Unterschiede zwischen Marxismus-Leninismus und Marxismus

Allgemeine politikwissenschaftliche Diskussionen

Moderator: Barbarossa

Benutzeravatar
Barbarossa
Mitglied
Beiträge: 15516
Registriert: 09.07.2008, 16:46
Wohnort: Mark Brandenburg

Schöne neue Rubrik.
Dann will ich auch gleich mal das erste Thema eröffnen. Was ich mich seit einiger Zeit frage:
:?: Was sind eigentlich die Unterschiede zwischen dem Marxismus-Leninismus, den ich in der Schule noch auswendig lernen mußter und dem Marxismus, der heute unter den überzeugten Kommunisten anscheinend die vorherrschende Meinung ist?
Kann mir das mal jemand erklären?
Die Diskussion ist eröffnet!

Jedes Forum lebt erst, wenn Viele mitdiskutieren.
Schreib auch du deine Meinung! Nur kurz registrieren und los gehts! ;-)
Benutzeravatar
segula2
Mitglied
Beiträge: 180
Registriert: 01.02.2011, 22:23
Wohnort: Vogtland

Die Frage klingt so einfach, dass man meint, sie mit einigen Sätzen beantworten zu können. Aber schon beim Vorbereiten und Zusammentragen einiger Fakten sah ich ein, dass man darüber ein ganzes Buch schreiben könnte, was ich aber nicht vorhabe.
Man möge mir verzeihen, aber ich will`s dann wieder „volkstümlich auf meine Art“ probieren.
Man muss die Zeit sehen, in der Marx/Engels – im weiteren M/E - ihre Aktivitäten entwickelten. Das „Manifest der Kommunistischen Partei“ erschien im Jahre 1848. Die Bedeutung der beiden Philosophen bestand in der Analyse des (Früh-)Kapitalismus und Aufzeigen des Ausweges aus dieser Situation. Sie entwickelten und formulierten die „Historische Mission der Arbeiterklasse“. Ihr Vorbild war der englische Frühkapitalismus.

- Bei Lenin kämpft die Arbeiterklasse aber ‚im Bündnis mit der Bauernschaft’.

Das war auch gar nicht anders möglich, war doch Russland zur Zeit des Zarentums ein reiner Agrarstaat mit einer Arbeiterschaft von unter 10%.
Während M/E die Kampfbedingungen im aufstrebenden Kapitalismus beschreiben, redet Lenin in seiner Zeit vom „sterbenden Kapitalismus – dem Imperialismus“.

- Also hierin besteht der nächste Unterschied in den Vorraussetzungen zum Kampf
http://www.stalinwerke.de/band06/b06-011.html

Bei M/E heisst es „Proletarier aller Länder, vereinigt euch!“, bei Lenin „Weltrevolution“ und dieser Grundsatz wurde nach dem Ausbleiben dieser unter Stalin zum „Aufbau des Sozialismus in einem Land“ verbogen.
Diesem Grundsatz –Aufbau in einem Land – wurde alle Theorie angepasst. Die Schwierigkeit, die Strapazen dieser Doktrien auszuhalten, konnte wohl nur der leidgeprüften Seele der Russen und Völker zugemutet werden.
So entwickelte sich das das sozialistische Lager also nicht aus gesellschaftlicher und ökonomischer Notwendigkeit, sondern mit Hilfe eines immer mächtiger werdenden Staates, der immer repressiver den sogenannten Fortschritt durchsetzen musste.

- Bei M/E spricht aber man von der absterbenden Rolle des Staates

Das Fiasko der Vertreter des Leninismus ist die Erkenntnis, dass für den Übergang zur ausbeutungsfreien Gesellschaftsordnung kein zwingend notwendiger ökonomischer Grund mit einer neuen und verbesserten Stufe von Produktionsmitteln ind Produktionsverhältnissen vorhanden war. Man denke seinerzeit and die mechanischen Webstühle, die die Heimproduktion unweigerlich ablösten.
Und deshalb hat Lenin in seinem Buch „Staat und Revolution“ statt der dialektischen und erfolgsversprechenden Reifungsmethode die Forcierung der Entwicklung durch „Berufsrevolutionäre“ vorgeschlagen und eingeführt. Später bei Stalin eskalierte das ganze noch.

