lynxx-Blog
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Der Inhaber des lynxx-Blogs hat freundlicherweise Inhalte seines Blogs Geschichte-Wissen zur Verfügung gestellt. Wir danken an dieser Stelle für diese großzügige Hilfe sehr und wünschen dem geneigten Leser bei der Lektüre viel Freude.
Was ist Dschihad und der Unterschied zum „Heiligen Krieg“? Teil 2
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Belagerung einer Stadt durch die Osmanen |
? Nachdem ich hoffentlich in dem vorigen Post schon ein wenig zur Aufklärung beigetragen habe (Was ist Dschihad und der Unterschied zum „Heiligen Krieg“? Teil 1), welches auch dazu gedient haben könnte, die Aussagen in der vorgestellten Dschihad-Doku einigermaßen korrekt einzuorden, kommt hier nun eine schon erwähnte Kapazität auf diesem Gebiet ausführlicher zu Wort: Albrecht Noth.
Er fasste 1993 einige seiner wichtigsten Erkenntnisse in diesem lesenswertem Sammelband zusammen:
Markierungen habe ich hinzugefügt, um Diagonallesern Hilfe zu bieten:
Der Dschihad: sich mühen für Gott
Ein handlich-banales Geschichtsbild
In der nichtmuslimischen, der christlichen/westlichen Welt vor allem, läßt sich eine Art Konsens darüber beobachten, was unter muslimischem Dschihad (?ih?d) zu verstehen sei. Danach handelt es sich um
– den »Heiligen Krieg« des Islam,
– eingeführt durch den Propheten Mohammed im Koran,
– abzielend auf die Ausbreitung des Islam mit Waffengewalt;
– er sei die permanente treibende Kraft für die Expansion des Islam auf Kosten anderer Religionen
– und, da ein religiöser Dauerauftrag, Grund für die Friedensunfähigkeit von Muslimen.
– Er stellt somit auch heute noch eine beachtliche Gefahr für alle Nichtmuslime dar.Diese Verbindung von banalem Geschichtsbild und handlichem Beurteilungsraster hat, soweit ich sehe, vor allem drei wesentliche Ursprungsfelder:
1. Historische Tatsachen, die man in diesem Zusammenhang anführen kann, d. h. Teile dieses Vorstellungskomplexes lassen sich – wirklich oder anscheinend – verifizieren.
2. Eine jahrhundertealte und bis heute entscheidend nachwirkende christlich-kirchliche Polemik gegen die »Kriegsreligion« Islam.
3. Aussprüche und Aktionen moderner Repräsentanten des politischen Islam, die solchen Vorstellungen entsprechen.Zum ersten Punkt kann darauf verwiesen werden, daß umfangreiche Gebiete, die bereits christianisiert waren, durch kriegerische Aktionen, die unter religiösen Aspekten standen, von muslimischer Seite dem Christentum »entrissen« worden sind, sei es endgültig (wie Syrien/Palästina, Nordafrika, Anatolien /Türkei), sei es für längere Zeit (wie Spanien, Balkan). Im übrigen ist der Dschihad tatsächlich Gegenstand der islamischen Offenbarung (Koran) und kann somit als permanenter Auftrag verstanden werden.
Punkt zwei ist vor dem Hintergrund der Tatsache zu sehen, daß sich die abendländische Christenheit immer wieder, selbst in ihren Kerngebieten, wirklich bedroht fühlen mußte (schon früh in Spanien, im Franken-Reich, später in Südosteuropa), daß ferner der Islam theologisch durchweg als eine vom Christentum/Judentum abgespaltene, durch einen sogenannten Propheten (bewußt) in die Irre geführte Sekte qualifiziert wurde, die folglich verabscheuungswürdiger war als unwissendes, somit eher »schuldloses« Heidentum. Zudem erschien der kriegührende Islam als das negative Gegenkonzept zu dem auf dem absoluten Friedensgebot basierenden Christentum.
