Gylfaginning – Gylfis Verblendung

1) König Gylfi beherrschte das Land, das nun Swithiod (Schweden) heißt. Von ihm wird gesagt, daß er einer fahrenden Frau zum Lohn der Ergötzung durch ihren Gesang ein Pflugland in seinem Reich gab, so groß als vier Ochsen pflügen könnten Tag und Nacht. Aber diese Frau war vom Asengeschlecht; ihr Name war Gefion. Sie nahm aus Jötunheim vier Ochsen, die sie mit einem Jötunen erzeugt hatte, und spannte sie vor den Pflug. Da ging der Pflug so mächtig und tief, daß sich das Land löste, und die Ochsen es westwärts ins Meer zogen, bis sie in einem Sund still stehen blieben. Da setzte Gefion das Land dahin, gab ihm Namen und nannte es Selund (Seeland). Und da, wo das Land weggenommen worden war, entstand ein See, den man in Schweden nun Löger (Mälar) heißt. Und im Löger liegen die Buchten so wie die Vorgebirge in Seeland. So sagt Bragi der alte:

Gefion nahm von Gylfi fröhlich, dem goldreichen,
Die rennenden Rinder rauchten, den Zuwachs Dänemarks.
Vier Häupter, acht Augen hatten die Ochsen,
Die das Erdstück schleppten zu dem schönen Eiland.

2) König Gylfi war ein weiser Mann und zauberkundig. Er wunderte sich sehr, daß der Asen Volk so vielkundig sei, daß alles nach ihrem Willen ginge. Er dachte nach, ob dies von ihrer eigenen Kraft ge­schehen könne, oder ob da die Macht der Götter walte, welchen sie opferten. Er unternahm eine Reise nach Asgard, fuhr aber heimlich, indem er die Gestalt eines alten Mannes annahm und so sich hehlte. Aber die Weisheit der Asen, die in die Zukunft blicken, überwog und da sie um seine Fahrt wußten bevor er kam, empfingen sie ihn mit einem Blendwerk. Als er in die Burg kam, sah er eine hohe Halle, daß er kaum darüber wegsehen vermochte. Das Dach war mit goldenen Schildern belegt wie mit Schindeln. So sagt Thiodolf von Hwin, daß Walhall mit Schilden gedeckt sei:

Das Dach deckten denkende Künstler,
Steinschilde schimmerten über dem Saale Odins.

Am Tor der Halle sah Gylfi einen Mann, der mit Messern spielte, so daß sieben zugleich in der Luft waren. Dieser fragte ihn nach seinem Namen. Er nannte sich Gangleri und sagte, er komme aus unwegsa­mer Ferne und bitte um Nachtherberge; auch fragte er, wem die Halle gehöre. Jener antwortete, sie gehöre ihrem König: „Ich will dich zu ihm begleiten: da magst du ihn selbst um seinen Namen fragen.“ Alsbald ging der Mann ihm voraus in die Halle: er folgte ihm nach und dicht hinter seinen Fersen schlug die Türe zu. Da sah er viele Gemächer und eine Menge Volk: einige spielten, einige zechten, andere übten sich in den Waffen. Er sah sich um, und vieles von dem was er sah, schien ihn unglaublich. Da sprach er:

Ehe du eingehst des Ausgangs halber
Stelle dich sicher.

Du weißt nicht gewiß, ob Widersacher
Nicht im Hause halten.

Er sah drei Hochsitze, einen über dem andern, und auf jedem saß ein Mann. Er fragte, wie die Namen dieser Häuptlinge wären. Sein Führer antwortete: der in dem untersten Hochsitz sitze, sei ein König und heiße Har (der Hohe); der im nächsten heiße Jafnhar (der Ebenhohe), und der im obersten heiße Thridi (der Dritte). Da fragte Har den Ankömmling, was er zu werben komme, und fügte hinzu, Essen und Trinken stehe für ihn bereit wie für alle in Hars Halle. Er sagte aber, zuvor wolle er fragen, ob es da wohl einen weisen Mann gebe. Har sagte, er komme nicht heil heraus, wenn er nicht weiser sei.

