
Über die Zeit meiner Großeltern in Leipzig bleibt vieles im Unklaren. Ich konnte mich beim Schreiben des folgenden Berichts nur auf das stützen, was von ihnen zu ihren Lebzeiten darüber erzählt wurde. Den mangelhaften Kenntnisstand habe ich dann mancherorts aufgrund von wissenschaftlichen Aufarbeitungen und persönlichen Erinnerungen anderer Zwangsarbeiter ergänzt – z.B. bei der Festlegung von Daten. Es steht unbestreitbar fest, dass sie beide in der zweiten Aprilhälfte 1941 aus ihrem Heimatort (Skarżysko-Kamienna).in das Stammwerk nach Leipzig in Sachsen deportiert wurden. Vieles deutet auch darauf hin, dass sie (separat) sogar im gleichen Transport waren. Zwar kannten sich die beiden schon zum Zeitpunkt der Deportation, doch standen sie noch in keiner Ehebeziehung. Es ist auch klar, dass meine Großmutter in eine Werksabteilung im Stadtbezirk Taucha eingewiesen wurde, wo sie sich genau wie an der ursprünglichen Arbeitsstelle in Polen mit der Qualitätskontrolle der neu hergestellten Projektile beschäftigte. Oft erwähnte sie in ihren Memoiren eine deutsche Arbeitskollegin, deren Sohn an die Ostfront einberufen, und die sich wohl deswegen meiner Oma gegenüber öfters sehr kritisch über Adolf Hitler geäußert hat. Für die junge Leokadia hatte diese vertrauliche Beziehung auch einen sehr praktisch positiven Aspekt, da ihr die regimekritische Frau ab und zu in aller Heimlichkeit einen Teil ihres Pausenbrotes abgab. Um das Hungergefühl zu überwinden, musste sie sich übrigens Delikte zuschulden kommen lassen, die im Rechtssystem des Dritten Reiches den Rang von Sabotage und Landesverrat darstellten. Mit einer polnischen Leidensgenossin wagte sie sich auch in ländliche Stadtteile Leipzigs zur Nahrungsbeschaffung auf Kohlrübenfelder um an diese Gemüsepflanze zu gelangen. Das verwegene Treiben hatte sein Ende , als die beiden Frauen einmal auf frischer Tat ertappt wurden .
Im Rahmen der Vorstrafe verbrachten sie zwei düstere Tage in einer Karzerzelle. Das war ein dunkler Raum ohne jegliche sanitäre Ausstattung mit menschlichen Exkrementen auf dem Boden verstreut . Der dortige Aufenthalt bedeutete eine tiefe Demütigung für die beiden. Danach ging es zurück in die Wohnbaracke , wo man die Täterinnen zum Glück für eine gewisse Zeit ohne Aufsicht ließ . Lange genug für zwei verzweifelte junge Frauen , denen im besten Fall nun eine kräftige Bestrafung in Form von Schlägen bevorstand . So konnten sie eine spontane Fluchtentscheidung treffen. Zufälligerweise hatte die Kollegin einige Zeit zuvor eine Bekanntschaft geschlossen, die den beiden bald die erwünschte Rettung brachte. Sie kannte nämlich einen Wehrmachtssoldaten – einen polnischen Schlesier, den die Reichsgesetzgebung als einen Volksdeutschen eingestuft hatte, was seiner tatsächlichen nationalen Identität durchaus nicht entsprach. Ohne Zögern half er den zwei Flüchtlingsfrauen ohne Rücksicht darauf , dass er damit sein Leben einem großen Risiko aussetzte.. Er nutzte dabei sein schauspielerisches Talent , indem er sich als Geliebter eines der Mädchen ausgab.. Kleine durch Küsse und Umarmungen simulierte Liebesszenen lenkten die im Zug patrouillierenden Gendarmen von den Flüchtlingen ab . Er begleitete sie auf dieser Zugfahrt bis zur Grenze des Generalgouvernement Diese zu passieren schien für seine Bekannten, die keine Dokumente bei sich hatten eine unüberwindbare Aufgabe. Trotzdem haben sie es auf eine unerklärliche Weise geschafft. Leokadia hat immer wieder betont, dass sie sich an dem stark bewachten Grenzposten nur dank der Hilfe Gottes überwinden konnte .Da sie verschiedene Reiseziele hatten , war jede von nun an auf sich selber angewiesen

Die mehrtägige Schwarzfahrt mit der Bahn brachte sie endlich in das lange ersehnte Zuhause . Ausgehungert und gestresst hoffte sie in ihrem Elternhaus endlich Ruhe zu finden . Wie naiv dieser Gedanke war , zeigte sich schon am nächsten Morgen. Früh um 5 Uhr weckte die Hausbewohner ein lautes, dauerhaftes Klopfen an der Eingangstür. Leo hatte Glück. Statt erwarteter furchterregender Gestapo-Beamten erschien vor Augen der erschrockenen Familie ein Mann aus der Nachbarschaft . Für erklärende Worte war keine Zeit . Nur für den kurzen Satz zu meiner Großmutter , welchen er mit entsetzter Stimme flüsterte : „Du musst fliehen ! Die Gestapo sucht dich . Sie werden bald hier sein !“ Kurz darauf verschwand er . Leo folgte seinem Rat und floh. Wo der Retter sein Wissen über ihre nahestehende Verhaftung herhatte, blieb für immer ein Geheimnis. Die restlichen Kriegsjahre verbrachte das 20 jährige Mädchen bei ihren Verwandten in einem Dorf bei Połaniec im heutigen Ostpolen. Dass Stanisław, den sie in ihrer Heimatstadt , von der Nachbarschaft her kannte , in einigen Jahren zu ihrem Ehemann werden sollte, hätte sie damals nie gedacht.
Stanisław Ponikowski stammte aus einer ziemlich vermögenden Familie. Seine Eltern betrieben eine Wirtschaft im Dorf Trzcianka mitten im Świętokrzyskie Gebirge unweit von Kielce. Zahlreiche Nutztiere, ein weites Ackerland, und sogar eine Mühle sorgten für ein Leben auf einem relativ hohen Niveau. 1914 brach der unheilvolle 1. Weltkrieg aus , der der ländlichen Idylle bald ein definitives Ende setzte . Als eines Tages im Familiengehöft eine Kosaken-Streife auftaucht, wird Stanisławs Vater klar, dass es sich keinesfalls um einen freundlichen Besuch handeln könnte. Er packt blitzschnell alle seine Ersparnisse und die meisten wervollen Sachen in einen Beutel und ergreift. Hals über Kopf die Flucht . In seiner großen Panik verliert er auf dem Ritt durch einen Wald unbemerkt all seine Habe Außer ihren Immobilien verlieren die Ponikowskis somit fast alles Wertvolle. Ein Weiterleben auf dem Lande bietet für sie von nun an keine guten Zukunftsaussichten. Die Eröffnung der neu erbauten staatlichen Munitionsfabrik in Skarżysko-Kamienna kommt den Verunglückten dann gerade recht. Sie verkaufen ihr Landgut, um in der industriellen Kleinstadt ein bescheidenes Haus zu kaufen. Aus angesessenen Bauern werden die Familienmitglieder nun zu Mitarbeitern der Metallindustrie. Wie es sich in Zukunft zeigen sollte, bestimmte der Betrieb den Lebensunterhalt vieler Mitglieder und sogar Generationen der Familie. Stanisław, der in seiner Schulzeit durch seine Intelligenz ein begabter und guter Schüler war, hoffte auf einen guten Bildungsweg wenigstens bis zum Abitur. Doch das übersteigt die finanziellen Möglichkeiten der verarmten Familie deutlich. So bleibt lediglich die Lehre als Tischler der Höhepunkt seiner beruflichen Karierre. Seit 1937 war sein Berufsleben – wie das der meisten Stadtbewohner – mit der PFA (Staatlichen Munitionsfabrik) verbunden. Unterbrochen wurde seine Beschäftigungszeit erst im Frühjahr 1942, als die Fabrik 1939 infolge der deutschen Besatzung Polens Eigentum des Leipziger Hasag-Konzerns geworden war. Ponikowski wurde dann zwangsläufig Werkzentrale der HASAG nach Leipzig versetzt , um den Mangel an deutschen Arbeitskräften auszugleichen welche zur deutschen Armee eingezogen worden waren. Seine Memoiren von dieser Zeit waren nicht kohärent. Vielmehr konnte man von Momentaufnahmen sprechen. Bildern, die in seiner Erinnerung sehr tief haften geblieben sind. Eines davon: das löchrige Dach in seiner Baracke seiner Baracke war besonders ausgeprägt. Weil der junge Mann auf einer Pritsche ganz oben schlief, erwachte er im Winter nicht selten mit einer feuchten Schneeschicht auf dem Oberköper. Daneben verfolgten ihn die Albträme, in deren Mittelpunkt aggressive halbwüchsige Mitglieder der Hitlerjugend standen. Gleich danach auch ein enormer Schlafmangel , die Müdigkeit der er sich nicht einmal während heftiger Bombenangriffe vonseiten der Allierten erwehren konnte. Im Mittelpunkt des Grausamen stand jedoch die Zuteilung in ein jüdisches Arbeitskommando. Infolge einer unfachlichen Bedienung einer der Maschinen in seiner Produktionsahalle ging diese kaputt.. Für die Betriebsleitung stellte das eine eindeutige Sabotageaktion dar , eine andere Erklärung erschien den Deutschen undenkbar . Zwölf Arbeiter wählte man daraufhin für eine Bestrafung aus Der junge Stanisław war unter den Ausgewählten. Somit brach für ihn die neue Lebensperiode an, für die man ein Zitat aus Witold Pileckis Auschwitz-Bericht anführen kann, was den Inhalt des Erlebten bestens wiedergibt: . „Diesen Moment meiner Geschichte sehe ich als den an, in dem ich allem Vertrauten auf der Welt Lebewohl sagte und in etwas eintrat, das nicht mehr von dieser Welt schien.