Zu Punkt drei kann auf die Dschihad-Propaganda und auf als Dschihad bezeichnete Aktionen der jüngsten Zeit verwiesen werden. Daß heutige Vertreter des politischen Islam nicht gerade zu den differenziertesten Geistern gehören, die die muslimische Kultur hervorgebracht hat, kann einer größeren Öffentlichkeit nicht unbedingt bekannt sein. Solch populistisches »Umfunktionieren« der islamischen Dschihad-Idee ist im übrigen – angesichts des Schadens, den es der großen Majorität von andersdenkenden Muslimen zufügt – sicher zu bedauern. Sich gegen derartigen Mißbrauch zu wehren, das muß jedoch den Muslimen selbst vorbehalten bleiben. (…)
Materieller oder geistiger Dschihad?
Im Folgenden soll der Versuch gemacht werden, die weitverbreiteten Klischees vom Dschihad durch ein wirklichkeitsgetreueres Bild zu ersetzen. Dabei geht es mir – dies sei von vornherein klargestellt – am allerwenigsten um Apologetik. Ich teile z.B. in keiner Weise die Ansicht mancher, sich heute zu Wort meldender muslimischer Dschihad-Apologeten, Dschihad sei von Anbeginn und wesentlich »nur« ein allgemeines Sicheinsetzen für die Religion des Islam gewesen, konkreter Kampf dagegen eher eine »Spielart« innerhalb dieses weitgefaßten Rahmens. Zudem – und hier wird ein angeblicher Ausspruch des Propheten angeführt (Koran-Verse stehen als Belege nicht zur Verfügung) – sei der Dschihad mit der Waffe in der Hand dem geistigen Dschihad, dem Kampf gegen die bösen Kräfte der eigenen Seele, immer nachgeordnet gewesen; der innere Kampf stelle somit den eigentlichen Dschihad dar. Nein: Dschihad meint in den koranischen Offenbarungen – und daran lassen auch die frühen muslimischen Kommentatoren, die unter keinerlei Rechtfertigungszwang standen, nicht den geringsten Zweifel – eindeutig kämpferischen Einsatz gegen die sich der Annahme des Islam verschließenden polytheistischen »Ungläubigen« (auf der Arabischen Halbinsel), ein kriegerisches Vorgehen, das sich in einer Vielzahl von militärischen Unternehmungen konkretisiert hat, von denen die bedeutenderen vom Propheten selbst angeführt worden sind. Der innere Dschihad andererseits ist allem Anschein nach ein aus dem konkreten kämpferischen Dschihad nachträglich abgeleitetes Bild: Das sündhafte Verlangen der Seele zu unterdrücken erfordert Anstrengungen wie der bewaffnete Kampf gegen einen gefährlichen und hartnäckigen Feind.
Gewiß wird also keine beschönigende Apologetik das Ziel der folgenden Ausführungen sein, wohl aber der Versuch, einen Eindruck davon zu vermitteln, daß Dschihad, ein zentrales Konzept des Islam, alles andere darstellt als ein undifferenziert-emotionales Gebilde aus Kriegslust und Beutegier mit den Nichtmuslimen als Objekt und Opfer. Basis unserer Beschreibung des islamischen Dschihad-Konzepts werden Koran, islamisches religiöses Gesetz/Scharia (šar??a) und historische Ausdrucksformen und Konsequenzen von Dschihad sein. (…)
(…)
Der individuelle Kampf
Zunächst und grundlegend: Dschihad ist nicht gleich »Heiliger Krieg«. Allenfalls mit der Verwendung des Wortes »heilig« kann man sich noch abfinden, wenn klar ist, daß man damit »religiös verdienstvoll« meint. »Krieg« dagegen ist völlig irreführend, weil Dschihad eine auf das Individuum bezogene Tätigkeit bezeichnet, genau: »das sich Bemühen«, meist mit dem Zusatz »für Gottes Sache unter Einsatz von Gut und Leben«. Subjekt dieses »sich Bemühens« ist immer der einzelne Muslim, nicht etwa eine Institution wie z.B. der Staat. Die Tätigkeit Dschihad, für die es bezeichnenderweise auch keinen Plural gibt, ist somit von völlig anderer Qualität als das – im Arabischen natürlich auch vorhandene – Wort »Krieg«. Unter »Krieg« läßt sich ja wohl gemeinhin ein größeres bewaffnetes Unternehmen verstehen, das Organisation verlangt, von einer politischen Formation gleich welcher Art getragen wird, durch eines oder mehrere (Kriegs-)Ziele bestimmt und begrenzt wird; »Krieg« kann auch ein längerer Zustand werden. Nichts davon wird durch den Begriff »Dschihad« abgedeckt oder vorausgesetzt. Das »verdienstvolle Kämpfen eines Muslim für die Sache Gottes« kann natürlich mit Krieg verbunden sein, ist aber jederzeit auch außerhalb dieses Rahmens denkbar. Das Wissen von dieser Individualbezogenheit des Dschihad ist im übrigen die erste unerläßliche Voraussetzung für das Verständnis des gesamten Dschihad-Konzepts, seiner Inhalte, Ausformungen und möglichen Folgen.