„Steh Du, indem du fragst;

Der Antwort sagt, soll sitzen.“

3) Da hub Gangleri an zu sprechen: Wer ist der höchste und älteste aller Götter? Har sagte: Allvater heißt er in unserer Sprache und im alten Asgard hatte er zwölf Namen. Der erste ist Allvater, der andere Herran oder Herian, der dritte Nikar oder Hnikar, der vierte ist Nikuz oder Hnikud, der fünfte Fiölnir, der sechste Oski, der siebente Omi, der achte Biflidi oder Biflindi, der neunte Swidur, der zehnte Swidrir, der elfte Widrir, der zwölfte Jalg. Da fragte Gangleri: Wo ist dieser Gott, und was vermag er? Oder was hat er Großes getan?

Har sagte: Er lebt durch alle Zeitalter und beherrscht sein ganzes Reich und waltet aller Dinge, großer und kleiner. Da sprach Jafnhar: Er schuf Himmel und Erde und die Luft und alles, was darin ist. Da sprach Thridi: Das ist das wichtigste, daß er den Menschen schuf und gab ihm den Geist, der leben soll und nie vergehen, wenn auch der Leib in der Erde fault oder zu Asche verbrannt wird. Auch sollen alle Menschen leben, die wohlgesittet sind, und mit ihm sein an dem Orte, der Gimle heißt oder Wingolf. Aber böse Menschen fahren zu Hel und danach gen Niflheim; das ist unten in der neunten Welt. Da fragte Gangleri: Was tat er, bevor Himmel und Erde geschaffen waren? Har antwortete: Da war er bei den Hrimthursen (Frostrie­sen).

4) Gangleri fragte: Wie ward die Welt, wie entstand sie, und was war zuvor? Har antwortete: So heißt es in der Völuspa:

Einst war das Alter, da alles nicht war,
Nicht Sand noch See noch salzige Wellen,
Nicht Erde fand sich noch Überhimmel,
Gähnender Abgrund und Gras nirgends.

Da sprach Jafnhar: Manches Zeitalter vor der Erde Schöpfung war Nifelheim entstanden; in dessen Mitte liegt der Brunnen, Hwergelmir („der in kesselförmiger Vertiefung Rauschende“) genannt. Daraus entspringen die Flüsse mit Namen Swöl, Gunnthra, Fiorm, Fimbul, Thul, Slid und Hrid, Sylg und Ylg, Wid, Leiptr; Giöll ist der nächste beim Höllentor. Da sprach Thridi: Vorher aber war im Süden eine Welt, Muspel geheißen: die ist hell und heiß, so daß sie flammt und brennt und allen unzugänglich ist, die da nicht heimisch sind und keine Wohnung da haben. Surtr ist er geheißen, der an der Grenze des Landes sitzt und es beschützt: er hat ein flammendes Schwert und am Ende der Welt wird er kommen und heeren und alle Götter besiegen und die ganze Welt in Flammen verbrennen. So heißt es in der Völuspa:

Surt fährt von Süden mit flammendem Schwert,
Von seiner Klinge scheint die Sonne der Götter.
Steinberge stürzen, Riesinnen straucheln,
Zu Hel fahren Helden, der Himmel klafft.

5) Gangleri fragte: Was begab sich, bevor die Geschlechter wurden und Menschenvolk sich ausbreitete? Har antwortete: Als die Fluten, welche Eliwagar heißen, soweit von ihrem Ursprung kamen, daß der Giftstrom in ihnen erstarrte wie der Sinter, der aus dem Feuer fällt, ward er in Eis verwandelt. Und da dies Eis stille stand und stockte, da fiel der Dunst darüber, der von dem Gifte kam und gefror zu Eis, und so legte eine Eislage sich über die andere bis in Ginnungagap. Da sprach Jafnhar: Die Seite von Ginnungagap, welche nach Nor­den gerichtet ist, füllte sich an mit einem schweren Haufen Eis und Schnee und darin herrschte Sturm und Ungewitter; aber der südliche Teil von Ginnungagap war milde von den Feuerfunken, die aus Muspelheim herüberflogen. Da sprach Thridi: So wie die Kälte von Nifelheim kam und alles Ungestüm, so war die Seite, die nach Muspelheim sah, warm und licht, und Ginnungagap dort so lau wie windlose Luft, und als die Glut auch dem Reif begegnete also daß er schmolz und sich in Tropfen auflöste, da erhielten die Tropfen Leben durch die Kraft dessen, der die Hitze sandte. Da entstand ein Menschengebild, das Ymir genannt ward; aber die Hrimthursen (Fro­striesen) nennen ihn Örgelmir, und von ihm kommt das Geschlecht der Hrimthursen, wie es in der kleinen Völuspa heißt:

Von Widolf stammen die Walen alle,
Alle Zauberer sind Wilmeidis Erzeugte,
Die Sudkünstler stammen von Swarthöfdi,
Aber von Ymir alle die Riesen.

