Agrippa hat geschrieben:Stattdessen reduziert man das europäische Mittelalter gerne auf Inquisition, Pest und Kreuzzüge, die zweifellos auch dazugehörten.
Das ist sicher eine unzulässige Verkürzung des Mittelalters.
Andererseits ist nicht zu leugnen, dass die islamische Kultur jener Zeit - Medizin, Astronomie, Mathematik, Naturwissenschaften, Literatur - der abendländischen weit voraus war. Die Gründe dafür sind bekannt: Dunkle Jahrhunderte in Europa nach dem Untergang Westroms mit partiellem Verlust der Schriftlichkeit, Rückkehr zur Naturalwirtschaft, Verfall von Literatur, Dichtkunst, Geschichtsschreiberei. Die Verfallserscheinungen betrafen die Regionen Europas in unterschiedlichem Maße, waren nördlich der Alpen stärker ausgeprägt als beispielsweise in Italien oder Südfrankreich. Die Völkerwanderung hatte alte Bindungen endgültig zerbrochen, der staatliche Zusammenhalt hatte sich aufgelöst, ohne dass indessen neue Staaten ein nachhaltiges Regiment installieren konnten. In Italien waren weite Gebiete nahezu entvölkert. Die Römerstädte an Rhein und Donau verödeten, römische Gutshöfe verschwanden, Straßen und Brücken zerfielen. Der Untergang der römischen Zivilisation führte zu einem Niedergang des Wissens und der Kultur und bewirkte vielfach einen Rückfall in barbarische Verhältnisse.
Um diesen Prozess aufzuhalten fassten Karl der Große und seine Berater den Plan, die Bildung im Frankenreich zu heben und alle Bereiche des Wissens und der Kunst zu erneuern. Um dies Ziel zu erreichen, griffen sie ganz bewusst auf Werke der römischen Antike zurück, die bei diesem Vorhaben als Vorbild dienen sollte. Moderne Historiker haben das unter dem Begriff "karolingische Renaissance" zusammengefasst.
Zu den Leistungen der karolingischen Hofkapelle und ihrer Gelehrten (z.B. Alkuin und Einhard) zählten eine Reform der Schrift (karolingische Minuskel), die Rückwendung zum klassischen Latein, eine Wiederbelebung der Dichtung und Geschichtsschreibung, die Erneuerung des Gottesdienstes und der Liturgie, die Einführung der Regel des hl. Benedikt im Kosterleben und schließlich eine erneuerte Fassung der Bibel. Literarische Werke der Antike wurden nicht vernichtet sondern aufbewahrt - auch später in den Klöstern - und damit ist es der karolingischen Renaissance zu verdanken, dass viele antike Schriften erhalten blieben.
Dennoch muss man sich klar machen, dass dieses Programm nur ein erster Anstoß war und der Vorsprung der islamischen Kultur damit nicht aufgeholt werden konnte. Der schmolz erst im Lauf der kommenden Jahrhunderte allmählich zusammen.