- Ein weiterer Verstoß gegen den M/E und den dialektischen und historischen Materialismus.

In der Stalinzeit nach dem 2. Weltkrieg wurde der Sozialismus stalinscher Prägung auf die von der Roten Armee vom Faschismus befreiten Länder Ost- und Südeuropas übergestülpt. Und immer nach dem gleichen Strickmuster: Bodenreform – Entwicklung der Schwerindustrie – Kollektivierung der Landwirtschaft - ....
Und wehe dem Staat, der etwa andere Vorstellungen hatte. Tito, ein jugoslawischer Partisanenkommandeur, hatte sein Land ohne die Hilfe der Roten Armee von der faschistischen Barbarei befreit und daher nicht an die Stalinsche Linie gebunden. Er baute die Volksdemokratie in seinem Land nach seinen Vorstellungen auf.
Wolfgang Leonhard, einer, der 1945 mit der Gruppe Ulbricht in die sowjetische Besatzungszone kam und das sowjetische Modell hier integrieren sollte, floh Ende der 1940er Jahre über Jugoslawien in den Westen.
Aber in der Zeit des Aufenthalts in Jugoslawien berichtet er von wahren und ernstgemeinten Freudenkundgebungen der jugoslawischen Bevölkerung und keinesfalls von verordneten oder inszenierten. (Die Revolution entlässt ihre Kinder)
Spontane Zustimmung zum Sozialismus – wann gab es das in Lenins Sowjetreich stalinscher Prägung? Bei Tito, in Ungarn 1956, bei Dubcek im Prager Frühling 1968, bei Gorbatschow 1985 aber war es bereits zu spät – der Zug zum Kommunismus ist schon lange abgefahren.

Und nun, lieber Barbarossa, die Frage des Kommunismus nach dem Stalinismus und dem real existierenden Sozialismus, der heute verbliebenen Kommunisten.
Das ist das Problem der kommunistischen Organisationen heute sowieso.

Wie kann eine Notwendigkeit zum Umschwung herbeigeführt werden?
Was ist an den Produktionsmitteln und –verhältnissen der neuen Ära das Herausstechende, welches den ökonomischen und gesellschaftlichen Fortschritt garantiert.

Ein Gedanke dazu ist doch die Schaffung des Internets. Was hat das Internet und die Computertechnik nicht schon allse revolutioniert? Ich glaube, wenn es irgendwie Fortschritt geben soll, dann sollten die M/Es der Neuzeit sich dieses Mittels bemächtigen und ihre Theorie aktualiseren.

Hammer und Sichel müssen mit Laptop und Klapprechner ergänzt werden!
Und dann .................................................

Ich will nur aufhören, sonst wird es wirklich ein Buch.

Barbarossa, vielleicht habe ich mich verständlich gemacht?

Ach, und noch eins: M/E waren Theoretiker - Lenin war Praktiker. Deshalb liest sich M/E auch trockener als Lenin.

:roll:
MfG Heiner!
An irgendeiner anderen Stelle dieses Forums habe ich den "klammheimlichen Wunsch" geäußert, die Merkel möge genauso einen blamablen Abgang haben, wie seinerzeit das Politbüro der SED.
Sie ist auf dem besten Wege dahin! :mrgreen:
Benutzeravatar
Barbarossa
Mitglied
Beiträge: 15516
Registriert: 09.07.2008, 16:46
Wohnort: Mark Brandenburg

Ok lieber segula2,
ich glaube, ich hab´s verstanden.

Für deine Ausführung bekommst du erst einmal von mir ein Bienchen. :mrgreen:
Dateianhänge
Bienchen für segula2 ;-)
Bienchen für segula2 ;-)
Bienchen.jpg (2.83 KiB) 16819 mal betrachtet
Die Diskussion ist eröffnet!

Jedes Forum lebt erst, wenn Viele mitdiskutieren.
Schreib auch du deine Meinung! Nur kurz registrieren und los gehts! ;-)
Benutzeravatar
segula2
Mitglied
Beiträge: 180
Registriert: 01.02.2011, 22:23
Wohnort: Vogtland

Barbarossa hat geschrieben:Ok lieber segula2,
ich glaube, ich hab´s verstanden.

Für deine Ausführung bekommst du erst einmal von mir ein Bienchen. :mrgreen:
Danke für das Bienchen, aber im Nachhinein muss ich ehrlicherweise gestehen, dass es nicht ganz verdient ist!
Mein obiger Beitrag enthält einen entscheidenden Fehler: Meine Argumentatation beruft sich nicht auf Lenins Schrift „Staat und Revolution“, wie oben angegeben, sondern auf das Buch mit dem Titel „Was tun?“.
Ich bitte, mir den Lapsus nachzusehen.
Noch einmal möchte ich so anschaulich wie möglich den Unterschied zwischen Marx/Engels und dem Leninschen Kommunismus darlegen. Die Kunst dabei ist, soviel trockene Theorie wie möglich zu berühren, ohne dass die Anschaulichkeit Schaden nimmt.

Wenden wir uns zunächst der Marxschen Theorie zu.
Wie gesagt, es geht um die Schaffung der klassenlosen Gesellschaft.
Marx Logik und letztendlich kommunistische Wissenschaft besteht in der Übertragung der materiellen Dialektik auf gesellschaftliche Prozesse. Der Grundtenor dieser Dialektik ist folgender:

GEGENSÄTZE KÄMPFEN (REAGIEREN) MITEINANDER UND ENTWICKELN EINE NEUE QUALITÄT.

Dazu ein vielleicht hinkendes, aber anschauliches Beispiel:

Ein Gegensatz– Gips, ein weiches Pulver und
Ein zweiter Gegensatz - Wasser, eine Flüssigkeit werden in bekannter Weise miteinander gemischt - es entsteht eine harte Masse mit also neuer Qualität.
Das Wasser ist dann eliminiert.

Auf die Gesellschaft übertragen heißt das:
Ein Gegensatz – die ausgebeutete Schicht des Volkes (Arbeiter, Bauern ) wehrt sich gegen den zweiten Gegensatz – die Ausbeuterschicht (Bourgeoisie). Im Endeffekt entsteht eine neue Gesellschaft mit neuer Qualität – ohne Ausbeutung, und Eliminierung der Ausbeuter.
Hier sieht man schon den Unterschied zum Gips, der in einem Zug reagiert, dass die gesellschaftlichen Prozesse sich erst häufen und nach und nach reifen müssen.
Marx beschreibt in seiner Theorie also Prozesse, die wir heute als gewerkschaftlichen Kampf gegen die Ausbeuter verstehen. Tatsächlich waren die Vorläufer der sozialdemokratischen Parteien gewerkschaftliche Organisationen.
Lenin aber ist das nicht genug! Er erkennt, dass das allein nicht ausreicht, die Ausbeuter zu beseitigen und gar eine neue Qualität – den Kommunismus – herbei zu führen. Den gewerkschaftlichen Kampf bezeichnet er als „Handwerklerei“ und kommt zu dem Schluss, dass diesem Kampf eine „konspirative“ Ergänzung in Form einer „Organisation der Revolutionäre“ zugefügt werden muss.
Was also den Start von Berufsrevolutionären bedeutet, die in geheimer Mission auch im Untergrund kämpfen. Da wird zum Beispiel Stalin nachgesagt, er habe vor dem Oktober 1917 unter Anderem auch Banken überfallen, um Geld für die Bolschewiki zu organisieren.

Leider hat sich nach Lenin diese „Konspirative“ all zu sehr entwickelt. ...

Damit wurden die Mittel für den Kampf um die Macht zunächst einmal wesentlich schärfer und führten auch zum Oktober 1917. Aber bald mussten diese Mittel gegen die eigenen Massen angewandt werden, weil das Bewusstsein dieser Massen noch der alten Gesellschaftsform entsprach und das egoistische Besitzdenken vorherrschte. Die Berufsrevolutionäre mussten immer mehr die „Revolution von oben“ durchpeitschen, welche dadurch die gesellschaftliche Notwendigkeit einbüßte und zum Scheitern verurteilt war.