Und der Riese Wafthrudnir sagt auf die Frage:

Woher Örgelmir kam den Kindern der Riesen
Zuerst, der allwissende Jote?

Als Antwort:

Aus den Eliwagar fuhren Eitertropfen

Und wuchsen bis ein Riese ward.

Unsre Geschlechter kamen alle daher:

Drum sind sie unhold immer.

Da fragte Gangleri: Wie wurden die Geschlechter von ihm ausge­breitet? Oder wie geschahs, daß mehr geschaffen wurden? Oder hältst du ihn für einen Gott, von dem du gesprochen hast? Da antwortete Har: Wir halten ihn mitnichten für einen Gott: er war böse wie alle von seinem Geschlecht, die wir Hrimthursen nennen. Es wird erzählt, als er schlief, fing er an zu schwitzen: da wuchs ihm unter seinem linken Arm Mann und Weib und sein einer Fuß zeugte einen Sohn mit dem anderen. Und von diesen kommt das Geschlecht der Hrimthursen; den alten Hrimthurs aber nennen wir Ymir.

6) Da fragte Gangleri: Wo wohnte Ymir? Oder wovon lebte er? Har antwortete: Als das Eis auftaute und schmolz, entstand die Kuh, die Audhumla hieß, und vier Milchströme rannen aus ihrem Euter; davon ernährte sich Ymir. Da fragte Gangleri: Wovon nährte die Kuh sich? Har antwortete: Sie beleckte die Eisblöcke, die salzig waren, und den ersten Tag, da sie die Steine beleckte, kam aus den Steinen am Abend Menschenhaar hervor, den andern Tag eines Mannes Haupt, den dritten Tag war es ein ganzer Mann, der hieß Buri. Er war schön von Angesicht, groß und stark und gewann einen Sohn, der Bör hieß. Der vermählte sich mit Bestla, der Tochter des Riesen Bölthorn; da gewannen sie drei Söhne:

der eine hieß Odin, der andere Wili, der dritte We. Und das ist mein Glaube, daß dieser Odin und seine Brüder Himmel und Erde beherrschen.

7) Da fragte Gangleri: Wie vertrugen sich diese mit Ymir, und welcher war der Stärkere? Har antwortete: Börs Söhne töteten den Riesen Ymir, und als er fiel, da lief so viel Blut aus seinen Wunden, daß sie darin das ganze Geschlecht der Hrimthursen ertränkten bis auf einen, der mit den Seinen davon kam: den nennen die Riesen Bergelmir. Er bestieg mit seinem Weib ein Boot (Wiege) und rettete sich so, und von ihm kommt das (neue) Hrimthursengeschlecht, wie hier gesagt ist:

Im Anfang der Zeiten vor der Erde Schöpfung
Ward Bergelmir geboren.

Des gedenk ich zuerst, daß der altkluge Riese
Im Boot geborgen ward.

8) Da fragte Gangleri: Was richteten die Söhne Börs aus, daß du sie für Götter hältst? Har antwortete: Davon ist nicht wenig zu sagen. Sie nahmen Ymir und warfen ihn mitten in Ginnungagap und bilde­ten aus ihm die Welt: aus seinem Blut Meer und Wasser; aus seinem Fleisch die Erde; aus seinen Knochen die Berge, und die Steine aus seinen Zähnen, Kinnbacken und zerbrochenem Gebein. Da sprach Jafnhar: Aus dem Blut, das aus seinen Wunden geflossen war, mach­ten sie das Weltmeer, festigten die Erde darin und legten es im Kreis um sie her, also daß es die meisten unmöglich dünken mag, hinüber zu kommen. Da sprach Thridi: Sie nahmen auch seinen Hirnschädel und bildeten den Himmel daraus, und erhoben ihn über die Erde mit vier Ecken oder Hörnern, und unter jedes Horn setzten sie einen Zwerg; die heißen Austri, Westri, Nordri, Sudri. Dann nahmen sie die Feuerfunken, die von Muspelheim ausgeworfen umherflogen, und setzten sie an den Himmel, oben sowohl als unten, um Himmel und Erde zu erhellen. Sie gaben auch allen Lichtern ihre Stelle, einigen am Himmel, andere lose unter dem Himmel und setzten einem jeden seinen bestimmten Gang fest, wonach Tage und Jahre berechnet werden. So wird in alten Sagen erzählt und so heißt es in der Völuspa:

