Ist eine echte "Volksherrschaft" möglich?

Allgemeine politikwissenschaftliche Diskussionen

Moderator: Barbarossa

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Barbarossa
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Ich habe heute einen interessanten Artikel gelesen und würde ihn gern als Link hier hereinstellen. Letztendlich wird darin die Schaffung einer Internet-Partei vorgeschlagen, in die jeder Bürger Mitglied werden kann. Ein interessanter Vorschlag - den ich, außer dem Abschnitt mit der Linkspartei, durchaus diskutabel finde.
Hier der Link: http://www.flegel-g.de/betrachtung.html
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elysian
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Vom Artikel halt ich wenig.
Natürlich war die athenische Demokratie keine moderne Demokratie, aber eine Volksherrschaft war sie durchaus. Dass nicht jeder Mensch im Stadtstaat zum Volk gezählt wurde, ändert daran nichts. Auch nicht das herausnehmen der Sklaven, von denen es übrigens im alten Athen gar nicht allzu viele gab. Zudem handelte es sich regelmäßig um Nichtathener, die also auch ohne Sklaverei wohl nicht zum Volk zu zählen gewesen wären.
Zweitens ist das Beispiel schwach. Wenn ich meinen Wagen in eine Werkstatt gebe, dann schließé ich einen Vertrag über bestimmte Leistungen, die mein Eigentum betreffen. Bereits hier sieht man, wie sehr das Beispiel hinkt, wenn man es auf den Bürger und den Staat übertragen will. Ganz davon zu schweigen, dass selbst wenn sich Meister, Mechaniker und Kunde sich zusammen setzten und berieten, es nicht einzusehen ist, warum der Kunde das Unternehmen zu einer bestimmten Leistung sollte verpflichten können. Ist er mit dem Angebot nicht zufrieden, dann muss er halt zu einem anderen Anbieter gehen.
Der Bogenschlag vom Mittelalter über die Neuzeit, die Parlamentarier bis zu Hitler ist nicht anders als absurd zu bezeichnen. Begründung, Form und Inhalt des Herrschens und die Herkunft der Herrschenden wird völlig ausgeblendet.
Der nächste Fehler liegt in der vermeintlichen Aufdeckung der eigennützigen Gründe für den Marshallplan. Als wäre jemals behauptet worden, die USA hätten aus reiner Nächstenliebe gehandelt....allerdings waren die tatsächlichen Beweggründe weit komplexer.
Allerdings gab es durchaus andere Überlegungen, welche ebenso gut hätten Realität werden können.
Derlei grobe Vereinfachungen oder Verfälschungen sind der eigentliche rote Faden in dem Beitrag.
Auch die Ausführungen zu Art. 20 GG sind nicht überzeugend.
Es wird nichts relativiert, sondern vielmehr konkretisiert, wie die Staatsgewalt vom Volk ausgeübt und vor allem durch eine Legitimationskette vermittelt wird. Dass es aber wegen dieser Norm auf Bundesebene zwingend Plebiszite geben müsste, ergibt sich hieraus nicht. Über die Ebene, auf welcher die Abstimmungen zu erfolgen hätten, steht dort schon einmal gar nichts!
Außerdem darf man nicht vergessen, dass die Eltern des Grundgesetzes die verführten Massen des Dritten Reiches vor Augen hatten. Und wenn ich an die jüngsten Umfragen erinnern darf, dann besteht nach wie vor Anlass, plebiszitäre Elemente mit Vorsicht zu genießen.
Jedenfalls fehlt in dieser Norm auch eine Aussage darüber, welche Inhalte zu Abstimmungen zu stellen wären. Hier wird letztlich eine Ansicht vorausgesetzt, welche eigentlich erst überzeugend dargelegt werden müsste.
Auch dass die Parteien die hälfte der Parlamentarier wählen würde, ist einfach Quatsch. Ganz davon zu schweigen, dass eine reine Direktwahl von Parlamentariern kleinere politische und damit gesellschaftliche Gruppierungen schlechter stellt. Gehören die nicht mit zum Volk?
Wie gesagt, der ganze Artikel strotz vor solchen Fehlern.
Ich will darum nur noch kurz meine Gedanken zum entwickelten Vorschlag beitragen.
Abstimmungen über das Internet sind aus Sicherheitsgründen keine gute Idee und nicht umsonst hat man bei den Wahlen bisher darauf verzichtet. Viel zu leicht zu manipulieren. Lustig finde ich auch, dass man die Experten bestimmen solle, welche einen Vorschlag vorlegen. Als wäre ganz leicht zu bestimmen, wer als Experte gelten dürfte. Und mit dem Vorschlag einer ganz strengen Volksherrschaft ist dieses Initiativrecht auch nicht recht vereinbar, sondern vielmehr eine dieser verpönten Einschränkungen.....
Auch die Diskussion über politische Themen durch sagen wir 40k oder 49k Nutzer gleichtzeitig erscheint problematisch.
Wenn ich meine Forumserfahrungen als Hintergrund nehmen darf, dann geht dabei ganz schnell die Übersicht verloren.