Man kann nun streiten - war der Leninismus eine Erweiterung oder eine Abart des Marxismus.
Der Leninismus führte zum Machtwechsel, ist aber von der betroffenen Bevölkerung nie als Herzenssache angenommen worden.
Im kommunistischen Manifest heißt es unter der Überschrift
Proletarier und Kommunisten:
In welchem Verhältnis stehen die Kommunisten zu den Proletariern überhaupt? Die Kommunisten sind keine besondere Partei gegenüber den andern Arbeiterparteien. Sie haben keine von den Interessen des ganzen Proletariats getrennten Interessen.
Sie stellen keine besonderen (42) Prinzipien auf, wonach sie die proletarische Bewegung modeln wollen.
Die Kommunisten unterscheiden sich von den übrigen proletarischen Parteien nur dadurch, dass sie einerseits (43) in den verschiedenen nationalen Kämpfen der Proletarier die gemeinsamen, von der Nationalität unabhängigen Interessen des gesamten Proletariats hervorheben und zur Geltung bringen, andrerseits dadurch, dass sie in den verschiedenen Entwicklungsstufen, welche der Kampf zwischen Proletariat und Bourgeoisie durchläuft, stets das Interesse der Gesamtbewegung vertreten.
Die Kommunisten sind also praktisch der entschiedenste, immer weitertreibende Teil der Arbeiterparteien aller Länder; sie haben theoretisch vor der übrigen Masse des Proletariats die Einsicht in die Bedingungen, den Gang und die allgemeinen Resultate der proletarischen Bewegung voraus.
Der nächste Zweck der Kommunisten ist derselbe wie der aller übrigen proletarischen Parteien: Bildung des Proletariats zur Klasse, Sturz der Bourgeoisherrschaft, Eroberung der politischen Macht durch das Proletariat. Die theoretischen Sätze der Kommunisten beruhen keineswegs auf Ideen, auf Prinzipien, die von diesem oder jenem Weltverbesserer erfunden oder entdeckt sind.
Sie sind nur allgemeine Ausdrücke tatsächlicher Verhältnisse eines existierenden Klassenkampfes, einer unter unseren Augen vor sich gehenden geschichtlichen Bewegung. Die Abschaffung bisheriger Eigentumsverhältnisse ist nichts den (44) Kommunismus eigentümlich Bezeichnendes.

Also doch eine Abart? :wtf:
Bei Marx: Überschlag in neue Qualität durch politische und ökonomische Reifung
Bei Lenin: Forcierung durch Berufsprofis, in Russland betrug die Arbeiterschaft zu Lenins Zeiten gerade mal 10%.
MfG Heiner!
An irgendeiner anderen Stelle dieses Forums habe ich den "klammheimlichen Wunsch" geäußert, die Merkel möge genauso einen blamablen Abgang haben, wie seinerzeit das Politbüro der SED.
Sie ist auf dem besten Wege dahin! :mrgreen:
Benutzeravatar
Barbarossa
Mitglied
Beiträge: 15516
Registriert: 09.07.2008, 16:46
Wohnort: Mark Brandenburg

Tja - ich glaube, das ist tatsächlich einer der größten Unterschiede (vielleicht sogar Mißverständnis seiten Lenins), daß laut Marx/Engels die Revolution des Proletariats nur in einer voll entwickelten kapitalistischen Gesellschaft erfolgreich sein konnte. Das Proletariat stellt in einer solchen Gesellschaftsordnung die Bevölkerungsmehrheit. Russland war davon noch weit entfernt. Lenins "Oktoberrevolution" war im Grunde nur ein Staatsstreich mit anschließendem Bürgerkrieg.
Die Diskussion ist eröffnet!

Jedes Forum lebt erst, wenn Viele mitdiskutieren.
Schreib auch du deine Meinung! Nur kurz registrieren und los gehts! ;-)
Antworten

Zurück zu „Politische Theorien“