Führen wir gleich hier ein zeitgenössisch-typisches Beispiel für ein eklatantes Mißverständnis an, welches daraus resultiert, daß der individualbezogene Dschihad als »Heiliger Krieg« verstanden wird: Wenn heute ein muslimischer Potentat zum Dschihad aufruft, meint das nicht mehr, als daß er Muslime, die auf ihn hören wollen, zum freiwilligen und verdienstvollen Kampf bewegen will, weil er die Voraussetzungen dafür gegeben sieht oder auch nur im Wege einer Propaganda-Kampagne solche Voraussetzungen konstruieren läßt. Mit einer »Kriegserklärung« im völkerrechtlichen Sinne hat das nicht das geringste zu tun: Adressaten eines solchen Aufrufs sind – intern! – Muslime, nicht aber ein auswärtiger Gegner. Gefolgschaft kann er im übrigen nicht erzwingen, und andererseits wären Muslime auch ohne seinen Aufruf berechtigt, »ihren Dschihad« zu betreiben, wenn sie es für richtig und dem Islam förderlich hielten.… unter Einsatz von Besitz und Leben
Das Fundament des Dschihad-Konzepts ist bekanntlich im Koran zu finden. Der historische Hintergrund der entsprechenden – gar nicht einmal sehr zahlreichen – Offenbarungen, der dann für die Zukunft das Konzept in Theorie und Praxis bestimmen sollte, läßt sich kurz zusammenfassen: Nicht lange nach der Übersiedlung, der sogenannten Hidschra (hi?ra), des Propheten und seiner Anhänger von ihrer Heimatstadt Mekka in die Oasenlandschaft Medina scheint der Prophet die Notwendigkeit gesehen zu haben, kriegerisch vor allem gegen seinen eigenen, größtenteils die Annahme des Islam ablehnenden Stamm Quraisch sowie gegen mit diesem verbündete Stammesgruppen vorzugehen. Die kriegerische Betätigung als solche zu rechtfertigen bestand nach den Maßstäben der Zeit, für die Wehrhaftigkeit und Kampfbereitschaft sehr positiv im gedanklichen Kontext von Stärke, Ehre und Ruhm gesehen wurden, kein Grund, und so erscheint in den einschlägigen koranischen Offenbarungen das Thema des »gerechten Krieges« (im Abendland: bellum iustum) nur ganz marginal. Das zentrale Problem war vielmehr, eine ausreichende Zahl von Muslimen zur Teilnahme an kriegerischen Aktionen zu bewegen; denn die Herausforderung des mächtigen Quraisch-Stammes und seiner Verbündeten war einerseits ein unkalkulierbares Risiko, und andererseits konnte Mohammed selbst in seiner Eigenschaft als Prophet – auch dies den Regeln der Zeit entsprechend – Heerfolge nicht erzwingen.