Ferner müsste man den Zugang zu den Foren personalisieren. Ansonsten kann ja jeder nicht zuletzt über sich erzählen was er will, also das Blaue vom Himmel herunterlügen. Von den Problemen mit mulit-accounts möchte ich gar nicht anfangen.
Abgesehen von den Schwierigkeiten im Zusammenhang mit dem Aufbau einer Internetpartei klingt der Beitrag vielleicht nicht nur für mich nach dem unterschwelligen Traum von einem Einparteiensystem, in dem sich jeder Bürger beteiligen soll und wodurch dann die wahre Volksherrschaft verwirklicht würde. Einschließlich eines Quotensystems, welches eine gesellschaftliche Repräsentierung diverser Gruppen ermöglicht und den Wählerwillen insoweit in der Tat unberücksichtigt lässt.
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Barbarossa
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Erst mal danke für deine Ausführungen.
elysian hat geschrieben:...Auch die Ausführungen zu Art. 20 GG sind nicht überzeugend.
Es wird nichts relativiert, sondern vielmehr konkretisiert, wie die Staatsgewalt vom Volk ausgeübt und vor allem durch eine Legitimationskette vermittelt wird. Dass es aber wegen dieser Norm auf Bundesebene zwingend Plebiszite geben müsste, ergibt sich hieraus nicht. Über die Ebene, auf welcher die Abstimmungen zu erfolgen hätten, steht dort schon einmal gar nichts!
Laut den immer wieder einmal erstellten repräsentativen Umfagen haben sich die Abgeordneten aber leider schon viel zu weit vom "Volk" entfernt. Sie stehen in der Beliebtheitsskala sehr weit unten, weil sie ausschließlich als Lobbyisten für alle möglichen Konzerne gesehen werden, aber nicht mehr als Volksvertreter im eigentlichen Sinne. Hierin sehe ich tatsächlich einen Bedarf nach einer Erneuerung.
elysian hat geschrieben:Abgesehen von den Schwierigkeiten im Zusammenhang mit dem Aufbau einer Internetpartei klingt der Beitrag vielleicht nicht nur für mich nach dem unterschwelligen Traum von einem Einparteiensystem, in dem sich jeder Bürger beteiligen soll und wodurch dann die wahre Volksherrschaft verwirklicht würde. Einschließlich eines Quotensystems, welches eine gesellschaftliche Repräsentierung diverser Gruppen ermöglicht und den Wählerwillen insoweit in der Tat unberücksichtigt lässt.
Natürlich - wenn Mitglieder einer wie auch immer gearteten Internet-Partei in den Bundestag gewählt werden, sind dann auch sie nur noch Abgeordnete mit einem Mandat. Mehr dann auch nicht. Auch die Grünen hatten am Anfang einen ganz ähnlichen Ansatz. Sie sahen sich als Basisdemokratische Partei und wollten mit einem selbst eingeführeten Rotationsprinzip arbeiten. Das hatte sich aber ziemlich schnell erledigt. Heute sind auch die Grünen nur noch eine Partei wie jede andere. Ich denke, ganz ähnlich wird auch die Entwicklung einer solchen Internet-Partei laufen, in der man zwar im Internet über Parteiprogramme diskutiert, aber letztendlich jeder Abgeordnete laut GG nach seinem eigene Gewissen abstimmt (hoffentlich).
Wäre noch das Plebizit:
elysian hat geschrieben:Außerdem darf man nicht vergessen, dass die Eltern des Grundgesetzes die verführten Massen des Dritten Reiches vor Augen hatten. Und wenn ich an die jüngsten Umfragen erinnern darf, dann besteht nach wie vor Anlass, plebiszitäre Elemente mit Vorsicht zu genießen...
Durch ein Plebizit ist "Adolf Nazi" aber nicht an die Macht gekommen, sondern durch die Unfähigkeit oder eher - noch schlimmer - durch den Unwillen der damaligen Politiker, die bestehende Demokratie zu retten. Ich denke da z. B. an den "Preußenschlag" etwa ein halbes Jahr vor der "Machtergreifung". Selbst die sogenannten "Demokraten" waren keine echten Demokraten (mit Ausnahme der SPD) und die Weichen wären höchstwahrscheinlich auch ohne einen "Adolf Nazi" auf Diktatur umgestellt worden. Solange es auch nur halbwegs demokratische Wahlen gab, hatte die NSDAP nie eine absolute Mehrheit und brauchte einen Koalitionspartner und fand ihn auch.
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elysian
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Laut den immer wieder einmal erstellten repräsentativen Umfagen haben sich die Abgeordneten aber leider schon viel zu weit vom "Volk" entfernt. Sie stehen in der Beliebtheitsskala sehr weit unten, weil sie ausschließlich als Lobbyisten für alle möglichen Konzerne gesehen werden, aber nicht mehr als Volksvertreter im eigentlichen Sinne. Hierin sehe ich tatsächlich einen Bedarf nach einer Erneuerung.
