ende zuging, mit einer Keilerei verbunden. Diese Kämpfe fanden stets Mann gegen Mann oder Gruppe gegen Gruppe statt. Wenn es galt, einen großen, starken, meist älteren Jungen nieder zu ringen, dann allerdings kam es schon vor, dass sich zwei oder drei Kleine an ihn heranmachten. Es wurde nicht ins Gesicht geschlagen, überhaupt wurde kaum geboxt. Es ging ritterlich zu und wer niedergerungen und damit besiegt war, brauchte keine Sorge zu haben, dass auf ihm herumgetrampelt wurde.
Jedes Jahr um den 9. November herum kam das Fähnlein zusammen, um den Gefallenen vor der Feldherrnhalle zu gedenken. Dieses Gedenken bezog sich auf den Putsch der NSDAP und anderer in München im Jahre 1923. Bei Trommelwirbel und mit ernsten Gesichtern wurden die Namen der dort ums Leben gekommenen Männer verlesen. Natürlich vor der Fahne und umrahmt von unseren Liedern vom „heiligen“ Vaterland.
Jährlich fand ein sportlicher Leistungswettkampf statt. Gute Leistungen wurden mit Abzeichen belohnt. Wir sollten ja schlank und rank sein,
flink wie Windhunde,
hart wie Kruppstahl,
zäh wie Leder.
(An dieser Stelle ein Witz von damals. Der Deutsche sollte Groß und Stark, Rank und Schlank sowie Blond und Blauäugig sein. Daraus machten wir: Groß und Stark wie Goebbels, Rank und Schlank wie Göring, Blond und Blauäugig wie Hitler!)
Sport wurde überhaupt und grundsätzlich groß geschrieben. Zusammen mit meinen Freunden Gottfried, Günther und Harry besuchte ich einige Jahre jeden Donnerstag eine Turnstunde. Ältere Herren vom Turnverein Netzschkau führten diese Übungsstunde durch, und wir schlossen uns an. Das Turnen an den Geräten machte uns großen Spaß, und zum Abschluss der Übungsstunden wurde noch ein kämpferisches Ballspiel absolviert. Meistens schauten wir aber nur zu; denn die alten Herren gingen ziemlich hart zur Sache, waren voll und ganz dabei und es dauerte jedes Mal nicht lange, und sie stritten sich über Regelverletzungen und ähnliches. Wir machten es uns auf dem Turngerät „Tisch“ bequem, meistens mit einer Flasche „Fanta“ in der Hand und amüsierten uns köstlich über die streitbaren Herren.
Als dann während des Krieges nach und nach die älteren Jungs zum Militär einrücken mussten, wurde ich Jungzugführer. Die Jungs meines Zuges waren zwei Jahre jünger als ich. Nun gab es noch mehr Arbeit, der Dienst musste ordentlich vorbereitet werden, es durfte keine Langeweile aufkommen, im Gegenteil, es musste immer „etwas los“ sein. Im Jahre 1943 endete meine Volksschulzeit, ich begann eine Lehre als Großhandelskaufmann und wurde auf eigenen Wunsch aus dem Jungvolk entlassen.
Mit diesem Ausscheiden war automatisch der Eintritt in die Hitlerjugend verbunden. Ich ging zur Motor-HJ. Natürlich mit all meinen Freunden. Dort trugen wir kaum noch Uniform, was wohl der allgemeinen Knappheit an Rohstoffen geschuldet werden musste. Wir beschäftigten uns mit Kraftfahrzeugtechnik, Straßenverkehrsordnung und eben mit allem, was mit Otto- und Dieselmotoren, auch Holzvergasern zu tun hatte. Der Ausbilder war ein älterer, gutmütiger Mann vom Nationalsozialistischen Kraftfahrkorps NSKK. Seine Gutmütigkeit wurde von uns sehr oft schamlos ausgenutzt. Na ja, wie eben vierzehn und fünfzehn Jahre alte Jungs so sind. Höhepunkte waren die Fahrdienste mit einem Motorrad. Leider fanden diese viel zu selten statt. Benzinmangel. Wir legten dort auch schon die Prüfung für den Führerschein der Klasse 4 ab.
Mit der Ausrufung des Volkssturmes 1944 in Deutschland begann dann ein anderer Wind zu wehen. Zuerst allmählich, dann jedoch immer stärker. Aber davon später.
Zusammenfassend kann ich sagen: Ich verspürte keinen Zwang, ins Jungvolk oder in die Hitlerjugend zu gehen, obwohl der Zwang sozusagen indirekt, von mir unbemerkt bzw. nicht wahrgenommen, vorhanden war. Ich ging meistens gerne zum Dienst und meine Freunde auch. Wir merkten nicht, wie sich die damalige Ideologie in unseren Köpfen breit machte und wir dachten damals – das änderte sich später – auch nicht daran, dass wir reif gemacht wurden für den Krieg, moralisch und körperlich. Wir verehrten die Ritterkreuzträger, Helden wie Prien, ein U-Boot Kommandant und Mölders, ein sehr erfolgreicher Jagdflieger, waren unsere Vorbilder, und wir als Deutsche wähnten uns doch sowieso die Besten, die Edelsten, die Klügsten, die Sportlichsten zu sein – eben genau so, wie sich die meisten Deutschen damals – (heute etwa nicht?) selbst einschätzten.