Die Sonne wußte nicht wo sie Sitz hätte,
Der Mond wußte nicht was er Macht hätte,
Die Sterne wußten nicht wo sie Stätte hatten.

Da sagte Gangleri: Das sind merkwürdige Dinge, die ich da höre; ein großes Gebäude ist das und sehr künstlich gebildet. Wie war die Erde beschaffen? Har antwortete: Sie ist außen kreisrund und rings umher liegt das tiefe Weltmeer. Und längs den Seeküsten jenseits gäben sie den Riesengeschlechtern Wohnplätze, und nach innen rund um die Erde machten sie eine Burg wider die Anfälle der Riesen, und zu dieser Burg verwendeten sie die Augenbrauen Ymir des Riesen und nannten die Burg Midgard. Sie nahmen auch sein Gehirn und warfen es in die Luft und machten die Wolken daraus, wie hier gesagt ist:

Aus Ymirs Fleisch ward die Erde geschaffen,

Aus dem Schweiße die See,

Aus dem Gebein die Berge, die Bäume aus dem Haar,

Aus der Hirnschale der Himmel.

Aus den Augenbrauen schufen gütge Asen

Midgard den Menschensöhnen;

Aber aus seinem Hirn sind alle hartgemuten

Wolken erschaffen worden.

9) Da sprach Gangleri: Großes dünken sie mich vollbracht zu haben, da sie Himmel und Erde geschaffen, die Sonne und das Gestirn geordnet, und Tag und Nacht geschieden hatten; aber woher kamen die Menschen, welche die Erde bewohnen? Har antwortete: Als Börs Söhne am Seestrand gingen, fanden sie zwei Bäume. Sie nahmen die Bäume und schufen Menschen daraus. Der erste gab Geist und Leben, der andere Verstand und Bewegung, der dritte Antlitz, Spra­che, Gehör und Gesicht. Sie gaben ihnen auch Kleider und Namen: den Mann nannten sie Ask und die Frau Embla, und von ihnen kommt das Menschengeschlecht, welchem Midgard zur Wohnung verliehen ward. Danach bauten sie sich eine Burg mitten in der Welt und nannten sie Asgard, die nennen wir Troia (anm. Troiaburg = der germanische Name für multiple prähistorische Wallanlagen). Da wohnten die Götter und ihr Geschlecht und manches trug sich da zu, davon erzählt wird auf Erden und in den Lüften. In der Burg ist ein Ort, der Hlidskialf heißt, und wenn Odin sich da auf den Hochsitz setzt, so übersieht er alle Welten und aller Menschen Tun und weiß alle Dinge, die da geschehen. Seine Hausfrau heißt Frigg, Fiörgwins Tochter, und von ihrem Geschlecht ist der Stamm entsprungen, den wir das Asengeschlecht nennen, welches das alte Asgard bewohnte und die Reiche, die dazu gehören, und das ist das Geschlecht der Götter. Und darum mag er Allvater heißen, weil er der Vater ist aller Götter und Menschen und alles dessen, was er durch seine Kraft hervorgebracht hat. Jörd war seine Tochter und seine Frau und von ihr gewann er einen erstgebornen Sohn: das ist Asathor; ihm folgen Kraft und Stärke, daß er siegt über alles Lebendige.

