Retortenhauptstadt, wo und warum?

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Moderator: Barbarossa

Renegat
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In http://geschichte-wissen.de/forum/viewt ... 060#p44060 wurde Bonn, die provisorische BRD-Hauptstadt erwähnt. Inzwischen ist das Geschichte und das Parlament tagt in Berlin.
Ob Berlin eine gewachsene Hauptstadt ist wie London oder Paris könnte man diskutieren.

Mit Sicherheit gewachsener als Brasilea, das als geplante und beschlossene Hauptstadt die Metropole Rio als Parlamentssitz ablöste. http://de.wikipedia.org/wiki/Bras%C3%ADlia

Ankara ist ein weiteres Beispiel, eine Hauptstadt bewußt beschlossen, als Abgrenzung vom osmanischen Istanbul.
RedScorpion

Da hat's eine ganze Menge, Retortenstädte, Reg.sitze, Hauptstadtumlegungen, prunkvolle Residenzen (die zwar meist nur die de-facto-Hauptstädte waren, aber manchmal auch de jure), Traditionen, an die man anschliessen will und Neugründungen, durch die man sich von ihnen abgrenzen will (Brasilia, St. Petersburg, Ottawa, Washington)

Eines hat's gemein: Es gibt immer böses Blut deswegen. :mrgreen:



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Barbarossa
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Und Canberra/Australien nicht zu vergessen.
Woran das liegt, dass Politiker so vieler Länder kleine Provinznester fernab der Metropolen als Regierungssitz wählen, kann man eigentlich nur spekulieren. Ein Phenomen ist es auf jeden Fall.

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ehemaliger Autor K.

Barbarossa hat geschrieben:Und Canberra/Australien nicht zu vergessen.
Woran das liegt, dass Politiker so vieler Länder kleine Provinznester fernab der Metropolen als Regierungssitz wählen, kann man eigentlich nur spekulieren. Ein Phenomen ist es auf jeden Fall.

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Hier muss man nicht lange spekulieren. Melbourne und Sydney hassen sich wie die Pest, deshalb wurde Canberra als Hauptstadt ausgesucht.

Auch Brasilia sollte den Kompetenzstreit zwischen der früheren Hauptstadt Bahia, ab 1763 war es dann Rio de Janeiro, und den aufstrebenden Metropolen wie Sao Paulo und anderen Städten beenden. Die Lage im Zentrum Brasiliens sollte auch eine Veränderung der Binnenstruktur symbolisieren, weg von der Küste, hin ins Innere. Brasilia ist eine weitgehend gesichtslose Stadt ohne Atmosphäre.

Ankara ist eigentlich auch eine eher trostlose Stadt. 1971 habe ich sie einmal besucht und sie besteht hauptsächlich aus langweiligen Verwaltungsgebäuden und Monumentalbauten zu Ehren von Atatürk. Überhaupt kein Vergleich mit der Metropole Istanbul. Türken berichteten mir aber, dass es in Ankara jetzt viel lebhafter und interessanter sein soll als früher. (Allerdings ist das Klima dort viel schlechter als in Istanbul. Sehr heiße Sommer und sehr kalte Winter).

Retortenstädte als neue Regierungszentren wurden häufig gegründet aus den verschiedensten Gründen. Bekannt ist die Verlagerung der Hauptstadt des Römischen Imperiums von Rom nach Konstantinopel, ein kleines Dorf wurde zur Weltstadt. Dies war eine glückliche Wahl.

In manchen ehemaligen Kolonialländern wurden nach der Unabhängigkeit neue Hauptstädte gegründet, nicht immer von Erfolg gekrönt. Sie sollten auch schon symbolisch eine Wende andeuten, da sie meistens fernab der Küsten lagen, die man mit dem Imperialismus in Verbindung brachte. Die von den Kolonialmächten gegründeten Hafenstädte sollten an Bedeutung verlieren. Auch liebten die neuen Machthaber diese Orte mit ihren sozialen Unruhen nicht.
(Beispiele: In Nigeria von Lagos nach Abuya, in der Elfenbeinküste von Abidjan nach Yamoussoukro, in Tansania von Daressalam nach Dodoma, in Belize von Belize-City nach Belmopan usw.)

Solche Gründungen haben auf Dauer nur Erfolg, wenn sie zu neuen wirtschaftlichen Zentren heranwachsen und ihren künstlichen Charakter längerfristig verlieren. Da dies in vielen Ländern aber nicht der Fall ist, bleiben sie Retortenstädte.
RedScorpion

Barbarossa hat geschrieben:Und Canberra/Australien nicht zu vergessen.
Woran das liegt, dass Politiker so vieler Länder kleine Provinznester fernab der Metropolen als Regierungssitz wählen, kann man eigentlich nur spekulieren.
...
... wobei sich Provinznester dann auch wieder zu glänzenden Metropolen entwickeln können.

Konstantinopel, Mailand, Ravenna (nennen wird er Korrektheit halber auch Trier und York, fehlt noch Sirmium, aber Sremska Mitrovica ist nicht sooo ne dolle Metropole heut), Madrid, Kairo, Peking, ....

Karlheinz hat geschrieben: ...
Brasilia ist eine weitgehend gesichtslose Stadt ohne Atmosphäre.
...
Nana.



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Triton
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New Delhi ist wohl der Prototyp einer Retorten-Hauptstadt, gegründet 1911, mit einer Viertelmillion Einwohner für indische Verhältnisse eine Kleinstadt.
Ich nehme an, die Engländer gründeten die Hauptstadt dort a) wegen des Klimas und b) wegen der Sicherheit und vertrauteren Optik, wenn alles neu gebaut ist.
"Tatsachen schafft man nicht dadurch aus der Welt, in dem man sie ignoriert." (Aldous Huxley)
Renegat
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Schön, ich hoffe auf weitere Beispiele.

Ein ganz anderer Fall ist Wien. Für mich der Prototyp einer gewachsenen Hauptstadt mit langer Residenzgeschichte, vergleichbar mit London und Paris.
Bei meinem letzten Besuch hatte ich beim Anblick des Parlamentsgebäudes samt Umgebung irgendwie den Eindruck, überdimensioniert. Ein Eindruck, der sich einige Male in Wien wiederholte. Ich dachte mir, da müssen EU-Institutionen/UNO hin oder rein, um den Dimensionen und der Infrastruktur gerecht zu werden.
ehemaliger Autor K.

Delhi ist bereits seit 1206 mit Unterbrechungen die Hauptstadt von Indien und wurde während der Mogul-Dynastie, die vom 15. Jahrhundert bis zum 19.Jahrhundert regierte, prachtvoll ausgebaut. Die Engländer gründeten später als konkurrierende neue Hauptstadt Kalkutta, eine reine Retortenstadt, die bis 1911 offiziell Hauptstadt von Britisch-Indien gewesen ist.

Erst nach der völligen Zerschlagung der Mogul Herrschaft zogen die Engländer nach Delhi und errichteten dort ein neues Stadtviertel, Neu-Delhi, genannt. Ein reines Verwaltungsgebiet. Aufgrund des Niedergangs der Mogul-Dynastie hatte Mitte des 19.Jahrhundert Delhi nur noch 150.000 Einwohner, danach nahm die Stadt wieder einen rasanten Aufstieg.

Der Unterschied zwischen Old-Delhi und New-Delhi ist auch heute noch gravierend. Ich bin öfters mit einer Rikscha vom neuen Delhi in die Altstadt gefahren, sie liegen ungefähr 5 km voneinander entfernt. In Old-Delhi taucht man ein in das alte, klassische Indien mit seinem quirligen Leben, New-Delhi ist rein britisch-kolonial und inzwischen hypermodern.

Ich nehme an, du bist noch nie in New-Delhi gewesen, sonst wüsstest du, dass das Klima dort keineswegs besser ist als in Kalkutta, Bombay oder Madras. Angenehm ist es nur in Kaschmir und deshalb hielten sich auch die Engländer am liebsten dort auf. Nur ist Kaschmir zu abseits gelegen, da war Delhi aufgrund seiner zentralen Lage besser geeignet, trotz der oft unerträglichen Hitze und der fürchterlichen Feuchtigkeit während des Monsuns.
Lia

Renegat hat geschrieben:Ob Berlin eine gewachsene Hauptstadt ist wie London oder Paris könnte man diskutieren.
Bonn war Hauptstadt einer anderen Republik und könnte es, bei aller Liebe zum gemütlichen Bonn- heute nicht mehr sein.
Berlin? Mag nicht in allen Teilen der neuen Republik so ankommen und empfunden werden, was denn auch in der Historie begründet sein mag. Vielleicht ganz unbewusst in vielen Regionen außerhalb der "urpreußischen", weil als nicht als Hauptstadt für alle Landesteile und Macht- und Schaltzentrale fungierend wie London oder Paris.
´Wobei wir ja noch die heimliche Hauptstadt München haben- angeblich jedenfalls soll München das ja für Gesamt-Deutschland sein. Solange die CSU mitregiert, mag das ja sogar teilweise zutreffen. :angel:
@ Karlheinz: danke für die sachliche Aufklärungn. Wobei mir allerings auch folgende von Australiern wie Türken bekannt ist:
Man wollte sich als Nation neu erfinden und brauchte deshalb eine neue Hauptstadt. Andere Erklärung, die dennoch die Deine nicht ausschließt, eher bestätigt.
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Triton
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Karlheinz hat geschrieben:Ich nehme an, du bist noch nie in New-Delhi gewesen, sonst wüsstest du, dass das Klima dort keineswegs besser ist als in Kalkutta, Bombay oder Madras. Angenehm ist es nur in Kaschmir und deshalb hielten sich auch die Engländer am liebsten dort auf.
Bingo! Auf die Karte geguckt - aha New Delhi ist da oben im Norden, wo die Engländer gerne waren, wenn es im Rest Indiens zu heiss war - und dann in einen Topf mit Kaschmir geworfen.
Wobei es schon ein Grund gewesen sein kann, dass Delhi näher an Kaschmir war, um die Reise zu verkürzen.

Wäre bas beschauliche Bonn Hauptstadt geblieben, wären immer wieder Diskussionen aufgekommen, ob das noch zeitgemäß ist und ob die neuen Bundesländer damit nicht diskriminiert werden und so weiter. Ich finde es auch schön, dass die alte BRD irgendwann einmal wohl den historischen Namen "Bonner Republik" erhalten wird, für die Stadt eine große Ehre. Eben weil "Westdeutschland" ein Erfolgsmodell war und für positive Erinnerungen steht.
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