Die Folge dieser spezifischen historischen Situation zur Zeit des Propheten war, daß die den Dschihad betreffenden koranischen Offenbarungen als sehr intensive und eindringliche Werbung für die Teilnahme an kriegerischen Unternehmungen erscheinen. In diesen Zusammenhang gehört wohl auch die Verwendung der (neuen) Formulierung »dschihad (= sich bemühen/alternativ: qitâl — kämpfen) unter Einsatz von Besitz und Leben für die Sache Gottes«. Das rein physische Kämpfen wird durch seine Einordnung in den Rahmen einer generellen und bis zum Äußersten (Leben!) gehenden Opferbereitschaft für Gott spirituell überhöht, erhält damit aber auch gleichzeitig einen stärker verpflichtenden Charakter. Dazu kommen in einigen Dschihad-Offenbarungen Versprechungen und Drohungen: das Versprechen etwa, beim Tod im Kampf unter Umgehung des göttlichen Gerichts direkt in Gottes Nähe aufzusteigen (hier der Ausgangspunkt für das spätere Kriegermartyrium), oder die Drohung, sich durch Kampfverweigerung praktisch aus der Gemeinschaft der Muslime selbst auszuschließen.
Die situationsbedingte Intensität der koranischen Dschihad-Werbung hat die Frage aufkommen lassen, ob der Dschihad nicht, wie etwa das rituelle Gebet und das Ramadan-Fasten, zu den Pflichten eines jeden Muslim gerechnet werden müsse, somit einen integrierenden Bestandteil des Muslimseins darstelle. In einem Prozeß, der hier nicht weiter erläutert werden kann, hat sich schließlich bei der großen Majorität der Muslime die Meinung durchgesetzt, daß eine Verpflichtung für alle Muslime nur in Fällen extremer Gefahr gegeben sei, ansonsten Freiwilligkeit bestehe. Erst durch dieses »Splitting« wurde der Weg frei für einen religiös verdienstvollen freiwilligen Dschihad, nennen wir ihn »heiligen Kampf«. Dieser freiwillige »heilige Kampf« hat eine lange und äußerst facettenreiche Geschichte im Rahmen der muslimischen Ökumene gehabt; verweisen wir hier nur auf ein Beispiel der allerjüngsten Zeit: Türkische Muslime haben sich nach Bosnien begeben, um dort ihre Glaubensbrüder gegen die Serben zu unterstützen.Die Meinungsvielfalt der Gelehrten
In der Lebenszeit des Propheten ist Dschihad in Lehre und Praxis nur grundlegend verankert worden. Die Ausarbeitung zu einem umfangreichen und äußerst differenzierten Gesamtkonzept geschah in den ersten zwei bis drei Jahrhunderten nach dem Tode des Propheten im Rahmen des islamischen religiösen Gesetzes, der Scharia. Der Erstellung dieses Konzepts lagen die praktischen Erfahrungen der Muslime in ihren kriegerischen Auseinandersetzungen mit Nichtmuslimen, vor allem auch in der Phase der atemberaubenden muslimischen Expansion im siebten/beginnenden achten Jahrhundert, zugrunde. Zunächst in Einzelabhandlungen zum Dschihad, dann in den entsprechenden Kapiteln der umfassenden Scharia-Handbücher werden in äußerst differenzierter Form alle nur denkbaren Aspekte des Kampfes gegen Nichtmuslime nach den sich zunehmend fester etablierenden islamrechtlichen Normen diskutiert.
Charakteristisch für die Behandlung des Dschihad in der Scharia ist nun die außerordentliche Meinungsvielfalt in nahezu allen zur Debatte stehenden Sachkomplexen, so daß von dem Dschihad in dem Islam überhaupt nicht die Rede sein kann und darf, zumal auch den unterschiedlichen Normen der Scharia sehr verschiedenartige Ausformungen in der Dschihad-Praxis entsprechen. Um dies verständlich werden zu lassen, ist es notwendig, einige Worte darüber zu verlieren, wie die Scharia von Muslimen und für Muslime definiert worden ist.