Hierzu muss man erstmal festhalten, dass ja niemand gehindert wird, selbst in die Politik einzusteigen, gegebenenfalls eine eigene Partei zu gründen und es anders zu machen, als es die etablierten Politiker vermeintlich tun. Allerdings hat das Gemecker über die Regierung, wie schon Bismarck erkannte, zumindest in Deutschland Tradition.
Zweitens möchte ich dann doch festhalten, dass eine Gesellschaft aus unterschiedlichsten Interessengruppierungen besteht und nicht eine Gruppierung mehr oder weniger Recht hat, ihre Interessen zu verfolgen und hierzu auf Politker einzuwirken. Lobbyismus wird entlarvenderweise nur dann pejorativ dargestellt, wenn es sich um Konzerne, um nicht zu sagen bestimmte Konzerne handelt (denk nur mal an Konzerne aus dem Sektor regenrative Energien.... ;) ).
Jedenfalls, um auch die letzte Klarheit zu beseitigen, können diverse Maßnahmen unterschiedlichsten Interessengruppen nützen, z.B. Konzern A und dessen Belegschaft (z.B. VW-Gesetz), obwohl Konzern A und dessen Belegschaft in anderen Fragen wiederum gegensätzliche Interessengruppen darstellen.
Drittens muss man auch konstatieren, dass man schlecht beraten ist, jemanden als Erfüllungsgehilfen zu behandeln, nur weil man ihn hierfür hält. Wenn man das "Gefühl" zur Tatsache mutieren lässt, begeht man unweigerlich großes Unrecht!

Fazit:
Über den Bedarf nach personeller Erneuerung kann man reden, doch wird dieses Bedürfnis m.E. aktuell durchaus gedeckt.
Auch über die Rolle der Parteien kann man diskutieren. Insbesondere über ihren Einfluss auf ihre Mitglieder mit Parlamentsmandat.
Grundsätzlichen Erneuerungsbedarf hinsichtlich der Strukturen sehe ich nicht.
Endlich sehe ich auch nicht, dass man den Parlamentariern absprechen könnte, Volksvertreter zu sein. Auch Bundestagsabgeordnete, zumal diejenigen mit Direktmandat, suchen regelmäßig den Kontakt zur Basis. An diesen Veranstaltungen können oft auch Nichtparteimitglieder teilnehmen. Gleiches gilt für die darunter liegenden Ebenen.
Durch ein Plebizit ist "Adolf Nazi" aber nicht an die Macht gekommen, sondern durch die Unfähigkeit oder eher - noch schlimmer - durch den Unwillen der damaligen Politiker, die bestehende Demokratie zu retten. Ich denke da z. B. an den "Preußenschlag" etwa ein halbes Jahr vor der "Machtergreifung". Selbst die sogenannten "Demokraten" waren keine echten Demokraten (mit Ausnahme der SPD) und die Weichen wären höchstwahrscheinlich auch ohne einen "Adolf Nazi" auf Diktatur umgestellt worden. Solange es auch nur halbwegs demokratische Wahlen gab, hatte die NSDAP nie eine absolute Mehrheit und brauchte einen Koalitionspartner und fand ihn auch.
Nein, ein Plebiszit war es nicht. Es war die undemokratische Gesinnung weiter Teile der Bevölkerung, die den nichtdemokratischen Kräften in der Weimarer Republik frühzeitig ein parlamentarisches Übergewicht verschaffte.
Dass nur die SPD echte Demokraten gewesen wären, ist zu verneinen. Sie gab durch ihre Unfähigkeit zum Kompromiss die Weimarer Republik in die Hände radikaler Kräfte, als sie vor den Gewerkschaften kuschte. Ab da herrschten die Ex-Militärs, die zunehmend mit dem Mittel der Notverordnung arbeiteten, welches dem Präsidenten eine praktisch absolutistische Stellung verschaffte.
Dies alles und anderes ebnete Hitler den Weg (vgl. nur http://de.wikipedia.org/wiki/Nationalso ... _seit_1930). Unter Berücksichtigung dieser Hintergründe kommt dem Ermächtigungsgesetz auch keine große Bedeutung mehr zu. Ohne Gesetz wäre dasselbe halt mithilfe einer Notverordnung durchgedrückt worden.
Es ist letztlich auf die antidemokratisch und die demokratisch gesinnten Deutschen zurückzuführen, dass Hitler an die Macht kam. Die einen durch die Wahl radikaler Kräfte, die anderen durch die Unfähigkeit hinsichtlich einer Zusammenarbeit, die mangels Mehrheit unbedingt nötig gewesen wäre!
Schon damals waren die Plebiszite ein Problem (http://de.wikipedia.org/wiki/Plebiszit# ... r_Republik) und sie würden es heute wieder werden, kämen sie erneut groß in Mode. Denn dass die heutige Bevölkerung soviel vernünftiger und freiheitlicher gesinnt wäre als die damalige, das wage ich zu bezweifeln. Da ist mir ein im Schnitt mit gebildeteren und intelligenteren Menschen angefülltes Parlament, das nicht den mit Plebisziten verbundenen Gemütsschwankungen unterworfen ist, als Puffer und Institution für Reflexion und relativer Schutzwall für Populismus und Demagogie doch ganz recht.
sic transit gloria mundi
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