“. Bald fand er heraus , dass an seiner neuen Arbeitsstelle nicht die Arbeitsleistung die entscheidende Rolle spielte , sondern es vielmehr darum ging , die Menschen durch schwerste körperliche Arbeit zu vernichten. Durch ständige Prügel bestand seine rechte Oberkörperseite aus einem riesigen Hämatom. Seine Aufgabe – schwere Wagen von einer Fabrikabteilung in eine andere weit entfernte zu ziehen oder zu schieben hat den jungen Mann bald an die Grenzen der Erträglichkeit gebracht. Ein nasses Gelände, wo die Beine bis in die Knien im Kot steckten, Gebrüll der SS-Männer machten die neue grauseme Lebensrealität aus, von der keine Flucht möglich war. Die Art und Weise wie die im Nazi-Deutschland definierte Menschenkategorie: Jude behandelt wird, macht ihn fassungslos. Er teilte das Schicksal seiner jüdischen Arbeitskollegen und trotz großen Hungers auch seine Essenrationen mit ihnen . Den diese wurden ihm trotz seiner Verbringung in dieses neue Arbeitskommando nicht gekürzt

Am 9. April 1941 fand sich auf dem Dienstschreibtisch Egon Dalskis dem Hauptchef der regionalen Filiale in der südpolnischen Kleinstadt – neben anderen Unterlagen auch eine wichtige Anleitung aus der Leipziger Zentrale. Der Fabrikvorstand in Skarżysko wurde aufgefordert binnen kurzer Zeit ungefähr 2000 polnische Arbeiter aus der polnischen Zweigstelle nach Deutschland zu versetzen. Dabei wurde angedeutet, dass man die Polen in erster Linie zu einer freiwilligen Ausreise motivieren sollte. Erst wenn sich nicht genügend Menschen gemeldet hätten, dürfte der Rekrutierungsprozess ein repressives Ausmaß annehmen. So zielte die Ansporntaktik der Besatzer vor allem darauf ab, ein fabelhaftes Bild von besseren Arbeits- und Lebensverhältnissen im Dritten Reich vorzutäuschen. Den potenziellen Freiwilligen hatte man versprochen, nach der sechs bis neunmonatigen Arbeitszeit in Sachsen, einmalige Lohnzulagen in der Höhe von 75zł für Männer und 50 zł für Frauen auszuzahlen, dazu noch regelmäßige Prämien von 10 zł für kleinere Ausgaben. Die Versprechung enthielt zugleich den Vorbehalt, dass das zusätzliche Geld ausschließlich für Ausreisewillige vorgesehen war. Die Betriebsführung leitete zugleich auch soziopsychologische Maßnahmen ein, indem sie das Gerücht verbreiten ließ, wonach man in Skarzysko in der nächsten Zeit , eine wie in anderen polnischen Städten übliche Razzia zur Zwangsrekrutierung von Arbeitskräften durchführen wolle . Gleichzeitig machte man publik , dass diese Gefangenen für die Deportation nach Leipzig bestimmt seien All die Bemühungen brachten ein überraschend gutes Ergebnis. Über 2200 Freiwillige (849 Männer und 1361 Frauen)Kandidaten zählte das eingesammelte Kontingent. Über die Hälfte davon – 1200 Leute stellten Freiwillige dar. Auch für medizinische Versorgung war gesorgt. In den Transporten welche am 16. 19. und 20 . April abfuhren , befanden sich zwei polnische Ärzte und einige Krankenschwestern . Vor der Abfahrt zur Arbeit in das Reich mussten alle Arbeiterinnen und Arbeiter eine ärztliche Untersuchung über sich ergehen lassen Die Hasag spielte den anständigen und fürsorglichen Arbeitgeber bis zum letzen Moment. Den Arbeitern zahlte man ihre Gehälter für die laufende Abrechnungsperiode aus. Dazu bekamen Sie auch Prämien in der Höhe von zwei Tageslöhnen. Für die lange Zugsfahrt nach Leipzig hat man die zahlreichen Passagiere mit Reiseproviant: Brot, Margarine, und Marmelade versorgt. Kurz vor der Abreise hatte man sogar warme Suppe serviert, während der Fahrt auch Kaffee. Die polnischen Arbeitskräfte fanden Unterkunft in betriebseigenen Lagern in Leipzig und Altenburg. Holzbaracken mit Stacheldrahtumzäunung und strenger Werkschutzbewachung waren von nun an ihr neues Zuhause. Zwar war es erlaubt, das Lagergelände nach der Arbeitszeit u.a. für Einkäufe zu verlassen, doch war der Eindruck in einem gefängnisähnlichen Arbeitslager zu leben nicht loszuwerden. In dem Buch von Alfons Walkiewicz „Tego się nie zapomina“ (Das vergisst man nicht) betont der Verfasser, für den der Aufenthalt in Leipzig nur eine von vielen traumatischen Kriegsepisoden neben Auschwitz, Steinbrucharbeit in Flossenberg, Dachau, und zermürbenden Verhören in der Radomer Gestapostelle war, in den Fragmenten über Leipzig vor allem die ungebremste Brutalität ukrainischer Werkschutzschergen. In einem besonders ergreifenden Fragment beschreibt er nicht ohne spürbares Unrechtsgefühl , wie er einmal zusammen mit seinem Kollegen aus dem Speisesaal mit einer Schüssel Suppe in seinen Schlafraum ging, um sich ein Stückchen Brot zu holen, das er nach dem Frühstück im Bett versteckt hatte.. Unglücklicherweise wurden die beiden von Angehörigen des Werkschutz entdeckt , die im Verhalten der Arbeiter ein ernsthaftes Vergehen gegen die gültigen Vorschriften der HASAG sahen . Deshalb schlugen sie auf Alfons und seinen Kameraden ein. Walkiewicz blutet am ganzen Körper, doch der Zwischenfall befreit ihn von der Arbeitspflicht natürlich nicht. Ein ähnliches Geschehen schilderte auch Stanisław Ponikowski, der mit seinem Mitbewohner mehrmals auf einem provisorischen Kocher illegal Essen zubereitete . Dabei standen eines Tages plötzlich Aufseher vor der Tür.. Für Versteckspiele blieb keine Zeit. Einer der Komplizen griff instinktiv den Topf mit heißer Brühe. Die Distanz bis zum nächsten Fenster war zu groß. Der Inhalt vom verbotenen Gefäß landete dann unter der Kleidung eines nächst sitzenden Kameraden. Schwere Verbrennungen schienen verträglicher als eine mögliche Bestrafung. Jedenfalls ließ der Verunglückte nicht mal einen leisen Aufschrei von sich hören. Hatte jemand aus der polnischen Arbeitergruppe anfangs noch die Wunschvorstellung von einem normalen Arbeitsverhältnis, musste er diese bald aufgeben . In der Produktionshalle , wo der Autor des erwähnten Buches tätig war , hängte die deutsche Betriebsführung an einer der dortigen großen Wände eine riesige Landkarte Europas auf . Nach dem Überfall auf die Sowjetunion markierte der Abteilungsleiter mit kleinen Reißzwecken flatternde Hackenkreuzfähnchen auf dieser Karte . Diese Markierungen zeigten die immer neuen Eroberungen der deutschen Armeen im Osten an. Dem jungen Polen fiel auf, dass die Beschäftigungspolitik gegenüber seinen Landsleuten mit jedem neuen Vorstoß und Sieg der deutschen Armeen immer brutaler wurde. Mehr Gebrüll war zu hören, auch viel mehr Aufrufe zur Steigerung der Arbeitseffizienz. Jedes kleinste Delikt stand unter Strafe und wurde oft in aller Öffentlichkeit vor anwesenden Arbeiten und Angestellten geahndet.. Noch am selben Tag nachdem er die Schläge erhalten hatte , ging Alfons zu seinen deutschen Vorgesetzten. Er wollte sich keineswegs beklagen. Unter Berufung auf die abgelaufene Vertragsfrist wollte er seinen Arbeitsvertrag abbrechen. Die Antwort des Vorgesetzten klang sehr laut und eindeutig, offenbarte erbarmungslos die träumerische Naivität des jungen Mannes: „Es gibt keine Verträge! Es ist Krieg!“ Der kompromisslosen Aussage folgten schwere Hand- und Ellbogenschläge ins Gesicht des gutgläubigen Antragstellers.
Seine Freiheit erlangte Stanislaw erst mit dem Einmarsch amerikanischer Truppen in Leipzig Gesundheitlich gezeichnet durch die erlittenen psychischen Belastungen und mit fibrosierten Schlüsselbein , kam er erst im Sommer 1945 nach Polen zurück . Im selben Jahr ist Leokadia zu seiner Frau geworden .