Die Scharia, deren Subjekt Gott selbst – niemals ein weltlicher Gesetzgeber! – ist, hat die Aufgabe, alle Lebensumstände und Handlungen der Muslime unter dem Aspekt des »richtigen« Verhaltens zu regeln. In allen Einzelheiten ist sie jedoch nur Gott bekannt. Den Menschen hat Gott dagegen »nur« die wichtigsten Leitlinien durch die Offenbarungen des Korans und – indirekt – durch die Anweisungen und Verhaltensweisen seines Gesandten, des Propheten Mohammed, mitgeteilt. Die Einzelheiten auf der Basis dieser Leitlinien nach bestem Wissen und Gewissen festzulegen, ist Aufgabe der Gläubigen selbst, speziell der mit der Materie besonders gut vertrauten Religionsgelehrten (‚ulamâ’/fuqahâ‘). Eingeräumt wird nun – und dem dürften Erfahrungswerte zugrunde liegen -, daß auch die besten Kenner im Einzelfall bei intensivem Bemühen zu verschiedenen Ansichten über das »Richtige« gelangen können. Zu entscheiden, was in solchen Fällen das bei Gott »Richtige« ist, liegt außerhalb der menschlichen Fähigkeiten, Daher wird die Meinungsvielfalt (arab. ikhtilâf), so sie denn auf der Basis jeweils ehrlichsten Bemühens zustande kommt, als eine unvermeidbare Gegebenheit, ja als etwas Positives akzeptiert. Infolgedessen läßt sich diese Meinungsvielfalt, dieser Ikhtilâf, geradezu als ein Charakteristikum des Scharia-Schrifttums benennen, wobei sich dieser Ikhtilâf sowohl in den verschiedenen (als orthodox anerkannten) Schulrichtungen der Scharia als auch innerhalb dieser Schulrichtungen manifestieren kann. Die Dschihad-Kapitel bilden selbstredend keine Ausnahme. Wie also erscheint unter diesem Aspekt der Dschihad in der Scharia?Dschihad und Scharia
Die Behandlung des Dschihad im Scharia-Schrifttum folgt durchweg keiner Systematik in dem Sinne, daß man »logisch« aus allgemeinen Grundsätzen die Spezifika fortschreitend entwickelt, man geht vielmehr gleichsam »historisch« vor: Nach einer kurzen einleitenden Diskussion über die Grundlegung von Dschihad zur Zeit des Propheten erscheint als Richtlinie und Ordnungsprinzip der weiteren Ausführungen und Überlegungen die abstrahiert-idealisierte Form des Ablaufs eines kriegerischen Unternehmens (gegen Nichtmuslime), von der Bestellung eines Anführers und der Bestimmung des Teilnehmerkreises bis (in der Regel) zum Friedensschluß samt dessen Konsequenzen. Innerhalb dieses weitgespannten Rahmens werden dann alle »normalen« oder auch möglichen Situationen, denen die kämpfenden Muslime begegnen können, gewissermaßen »durchgespielt« und das jeweils »richtige« Verhalten – auch und gerade durch Heranziehen einer Fülle von Fallbeispielen – diskutiert und zu bestimmen versucht. Hierbei werden von den verschiedenen Scharia-Schulen, aber durchaus auch innerhalb ein und derselben Schulrichtung, bisweilen stark divergierende Meinungen vertreten, der oben charakterisierte Ikhtilâf ist ein markant in Erscheinung tretendes Element der Diskussion. Im geschilderten Rahmen werden nun – grob skizziert und ohne daß die Reihenfolge genau festläge – folgende Sachzusammenhänge thematisiert:
– Historische Grundlegung von Dschihad und die Frage von Pflicht und Freiwilligkeit,
– Führungsfragen und Teilnahmeberechtigung,
– das Verhalten während der kriegerischen Aktionen (ius in bello),
– das Verfahren mit den mobilen und immobilen Vermögenswerten, die den Muslimen durch Kampf zugefallen sind,
– die verschiedenen Arten von nichtmuslimischen Gegnern, vor allem: Mit wem darf man Verträge schließen, mit wem nicht?
