Manipulationen von Abstimmungen in totalitären Staaten

Allgemeine politikwissenschaftliche Diskussionen

Moderator: Barbarossa

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Titus Feuerfuchs
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Marek1964 hat geschrieben:Lieber Titus,

Mich würde interessieren, wie Du die Möglichkeit einschätzt, dass man in Österreich Widerstand gegen den Anschluss hätte leisten können.

Puh, darüber könnte man einen seitenlangen Sermon schreiben...

Ganz kurz gesagt: äußerst gering.




Die Gründe in einem kurzen Abriss:


Die Anschlussidee war 1938 alles andere als neu, es sie wurde unter dem Namen "Großdeutsche Lösung" bereits 1848 in der Paulskirche auf's Tapet gebracht, verschwand dann aber auch aufgrund unüberbrückbarer Gegensätze (Habsburg-Hohenzollern) wieder in der Schublade und wurde erst wieder nach dem 1. WK virulent.

Österreich hatte damals kein eigenes Nationalbewusstsein (die Österreicher fühlten sich als Deutsche), es war wirtschaftlich schwach, die Transformation von der Monarchie zur Demokratie war durch die Machtübernahme der Austrofaschisten (nicht zu verwechseln mit dem Faschismus der Nazis!)unter Dollfuß gescheitert, die Folgen von St. Germain waren nach wie vor in den Köpfen omnipräsent. Von den rund 10 Mio Deutschen der ehemaligen Monarchie lebten seit 1919 rund 3,5 Mio außerhalb der österreichischen Grenzen.

Ein Anschluss an die WR war nach dem 1. WK vordringlichstes Ziel der sozialdemokratischen Regierung Renner. Als in Paris 1919 absehbar wurde, dass es das nicht spielen würde, sah der sozialdemokratische Außenminister Bauer -ein überzeugter Austromarxist- sein wichtigstes Ziel als gescheitert an und trat zurück.

Nicht nur die Sozialdemokraten sondern v.a. die Deutschnationalen plädierten 1919 massiv für einen Anschluss; ebenso weite Teile der Bevölkerung, was so weit ging, dass sich bereits einige Bundesländer (Tirol, Salzburg) abspalten und separat an D anschließen wollten, was freilich von den Alliierten ebenso verhindert wurde, wie von der österreichischen Regierung.

Die Christlich-Sozialen hingegen, aus denen später die austrofaschistische "Vaterländische Front" hervorgehen sollte, waren nicht anschlussaffin.

Das Dollfußregime war außenpolitisch vom faschistischen Italien abhängig. Dieses Bündnis bröckelte durch die Annäherung zwischen Rom und Berlin jedoch zunehmend.
Böse Zungen meinen dazu, Österreich sei an der Achse Rom-Berlin "braungeröstet" worden...

Österreich war also politisch von Italien und wirtschaftlich von Deutschland abhängig.

Aber auch von innen wurde das faschistische Österreich politisch destabilisiert. Die NSDAP war zwar ebenso wie die SPÖ von den Austrofaschisten verboten worden, was diese aber nicht daran hinderte, von D unterstützt im Untergrund zu operieren. Das gipfelte 1934 im sog. "Juliputsch", bei dem Kanzler Dollfuß von den Nationalsozialisten erschossen wurde.

Der wirtschaftliche Druck vonseiten Deutschlands war erheblich und gipfelte u.a. in der sog "1000 MarkSperre" was die ohnehin marode österreichische Wirtschaft weiter schwächte.

Diese Repression wurde erst mit dem Juliabkommen 1936 aufgehoben, bei dem Österreich den Nazis im Gegenzug erhebliche Konzessionen machen musste, was den innerösterreichischen Nazis entscheidenden Auftrieb gab.




:arrow: Das alles ist ein grober Umriss der Gründe, warum Österreich bzw. die außenpolitisch weitgehend isolierte Regierung Schuschnnigg de facto keine Möglichkeit hatte, ernsthaften Widerstand zu leisten und Anschluss zu verhindern.