10) Norwi oder Narfi hieß ein Riese, der in Jötunheim wohnte; er hatte eine Tochter, die hieß Nacht (Nott) und war schwarz und dunkel wie ihr Geschlecht. Sie ward einem Manne vermählt, der Naglfari hieß: der beiden Sohn war Aud. Danach ward sie einem namens Onar (Annar) vermählt; beider Tochter hieß Jörd. Ihr letzter Gemahl war Delling, der vom Asengeschlecht war. Ihr Sohn Tag (Dagr) war schön und licht nach seiner väterlichen Herkunft. Da nahm Allvater die Nacht und ihren Sohn Tag und gab ihnen zwei Rosse und zwei Wagen und setzte sie an den Himmel, daß sie damit alle zweimal zwölf Stunden um die Erde fahren sollten. Die Nacht fährt voran mit dem Rosse, das Hrimfaxi (reifmähnig) heißt, und jeden Morgen betaut es die Erde mit dem Schaum seines Gebisses. Das Roß, womit Tag fährt, heißt Skinfaxi (lichtmähnig) und Luft und Erde erleuchtet seine Mähne.

11) Da fragte Gangleri: Wie leitet er den Lauf der Sonne und des Mondes? Har antwortete: Ein Mann hieß Mundilföri, er hatte zwei Kinder. Sie waren hold und schön: da nannte er den Sohn Mond (Mani) und die Tochter Sonne (Sol), und vermählte sie einem Manne, Glen genannt. Aber die Götter, die ihr Stolz erzürnte, nah­men die Geschwister und setzten sie an den Himmel, und hießen Sonne die Hengste führen, die den Sonnenwagen zogen, welchen die Götter, um die Welt zu erleuchten, aus den Feuerfunken geschaffen hatten, die von Muspelheim geflogen kamen. Die Hengste hießen Arwakr (Frühwach) und Alswid (Allklug), und unter ihren Bug setzten die Götter zwei Blasebälge, um sie abzukühlen, und in einigen Liedern heißen sie Isarnkol (Eisenkühle). Mani leitet den Gang des Mondes und herrscht über Neulicht und Volllicht. Er nahm zwei Kinder von der Erde, Bil und Hiuki genannt, da sie von dem Brunnen Byrgir kamen, und den Eimer auf den Achseln trugen; der heißt Säg und die Eimerstange Simul. Widfinnr heißt ihr Vater; diese Kinder gehen hinter dem Monde her, wie man noch von der Erde aus sehen kann. (Anm. Bil und Hiuki = Mondflecken)

12) Da fragte Gangleri: Die Sonne fährt schnell, fast als wenn ihr bange wäre. Sie könnte ihren Gang nicht mehr beschleunigen, wenn sie für ihr Leben fürchtete. Da antwortete Har: Das ist nicht zu verwundern, daß sie so schnell fährt, denn ihr Verfolger ist nah, und sie kann sich nicht anders fristen, als daß sie ihre Fahrt beschleunigt. Da fragte Gangleri: Wer ist es, der sie so in Angst setzt? Har antwor­tete: Das sind zwei Wölfe; der eine, der sie verfolgt, heißt Sköll: sie fürchtet, daß er sie greifen möchte; der andere heißt Hati, Hrodwitnirs Sohn, der läuft vor ihr her und will den Mond packen, was auch geschehen wird. Da fragte Gangleri: Von welcher Herkunft sind diese Wölfe? Har antwortete: Ein Riesenweib wohnt östlich von Midgard in dem Wald, der Jarnwid (Eisenholz) heißt. In diesem Walde wohnen die Zauberweiber, die man Jarnwidiur (Urwaldriesin) nennt. Jenes alte Riesenweib gebiert viele Riesenkinder, alle in Wolfsgestalt und von ihr stammen die Wölfe. Es wird gesagt, der Mächtigste dieses Geschlechts werde der werden, welcher Managarm (Mondhund) heißt. Dieser wird mit dem Fleisch aller Menschen, die da sterben, gesättigt; er verschlingt den Mond und überspritzt den Himmel und die Luft mit seinem Blut; davon verfinstert sich der Sonne Schein und die Winde brausen und sausen hin und her. So heißt es in der Völuspa:

Östlich sitzt die Alte im Eisengebüsch

Und füttert dort Fenrirs Geschlechts.

Von ihnen allen wird eins das schlimmste:

Des Mondes Mörder übermenschlicher Gestalt.

Ihn mästet das Mark gefällter Männer,

Der Seligen Saal besudelt das Blut.

Der Sonne Schein dunkelt in kommenden Sommern;

Alle Wetter wüten; wißt ihr, was das bedeutet?