– Kampf gegen »aufrührerische« Muslime,
– Friedensformen und Friedensfolgen:– Vertragsschlüsse mit Nichtmuslimen, die als Minderheiten in die muslimische Ökumene integriert werden können – im wesentlichen die Anhänger von Offenbarungsreligionen -, ihre Pflichten und Rechte,
– mögliche Friedensschlüsse mit Nichtmuslimen, die nicht unterworfen werden können,
– die Rechtsstellung von Muslimen, die sich in Friedenszeiten auf nichtmuslimischem Territorium aufhalten (z.B. Kaufleute) und umgekehrt.Dschihad und Frieden
Bereits dieser sehr grobe Überblick über die Themenbereiche, die unter Dschihad rubriziert werden, dürfte dies deutlich werden lassen: Für Muslime stellt sich Dschihad als ein außerordentlich umfangreicher und differenzierter Komplex von Rechtsfragen und Lösungsvorschlägen dar, ein Komplex zudem, der – nota bene! – auch in keineswegs marginaler Form den Frieden und dessen Konsequenzen mit einschließt, ja beide als integrierende Bestandteile der rechtlichen Diskussion betrachtet. (…)
Nun sind allerdings die Friedensformen, auf die die Dschihad-Diskussion der Scharia gleichsam konzentrisch zuläuft, durchweg verschiedene Varianten einer Pax Islamica. Diese Varianten aber zeichnen sich durch einen erstaunlichen Realismus und eine hohe Flexibilität aus. Zunächst einmal ist man sich in der Scharia-Diskussion – bei allem Ikhtilâf in Einzelfragen – einig, daß das alleinige Ziel des Dschihad der Muslime nicht die Konversion der Gegner zum Islam sein kann und darf. Als Ziel des Dschihad erscheinen vielmehr die Erhaltung, Stärkung und Erweiterung der muslimischen Ökumene. Letzterer ist sicherlich auch mit der Konversion der Gegner gedient, aber auf der Basis von Koran 9:29 und der Praxis des Propheten selbst steht noch eine andere Möglichkeit zur Verfügung: Nichtmuslime werden in die muslimische Ökumene integriert, indem sie sich in einem (islamrechtlich geschützten!) Unterwerfungsvertrag zu einer Abgabe (?izya) verpflichten und dafür von den Muslimen eine Schutzgarantie für Leben, Besitz und freie Ausübung ihrer Religion erhalten. Vertragsfähig in diesem Sinne waren ursprünglich nur Christen und Juden, doch läßt sich – der immer präsente Ikhtilâf ist dabei allerdings in Rechnung zu stellen! – eine majoritäre Tendenz erkennen, die Anhänger aller etablierten Religionen als potentielle Vertragspartner anzuerkennen. Hier spiegelt sich in der Scharia ohne Frage die Praxis der Dschihad-Kämpfer während der muslimischen Expansion des 7. bis 8. Jahrhunderts wider, die von der Vertragsoption extensiv Gebrauch gemacht haben, ein Verhalten, durch welches sich wohl in erster Linie Schnelligkeit, Weiträumigkeit und Dauerhaftigkeit der muslimischen Erfolge erklären dürfte, welches aber eben auch dazu führte, daß die Bevölkerung der muslimischen Ökumene im ersten muslimischen Jahrhundert teilweise bis zu 90 % nichtmuslimisch gewesen ist.
Dschihad und Camp David
Darüber hinaus kennt die Dschihad-Scharia aber auch die Möglichkeit, die Feindseligkeiten gegenüber Nichtmuslimen einzustellen, wenn diese nicht bezwingbar sind, somit außerhalb der muslimischen Ökumene verbleiben. Die Wahrung muslimischer Belange (letztlich auch: Pax Islamica!) muß auch in Zeiten muslimischer Unterlegenheit möglich sein. Von einer selbstvernichtenden Opferbereitschaft um jeden Preis ist – auch mit Bezug auf das Koranwort: »und stürzt euch nicht mit eigenen Händen ins Verderben« – Abstand zu nehmen. Leitender Aspekt ist in solchen Fällen das Gemeinwohl (maslaha), und dies kann auch Friedensschlüsse nach außen notwendig machen, bis hin zur Tributzahlung durch Muslime. Erwartungsgemäß begegnen wir auch in diesen Zusammenhängen mannigfachem Ikhtilâf, der sich auf die Feststellung und Begründung von Gemeinwohl im Einzelfall zu beziehen pflegt. Ein Beispiel aus neuerer Zeit: Der Camp-David-Frieden mit Israel ist durch ein scharia-rechtliches Gutachten der in Rechtsfragen einflußreichen ägyptischen al-Azhar-Universität überzeugend für zulässig erklärt worden. Allerdings ließen sich auch Gegenmeinungen scharia-rechtlich untermauern! Daß im übrigen auch langfristige Friedenszustände nach außen aus dem Dschihad-Konzept ableitbar sind, hat sich in der muslimischen Geschichte immer wieder gezeigt, so im Verhältnis zum Byzantinischen Reich oder zu Kreuzfahrerstaaten. Schließlich setzt ja die Dschihad-Scharia selbst derartige Friedenszustände voraus, wenn sie – wie oben erwähnt – den wechselseitigen Aufenthalt von Kaufleuten auf muslimischem und nichtmuslimischem Territorium – in Friedenszeiten! – in extenso thematisiert.