Ein Anschluss an D -so glaubte man in der Bev- würde die bestehenden Probleme (gigantische Arbeitslosigkeit, politische Instabilität) lösen. Spätestens 1941 dürfte aber dann vielen klar geworden sein, dass sie falsch geglaubt hatten...
MfG,
Titus Feuerfuchs
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Marek1964
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Dann kann man sagen, dass damals eine Mehrheit der Österreicher 1938 auch einen Anschluss an das Reich wünschte?

Es gab ja dann eine Abstimmung, aber die war nicht mehr ganz frei, oder?
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Triton
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Die Abstimmung war sogar gesamtdeutsch. Also gesamtgroßdeutsch.
Die Fragestellung lautete in etwa: Sind sie für einen Zusammenschluß mit Österreich zum Großdeutschen Reich unter der Führung Adolf Hitlers? Mein Opa erzählte, dass er damals das einzige Mal aus vollem Einverständnis das JA angekreuzt habe, weil der Anschluß friedlich erfolgte (von den Drohungen und dem Kulissengeschacher kriegte der Normalbürger natürlich nichts mit) und es schon im 1.Weltkrieg die Nibelungentreue mit der KuK-Monarchie gab.
Im Grunde herrschte die Stimmung "Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört."

Die Wochenschaubilder mit Hitlers Auftritt in Wien, die junge Wienerinnen beim kollektiven Orgasmus in Gegenwart des größenwahnsinnigen Waldviertlers zeigten, verfehlten ihre Wirkung natürlich auch nicht.
"Tatsachen schafft man nicht dadurch aus der Welt, in dem man sie ignoriert." (Aldous Huxley)
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Titus Feuerfuchs
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Marek1964 hat geschrieben:Dann kann man sagen, dass damals eine Mehrheit der Österreicher 1938 auch einen Anschluss an das Reich wünschte?
Ja, natürlich.
Das war schon nach dem 1. WK evident. Bei inoffiziellen Abstimmungen über einen Anschluss in Salzburg und Tirol waren damals schon über 90% für einen Anschluss.

Die Zustimmung zu Hitler war imho niedriger als der zum Anschluss, wiewohl ich ihn höher einschätze als im "Altreich". Ev. ähnlich hoch wie in Ostpreußen, aber das ist nat. Kaffeesudleserei.

Marek1964 hat geschrieben: Es gab ja dann eine Abstimmung, aber die war nicht mehr ganz frei, oder?
Nein natürlich nicht. Es lief ähnlich wie in der DDR, sieht man ja am Abstimmungsergebnis (angeblich 99,73%) und auch am Stimmzettel:

Bild


http://de.wikipedia.org/wiki/Anschluss_%C3%96sterreichs
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Titus Feuerfuchs
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Triton hat geschrieben:Die Abstimmung war sogar gesamtdeutsch. Also gesamtgroßdeutsch.
Die Fragestellung lautete in etwa: Sind sie für einen Zusammenschluß mit Österreich zum Großdeutschen Reich unter der Führung Adolf Hitlers? Mein Opa erzählte, dass er damals das einzige Mal aus vollem Einverständnis das JA angekreuzt habe, weil der Anschluß friedlich erfolgte (von den Drohungen und dem Kulissengeschacher kriegte der Normalbürger natürlich nichts mit) und es schon im 1.Weltkrieg die Nibelungentreue mit der KuK-Monarchie gab.
Im Grunde herrschte die Stimmung "Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört."

Die Wochenschaubilder mit Hitlers Auftritt in Wien, die junge Wienerinnen beim kollektiven Orgasmus in Gegenwart des größenwahnsinnigen Waldviertlers zeigten, verfehlten ihre Wirkung natürlich auch nicht.

Kommt hin, allerdings liegt Braunau im Innviertel (Oberösterreich), das Waldviertel liegt in Niederösterreich.
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Marek1964
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Es stellt sich dann für mich die Frage, inwieweit die Abstimmung wirklich die 99% ergeben konnte. Trotz aller "Massnahmen", die der wiki Artikel erwähnt, kann man sich irgendwie nicht vorstellen, dass nur gerade zwei oder drei Promille der Bevölkerung nicht ein Nein eingworfen hätten.

Ist den irgendwann einmal untersucht worden, inwieweit die Auszuählung der Stimmen richtig erfolgt ist?
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Titus Feuerfuchs
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Marek1964 hat geschrieben:Es stellt sich dann für mich die Frage, inwieweit die Abstimmung wirklich die 99% ergeben konnte. Trotz aller "Massnahmen", die der wiki Artikel erwähnt, kann man sich irgendwie nicht vorstellen, dass nur gerade zwei oder drei Promille der Bevölkerung nicht ein Nein eingworfen hätten.

Ist den irgendwann einmal untersucht worden, inwieweit die Auszuählung der Stimmen richtig erfolgt ist?

Die Wahlen verliefen ähnlich "demokratisch" wie in kommunistischen Diktaturen, insofern ist das Ergebnis nachvollziehbar.

Ob's dann auch noch bei der Auszählung Unregelmäßigkeiten gab oder nicht, macht das Kraut unter diesen Umständen wahrlich nicht mehr fett.
MfG,
Titus Feuerfuchs
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Marek1964
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Titus Feuerfuchs hat geschrieben:
Marek1964 hat geschrieben:Es stellt sich dann für mich die Frage, inwieweit die Abstimmung wirklich die 99% ergeben konnte. Trotz aller "Massnahmen", die der wiki Artikel erwähnt, kann man sich irgendwie nicht vorstellen, dass nur gerade zwei oder drei Promille der Bevölkerung nicht ein Nein eingworfen hätten.

Ist den irgendwann einmal untersucht worden, inwieweit die Auszuählung der Stimmen richtig erfolgt ist?

Die Wahlen verliefen ähnlich "demokratisch" wie in kommunistischen Diktaturen, insofern ist das Ergebnis nachvollziehbar.

Ob's dann auch noch bei der Auszählung Unregelmäßigkeiten gab oder nicht, macht das Kraut unter diesen Umständen wahrlich nicht mehr fett.
Vermutlich gabs da schon Manipulationen, denn die Frage, gab es den überhaupt keine österreichische Opposition mehr?
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Titus Feuerfuchs
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Marek1964 hat geschrieben:
Titus Feuerfuchs hat geschrieben:
Marek1964 hat geschrieben:Es stellt sich dann für mich die Frage, inwieweit die Abstimmung wirklich die 99% ergeben konnte. Trotz aller "Massnahmen", die der wiki Artikel erwähnt, kann man sich irgendwie nicht vorstellen, dass nur gerade zwei oder drei Promille der Bevölkerung nicht ein Nein eingworfen hätten.

Ist den irgendwann einmal untersucht worden, inwieweit die Auszuählung der Stimmen richtig erfolgt ist?

Die Wahlen verliefen ähnlich "demokratisch" wie in kommunistischen Diktaturen, insofern ist das Ergebnis nachvollziehbar.

Ob's dann auch noch bei der Auszählung Unregelmäßigkeiten gab oder nicht, macht das Kraut unter diesen Umständen wahrlich nicht mehr fett.
Vermutlich gabs da schon Manipulationen, denn die Frage, gab es den überhaupt keine österreichische Opposition mehr?
Die Opposition, die Sozialdemokratie, war ja ebenfalls für einen Anschluss. Klerus und Kulturschaffende dito.

Selbst wenn die Wahl völlig regulär abgelaufen wäre, hätte es eine satte Mehrheit für einen Anschluss gegeben.
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Marek1964
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Es gab also keine nennenswerte Opposition mehr in Österreich?
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Titus Feuerfuchs
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Marek1964 hat geschrieben:Es gab also keine nennenswerte Opposition mehr in Österreich?

Nicht wirklich; KPÖ und Kärntner-Slowenenverbände fallen mir ad hoc ein, aber die waren 1938 völlig bedeutungslos.

Man darf nicht vergessen, dass die Vaterländische Front bereits vor dem Anschluss alle Parteien verboten hatte.

Später formierten sich im Untergrund nat. Widerstandsgruppen, die bekannteste war O5.
MfG,
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Barbarossa
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Titus Feuerfuchs hat geschrieben:...
Es lief ähnlich wie in der DDR, sieht man ja am Abstimmungsergebnis (angeblich 99,73%) und auch am Stimmzettel ...
Nein, das war nicht wie in der DDR. Bei uns gab es ausschließlich Einheitslisten mit einer Reihe von Namen, ohne der Möglichkeit ein Kreuz für "Ja" oder "Nein" zu setzen und schon gar keine Gegenkandidaten. Nur wenige wussten überhaupt, dass man den "Wahlvorschlag" ablehnen konnte, in dem man (in der vorhandenen) Wahlkabine ausnahmslos alle Namen sauber durchstrich. Diese "Wahlen" waren wirklich eine Farce in Reinform. Trotzdem wurde das Wahlergebnis in der Kommunalwahl von 1989 nachweislich noch gefälscht und damit nach oben korrigiert, damit man auch wirklich die 98-99, nochwas % präsentieren konnte.
Das war so nach der Wahl von 1946, bei der es noch die Möglichkeit gab, eine bestimmte Partei zu wählen. Die SED unterlag da knapp den bürgerlichen Parteien (LDP und CDU). Aber schon dort war das eigentlich egal, weil alle Parteien der SBZ bereits seit 1945 zum "Antifaschistisch-demokratischen Block" (daher "Blockparteien") zusammengeschlossen waren.
Die Diskussion ist eröffnet!

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dieter
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Lieber Marek,
keine offizielle Oposition, da die Parteien wie im Altreich gleich geschaltet wurden. :wink:
Was Du nicht willst, dass man Dir tu, das füg auch keinem Andern zu.
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Titus Feuerfuchs
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Barbarossa hat geschrieben:
Titus Feuerfuchs hat geschrieben:...
Es lief ähnlich wie in der DDR, sieht man ja am Abstimmungsergebnis (angeblich 99,73%) und auch am Stimmzettel ...
Nein, das war nicht wie in der DDR. Bei uns gab es ausschließlich Einheitslisten mit einer Reihe von Namen, ohne der Möglichkeit ein Kreuz für "Ja" oder "Nein" zu setzen und schon gar keine Gegenkandidaten. Nur wenige wussten überhaupt, dass man den "Wahlvorschlag" ablehnen konnte, in dem man (in der vorhandenen) Wahlkabine ausnahmslos alle Namen sauber durchstrich. Diese "Wahlen" waren wirklich eine Farce in Reinform. Trotzdem wurde das Wahlergebnis in der Kommunalwahl von 1989 nachweislich noch gefälscht und damit nach oben korrigiert, damit man auch wirklich die 98-99, nochwas % präsentieren konnte.
Das war so nach der Wahl von 1946, bei der es noch die Möglichkeit gab, eine bestimmte Partei zu wählen. Die SED unterlag da knapp den bürgerlichen Parteien (LDP und CDU). Aber schon dort war das eigentlich egal, weil alle Parteien der SBZ bereits seit 1945 zum "Antifaschistisch-demokratischen Block" (daher "Blockparteien") zusammengeschlossen waren.
Diese Unterschiede sind natürlich korrekt. Nichtsdestotrotz genügten diese sog. "Wahlen" in keinem der beiden Fälle auch nur annähernd dem modernen Wahlrecht (allgemein, gleich, geheim).


@ Marek

Weil du dir das Ergebnis nur schwer erklären kannst:
Die Abstimmungen in Ostpreußen (Marienwerder, Allenstein) infolge des VV lieferten ähnliche Ergebnisse -und diese Plebiszite liefen korrekt ab.

In Ö war die Einstellung der Bev. eben nicht viel anders. Deshalb hätte auch ein Plebiszit, das korrekt abgehalten worden wäre, kein großartig anderes Ergebnis gebracht.
Zuletzt geändert von Titus Feuerfuchs am 19.05.2014, 19:47, insgesamt 2-mal geändert.
MfG,
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Titus Feuerfuchs
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PS: Mit VV ist (wie in allen mir bekannten Geschichtsforen) natürlich der Versailler Vertrag gemeint.
MfG,
Titus Feuerfuchs
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