13) Da fragte Gangleri: Wo geht der Weg vom Himmel zur Erde? Har antwortete und lachte: Nun hast du unklug gefragt. Hast du nicht gehört, daß die Götter eine Brücke machten vom Himmel zur Erde, die Bifröst heißt? Die wirst du gewiß gesehen haben; aber vielleicht nennst du sie Regenbogen. Sie hat drei Farben und ist sehr stark und mit mehr Kunst und Verstand gemacht als andere Werke. Aber so stark sie auch ist, so wird sie doch zerbrechen, wenn Muspels Söhne kommen, darüber zu reiten; und ihre Pferde müssen über große Ströme schwimmen. Da sprach Gangleri: Nicht dünkte es mich, daß die Götter die Brücke so fest gemacht haben, wenn sie zerbrechen mag; sie konnten sie doch so fest machen als sie wollten. Da antwortete Har: Die Götter haben keinen Tadel verdient wegen dieses Werkes. Bifröst ist eine gute Brücke; aber kein Ding in der Welt mag bestehen bleiben, wenn Muspels Söhne geritten kommen.

14) Da fragte Gangleri: Was tat Allvater, als Asgard gebaut war? Har antwortete: Zuvörderst setzte er Richter ein, die über das Schicksal der Leute entscheiden und die Einrichtungen in der Burg bewahren sollten. Das war an dem Orte, der Idafeld heißt, mitten in der Burg. Ihr erstes Geschäft war, einen Hof zu bauen, worin ihre Stühle standen, zwölf an der Zahl und überdies ein Hochsitz für Allvater. Es ist das beste und größte Gebäude der Welt, außen sowohl als innen von lauterem Gold. Diese Stätte nennt man Gladsheim (Welt der Wonnen). Sie bauten noch einen anderen Saal, da war die Wohnung der Göttinnen. Dieses Haus war auch sehr schön und die Menschen nennen es Wingolf. Danach legten sie Schmiedeöfen an, und machten sich dazu Hammer, Zange und Amboß und hernach damit alles andere Werk­gerät. Darauf verarbeiteten sie Erz, Gestein und Holz und eine so große Menge des Erzes, das Gold genannt wird, daß sie alles Haus­gerät von Gold hatten. Und diese Zeit heißt das Goldalter: es ver­schwand aber bei der Ankunft gewisser Frauen, die aus Jötunheim kamen. Danach setzten sich die Götter auf ihre Hochsitze und hiel­ten Rat und Gericht, und gedachten, wie die Zwerge belebt würden im Staub und in der Erde gleich Maden im Fleisch. Die Zwerge waren zuerst erschaffen worden und hatten Leben erhalten in Ymirs Fleisch und waren da Maden. Aber nun nach dem Ausspruch der Götter erhielten sie Menschenwitz und Menschengestalt und wohn­ten in der Erde und im Gestein. Modsognir hieß einer dieser Zwerge und ein anderer Durin, wie es in der Völuspa heißt:

Da gingen die Berater zu den Richterstühlen,

Hochheilge Götter hielten Rath,

Wer schaffen sollte der Zwerge Geschlecht

Aus des Meerriesen Blut und blauen Gliedern.

Da ward Modsognir der mächtigste

Dieser Zwerge, und Durin nach ihm.

Manche noch machten sie menschengleich

Der Zwerge von Erde wie Durin angab.

Und dieses, heißt es, sind die Namen dieser Zwerge:

Nyi und Nidi,   Nordri und Sudri,

Austri und Westri,   Althiof, Dwalin,

Nar und Nain,   Nipingr, Dain,

Biwör, Bawör,   Bömbör, Nori,

Ori, Onar,   Oin, Modwitnir,

Wigr und Gandalfr,   Windalfr, Thorin,

Fili, Kili,   Fundin, Wali,

Thror, Throin,   Theckr, Litr, Witr,

Nyr, Nyradr,   Reckr, Radswidr.

Und diese sind auch Zwerge und wohnen im Gestein wie jene in der Erde:

Draupnir, Dolgthwari,   Hör, Hugstari,

Hlediofr, Gloin,   Dori, Ori,

Dufr, Andwari,   Hepti, Fili,

Har, Siar.

Aber folgende kamen von Swarins Hügel gen Örwang auf Jöruwall, und von ihnen stammt Lofars Geschlecht. Dieß sind ihre Namen:

Skirfir, Wirfir,   Skafidr, Ai,

Alfr, Ingi,   Eikinskialdi,

Falr, Frosti,   Fidr, Ginnar.

15.) Da fragte Gangleri: Wo ist der Götter vornehmster und heiligster Aufenthalt? Har antwortete: Das ist bei der Esche Yggdrasils: da sollen die Götter täglich Gericht halten. Da fragte Gangleri: Was ist von diesem Ort zu berichten? Da antwortete Jafnhar: Diese Esche ist der gröste und beste von allen Bäumen: seine Zweige breiten sich über die ganze Welt und reichen hinauf über den Himmel. Drei Wurzeln halten den Baum aufrecht, die sich weit ausdehnen: die eine zu den Asen, die andere zu den Hrimthursen, wo vormals Ginnungagap war; die dritte steht über Niflheim, und unter dieser Wurzel ist Hwergelmir und Nidhöggr nagt von unten auf an ihr. Bei der andern Wurzel hingegen, welche sich zu den Hrimthursen erstreckt, ist Mimirs Brunnen, worin Weisheit und Verstand verborgen sind. Der Eigner des Brunnens heißt Mimir, und ist voller Weisheit, weil er täglich von dem Brunnen aus dem Giallarhorn trinkt. Einst kam Allvater dahin und verlangte einen Trunk aus dem Brunnen, erhielt ihn aber nicht eher bis er sein Auge zum Pfand setzte. So heißt es in der Wöluspa:

Alles weiß ich, Odhin,   wo dein Auge blieb:

In der vielbekannten   Quelle Mimirs.

Meth trinkt Mimir   jeden Morgen

Aus Walvaters Pfand:   wißt ihr was das bedeutet?

Unter der dritten Wurzel der Esche, die zum Himmel geht, ist ein Brunnen, der sehr heilig ist, Urds Brunnen genannt: da haben die Götter ihre Gerichtsstätte; jeden Tag reiten die Asen dahin über Bifröst, welche auch Asenbrücke heißt. Die Pferde der Asen haben diese Namen. Sleipnir, das beste, hat Odhin: es hat acht Füße; das andre ist Gladr; das dritte Gyllir, das vierte Gler, das fünfte Skeidbrimir, das sechste Silfrintopp, das siebente Sinir, das achte Gils, das neunte Falhofhir, das zehnte Gulltopp, das eilfte Lettfeti. Baldurs Pferd ward mit ihm verbrannt. Thôr geht zu Fuß zum Gericht und watet über folgende Flüße:

Körmt und Örmt und beide Kerlög

Watet Thôr täglich,

Wenn er hinfährt Gericht zu halten

Bei der Esche Yggdrasils.

Denn die Asenbrücke stünd all in Lohe,

Heilige Fluten flammten.

Da fragte Gangleri: Brennt denn Feuer auf Bifröst? Har antwortete: Das Rothe, das du im Regenbogen siehst, ist brennendes Feuer. Die Hrimthursen und Bergriesen würden den Himmel ersteigen, wenn ein Jeder über Bifröst gehen könnte, der da wollte. Viel schöne Plätze giebt es im Himmel, die alle unter dem Schutz der Götter stehen. So steht ein schönes Gebäude unter der Esche bei dem Brunnen: aus dem kommen die drei Mädchen, die Urd, Skuld und Werdandi heißen. Diese Mädchen, welche aller Menschen Lebenszeit bestimmen, nennen wir Nornen. Es giebt noch andere Nornen, nämlich solche, die sich bei jedes Kindes Geburt einfinden, ihm seine Lebensdauer anzusagen. Einige sind von Göttergeschlecht, andere von Alfengeschlecht, noch andere vom Geschlecht der Zwerge, wie hier gesagt wird:

Gar verschiednen Geschlechts scheinen mir die Nornen,

Und nicht Eines Ursprungs.

Einige sind Asen,   andere Alfen,

Die dritten Töchter Dwalins.

Da sprach Gangleri: Wenn die Nornen über das Geschick der Menschen walten, so theilen sie ihnen schrecklich ungleich aus. Die Einen leben in Macht und Überfluß, die Andern haben wenig Glück noch Ruhm; die Einen leben lange, die Andern kurze Zeit. Har antwortete: Die guten Nornen und die von guter Herkunft sind, schaffen Glück, und gerathen einige Menschen in Unglück, so sind die bösen Nornen Schuld.

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