Das islamische Dschihad-Konzept, ein sehr differenzierter Regelungskomplex für den als religiös verdienstvoll angesehenen Kampf des einzelnen Muslim zur Verteidigung und Stärkung des Islam, ein Regelwerk zudem, welches – in beträchtlicher Meinungsvielfalt – das »richtige« Verhalten des Dschihad-Kämpfers (oder eben auch größerer Gruppen von diesen) in allen denkbaren Situationen des Kampfes gegen Nichtmuslime bis hin zum Friedensschluß diskutiert, hat weder die Zwangskonversion noch die Vernichtung der Nichtmuslime im Blick. Ziel ist vielmehr die jeweils günstigste (aus muslimischer Sicht) Pax Islamica, die situationsbedingt sehr verschiedene Formen haben kann. Die Schaffung der Möglichkeit, daß nichtmuslimische Minderheiten jahrhundertelang – rechtlich geschützt – in einer muslimischen Umgebung bei freier Religionsausübung (mehr als) überleben konnten, dürfte dabei eine der bedeutsamsten historischen Auswirkungen dieses Dschihad-Konzepts gewesen sein.
Heute folgen Kriege in muslimischen Ländern gewiß nicht mehr scharia-rechtlichen Normen; Zwänge und Gesetze ganz anderer Art bestimmen deren Zustandekommen und Verlauf. Unter zwei Aspekten kann allenfalls die ältere Dschihad-Tradition mitunter noch bemüht werden:
1. In extremen Situationen, dann etwa, wenn sich die Gemeinschaft der Muslime als solche bedroht fühlt oder durch Propaganda der Eindruck erweckt werden kann, dies sei der Fall, kann durch Aufrufe zum freiwilligen »heiligen Kampf« eine Emotionalisierung und ein Mobilisierungseffekt erzielt werden, der aber in der Regel militärisch nur von geringer Bedeutung ist. Im Umfeld des Golfkrieges hatten wir es mit derartigen Erscheinungen zu tun. Bemerkenswert war seinerzeit allerdings auch der Ikhtilâf: Die muslimischen Gegner Saddam Husseins konnten – islamrechtlich fundiert – nachweisen, daß eine Dschihad-Situation überhaupt nicht gegeben sei.
2. Maßnahmen und Entscheidungen im Bereich von »Krieg/Frieden« werden mitunter sekundär islamrechtlich begründet und/oder abgesichert. Sie können damit auch einer strenggläubig muslimischen Bevölkerung als mit der Religion in Einklang und akzeptabel dargestellt werden. Das oben erwähnte al-Azhar-Gutachten zu Camp David gehört in diesen Zusammenhang. (…)
Ich denke, mit diesen beiden Postings sollte nun einigemaßen Klarheit bei der Verwendung des Begriffs „Dschihad“ herrschen, und jeder Diskussion mit gelassener Souveränität und Fachkenntnis begegnet werden.
Wer sich noch intensiver mit der Thematik beschäftigen möchte, der kann im Blog Al-Sharq mal diese (2-teilige) Hausarbeit eines angehenden Islamwissenschaftlers anschauen: