von Johv » 18.05.2011, 21:49
Ich werde euch jetzt einfach mal zeigen, was ich bisher geschrieben habe (die Erläuterungen zum geschichtlichen Hintergund lass ich mal weg, ich nehm mal an, dass ihr da Bescheid wisst
)... Ich würde gerne ein Feedback hören!
2) Wie kann man Geschichte marxistisch deuten?
Die Französische Revolution
Marxistische Deutung
Die Französische Revolution war für Marx ein wichtiger historischer Prozess, da er seine Theorie auch ein stückweit mithilfe der Geschehnisse in Frankreich stützte und entwickelte. Marx und Engels haben jedoch beide keine Untersuchungen über die Französische Revolution veröffentlicht, sondern sich nur stellenweise dazu geäußert.
Engels betont in einer Schrift von 1892:
„Der große Kampf des europäischen Bürgertums gegen den Feudalismus kulminierte in drei großen Entscheidungsschlachten. Die erste war das, was wir die Reformation in Deutschland nennen,… die zweite große Erhebung des Bürgertums … fand in England statt. Die große Französische Revolution war die dritte Erhebung der Bourgeoisie….Sie war aber auch die erste, die wirklich ausgekämpft wurde bis zur Vernichtung … der Aristokratie, zum vollständige Sieg der … Bourgeoisie.“
Friedrich Engels, Über Historischen Materialismus, 1892
Ziemlich deutlich wird in dieser Textstelle, dass Engels in der Französischen Revolution das Finale einer sehr langwierigen Entwicklung hin zum „Sieg der Bourgeoisie“ sieht. Diese Entwicklung begann bereits im 16. Jahrhundert, als das Städtetum aufkam und begann, sich in den neuen, absolutistischen Staat zu integrieren. In dieser Zeit haben sich die großen Monarchien herausgebildet, die jedoch für Marx nur eine Übergangsform darstellten.
Unklar bleibt dabei, ob die Französische Revolution für Marx die eine, große Umwälzung darstellt, die die Gesellschaftsformation neu aufstellt. Es gibt Anzeichen dafür, wie oben angeführt, jedoch keine Belege.
Ebenso unklar ist, ob die Revolution aus einem Widerspruch von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen hervorgegangen ist. Dazu gibt Engels einen Kommentar ab, der sich jedoch nicht direkt auf die Französische Revolution bezieht, sondern auf das Ende des Mittelalters (wobei unklar bleibt, wann er das Ende des Mittelalters datiert):
„Als Europa aus dem Mittelalter herauskam, war das emporkommende Bürgertum… sein revolutionäres Element. Die anerkannte Stellung, die es sich innerhalb der mittelalterlichen Feudalverfassung erobert hatte, war bereits zu eng geworden für seine Expansionskraft. Die freie Entwicklung des Bürgertums vertrug sich nicht mehr mit dem Feudalsystem, das Feudalsystem musste fallen.“
Friedrich Engels, Über Historischen Materialismus, 1892
Faktum ist, dass die Französische Revolution keine ökonomischen Umbrüche in Frankreich brachte. An den Produktionsweisen änderte sich nichts, was ja schließlich im Histomat der eindeutige Indikator für den Beginn einer neuen Gesellschaftsformation ist. Man könnte also sagen, dass die Französische Revolution eine politische, und keine soziale Revolution war, da sie nicht aus ökonomischen Widersprüchen heraus entstanden ist, sondern aus politischen und geistlichen.
Da Engels im selben Text sagt, das Bürgertum habe in der Französischen Revolution den „vollständigen Sieg“ errungen und habe die Aristokratie „vernichtet“, kann man allerdings davon ausgehen, dass er das Ausbrechen der Französischen Revolution wie im obigen Zitat interpretieren würde: Die „Expansionskraft“ des Bürgertums, nicht in ökonomischer, sondern geistlicher und politischer Auslegung, „vertrug sich nicht mehr mit dem Feudalsystem“, weswegen es zum Umsturz kam. Dieser Umsturz ist der letzte und wichtigste von drei großen, historischen Umstürzen und besiegelt den geistigen Übergang in die bürgerliche Gesellschaft in Europa¬ mit den neuen Ideen von Vernunft, Freiheit und Gleichheit- ganz abgesehen vom eigentlich politisch unerfolgreichen Ausgang und von den gleichbleibenden Produktionsweisen. Hier änderte sich der Überbau vor der Basis, was einen Umbruch ausschließt und womit man auch das Scheitern der Revolution marxistisch erklären könnte. Frankreich war noch nicht reif für eine soziale Revolution, da die Produktivkräfte hier noch nicht ausgeschöpft waren.
Anders sah es damals in England aus, wo die Industrielle Revolution längst fortgeschritten war. Und hier liegt die Möglichkeit, die Französische Revolution und die Ideen, die sie hervorbrachte, marxistisch zu deuten: Wenn man die Geschichte im gesamteuropäischen Rahmen sieht, könnte man sagen, dass sich durchaus erst eine Basis änderte (Industrielle Revolution in England ändert die Produktionsverhältnisse) und sich dann ein Überbau aus Ideen und Idealen über ihr erhob (Französische Revolution und die Ideale der Freiheit). So betrachtet kann die Französische Revolution das Ende eines gesamteuropäischen Umbruchs darstellen, der sehr langwierig war und auch erst einige Zeit nach der Revolution seine volle Bandbreite entwickelte- mit der Expansion der Industrialisierung auch nach Frankreich und nach Deutschland, was bis ins Wilhelminische Zeitalter vordringt.
Bismarck und der Sozialstaat
Marxistische Deutung
Es ist kein Geheimnis, dass Bismarck in den Sozialdemokraten eine „gefährliche Räuberbande“ sah und alles tat, um ihre Macht um Deutschen Reich zu schmälern. Dass daraus das Modell eines modernen Staates entsprungen ist, war wohl eher ein zufälliges Resultat als Berechnung Bismarcks. Mit seiner Doppelstrategie von Zugeständnissen und Verboten gegenüber der Arbeiter versuchte er, ihre Macht zu minimieren und sie gleichzeitig an das Deutsche Reich zu binden- trotzdem gewannen sie immer mehr an Zuspruch. Zwar gelang es ihm, sie während seiner kompletten Amtszeit mehr oder minder unter Kontrolle zu halten, doch für den enormen Aufwand, den er betrieb, waren die Erfolge wirklich minimal. Ich gehe später darauf ein, warum das aus marxistischer Sicht so war. Es gibt noch einen zweiten Verdienst Bismarcks, der für uns heute als enorme Errungenschaft gilt: Das Legen des Grundsteines eines funktionierenden, demokratischen Staat durch das Entstehen der Ansätze von Wirtschafts- und Sozialpolitik. Bismarcks Ziel hinter der Einführung der neuen Systeme im Deutschen Reich, wie dem „Kartell der schaffenden Stände“, mit dem er den Grundstein für eine spätere Verbands- und Gewerkschaftsordnung legte, war ganz sicher nicht das Entstehen eines demokratischen Staates. Bismarck war eingefleischter Konservativer, Monarchist und Preuße. Für ihn waren alle diese Neuerungen Mittel zum Zweck, wobei der Zweck immer der Erhalt seiner Machtposition und der des Deutschen Reiches war. Dennoch ist man ihm heute für all diese Errungenschaften dankbar und ehrt seine Person deswegen.
Wie dachten Marx und Engels über Bismarck?
Für die Politik, die Bismarck betrieb, haben Marx und Engels schon lange vor seiner Amtszeit im „Kommunistischen Manifest“ von 1847/48 eine Beurteilung abgegeben. Unter der Überschrift „Der konservative oder Bourgeoissozialismus“ beschreiben und verspotten Marx und Engels jene Bourgeois, die versuchen, soziale Missstände abzuschaffen, die Lage des Proletariats zu verbessern und so die Gesellschaft vor der sozialistischen Revolution zu bewahren. Diese Menschen behaupten zwar, im Interesse der arbeitenden Klasse zu agieren, streben aber eigentlich nur Verbesserungen im eigenen Interesse an:
„Es gehören hierher: … Verbesserer der Lage der arbeitenden Klasse. Und auch zu ganzen Systemen ist dieser Bourgeoissozialismus ausgearbeitet worden. … Die sozialistischen Bourgeois wollen … die Bourgeoisie ohne das Proletariat.“
Marx/Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, 1847/48
Wenn man so will, beschreibt dieser kurze Absatz genau das Vorgehen Bismarcks mit Einführung der Gewerkschaften und Versicherungen, mit dem Unterschied, dass er seine wahren Ziele hinter diesen administrativen Verbesserungen gar nicht zu verschleiern suchte oder überhaupt konnte: Die Sozialistengesetze taten ihr übriges um zu beweisen, dass Bismarck nicht wirklich an der Lage der Arbeiter interessiert sein konnte. Er wollte lediglich- um es in Marx‘ Dialektik auszudrücken- erreichen, dass die Arbeiter mehr zu verlieren hatten als „nur ihre Ketten“ und somit keine Revolution anzetteln würden.
Marx hatte- zumindest anfangs- eine radikale Sicht der Demokratie. Er sah im Staat nur ein Interessengefüge der herrschenden Klasse, der moderne Repräsentativstaat war für ihn Herrschaftsinstrument der Bourgeoisie. Das Proletariat müsse ihn zerschlagen und ihn durch den proletarischen Staat ersetzen.
Diese radikale Auffassung änderte sich ein stückweit nach 1871, so schreibt Engels:
„Man kann sich vorstellen, die alte Gesellschaft könne friedlich in die neue hineinwachsen in Ländern, wo die Volksvertretung alle Macht in sich konzentriert, wo man verfassungsmäßig tun kann, was man will, sobald man die Majorität des Volkes hinter sich hat: in demokratischen Republiken wie Frankreich und Amerika, in Monarchien wie in England, ... wo diese Dynastie gegen den Volkswillen ohnmächtig ist.“
Engels, Kritik des SPD-Programms von 1891
Auch ihre Meinung über Bismarck als Person änderte sich: Anfangs bezeichnete Marx ihn noch als „Esel“ und nannte ihn „Pißmarck“- nach der Reichsgründung jedoch zollten Marx wie Engels Bismarck Respekt und sahen ihn ihm einen „bonapartistischen Halbdiktator“ und nannten ihn sogar einen „preußischen Revolutionär von oben“. Engels schrieb in einem Brief an Marx 1870:
"Bismarck tut ein Stück unserer Arbeit in seiner Weise ohne es zu wollen. Er schafft reineren Bord als vorher."
Brief von Engels an Marx vom 15.8.1870
Man kann also davon ausgehen, dass Marx und Engels Bismarck als Person- als preußischen, monarchistischen und konservativen Junker- ablehnten, jedoch das, was er erreichte, ganz abgesehen von seiner Intention dahinter, durchaus begrüßten. Von der Ablehnung Marxens gegen Bismarck kann man schon deswegen ausgehen, weil es zahlreiche Belege gibt, dass Marx eine sehr starke Ablehnung gegen Preußen hegte und bis 1866 jeden Machtzuwachs ablehnte. Nach dem Sieg bei Königgrätz gegen Österreich jedoch änderte sich diese Auffassung etwas und zum Deutsch-Französischen-Krieg kam der Nationalstolz Marxens ein stückweit hervor, er begann, Vorteile in der Entwicklung zu sehen:
"Die Franzosen brauchen Prügel. Siegen die Preußen, so ist die Zentralisation der state power nützlich der Zentralisation der deutschen Arbeiterklasse."
Brief von Marx an Engels vom 20.06.1870 (einen Tag nach Kriegsausbruch)
Man kann also folgendes zusammenfassen: Zu Anfang waren Marx und Engels noch etwas unflexibler in ihrer Idee von Klassenkampf und Materialismus verankert. Vor allem Marx konnte dem preußischen Staat und alles, wofür er stand, nichts Positives abgewinnen. Anfangs sahen beide Theoretiker, wie man im „Kommunistischen Manifest“ nachlesen kann, in jeder administrativen Verbesserung der Situation der Arbeiter bloß einen Versuch zur Verhinderung der sozialistischen Revolution. An dieser Auffassung hielten sie wahrscheinlich auch fest. Trotzdem: mit der Machtgewinnung Bismarcks und Preußens und vor allem nach der Gründung des Deutschen Reiches (was Marx sehr begrüßte, er war sehr patriotisch) änderten beide ihre Meinung über Bismarck und begannen in seinen, für die damalige Zeit durchaus revolutionären Veränderungen des Staatswesens einen Segen für die Arbeiterklasse zu sehen. Eine Zentralisation des deutschen Staates bedeutete für sie auch eine Zentralisation der Arbeiterbewegung, wovon sie sich neue Chancen versprachen.
Deutung
Wenn man Bismarck also in einer marxistischen Weise betrachtet, dann wird aus dem Reformator, dem Begründer des modernen Staates ein Mann, der völlig unbewusst und völlig wider seinem Willen den Grundstein legte für einen Staat, der völlig seiner Vorstellung widersprach: Er liberalisierte die Politik, aktivierte mit seiner Doppelstrategie die Arbeiterbewegung (zusätzlich), er legte den Grundstein für die moderne Demokratie, kurz: Er erreichte das Gegenteil von dem, was er erreichen wollte, wenn man sich die heutigen Auswirkungen seiner Amtszeit anschaut.
Außerdem kann man marxistisch betrachtet sagen, dass er ein stückweit den Entwicklungen seiner Zeit ausgeliefert war: Die Geschichte folgte nach Marx der materialistischen Evolution, in der Bismarcks antagonistischen Ideen keinen Erfolg haben konnten und in der all sein Handeln letztlich seinen Gegnern in die Hand spielte, was sich zum Beispiel daran zeigt, dass sein Kampf gegen die Sozialdemokratie so unerfolgreich war. Jeder Versuch seinerseits, eine „alte Ordnung“ beizubehalten, beförderte letztlich die Entwicklung einer neuen Ordnung.
So verliert er die Rolle des „großen Politikers“ in dem Sinne, dass als Folge Auswirkungen seiner Politik (die Basis, die er schuf) Ideen entstanden und sich weiterentwickelten (der Überbau), die mit seinen eigenen Überzeugungen nichts zu tun hatten. Die materialistische Evolution nach Marx verhinderte den antagonistischen Kurs Bismarcks auf ganz natürliche Weise. All die Errungenschaften, für die er heute geehrt wird, waren unvermeidbar die Folge des geschichtlichen „Mechanismus“ und nicht Folge von Bismarcks Handeln. Außerdem entsprachen sie nie seiner Intention, sondern widersprechen ihr sogar in hohem Maße.
3) Bietet der Histomat heute noch Perspektiven für mehr Gerechtigkeit?
Es ist heutzutage mehr oder weniger unumstritten, dass Marx sich in seiner Vorhersage der sozialistischen Revolution, die er ja als unvermeidlich ansah, geirrt hat. Zwar gibt es Menschen, die noch auf die besagte Revolution warten und daran glauben, dass sie noch eintritt, aber die dafür angeführten Argumente wirken meist schwach. Man kann wohl sagen, dass Marx vor allem einen Fehler beging: er hat den Kapitalismus und die Produktivkräfte, die er freisetzen kann, gnadenlos unterschätzt. Er ging davon aus, dass die Produktivkraft des Kapitalismus sich in naher Zukunft ausschöpfen würde und damit die Revolution bald eintreten würde. Dinge wie die Entwicklung des Dienstleistungsgewerbes, das Ausmaß der Globalisierung und das Entstehen des Weltmarktes in seiner heutigen Form konnte er unmöglich vorhersehen. Auch, wenn seine These der Zukunft heute weitestgehend als falsch gilt, ändert das jedoch nichts an seiner Brillanz bezüglich der Durchdringung des ökonomischen Systems und der Bedeutung von Ökonomie für den Verlauf der Weltgeschichte. Er war der erste, der Ökonomie in einen solchen Zusammenhang bringen konnte uns stellte damit Historiker vor eine neue Aufgabe, in der sie geschichtliche Prozesse sehr vielschichtiger deuten lernten. Seine Thesen und vor allem der Histomat sind nicht umsonst heute noch von zentraler Bedeutung, wenn es um Geschichtsanalyse geht.
So kann man den Histomat auch auf heutige Entwicklungen anwenden. Die prägnanteste und wichtigste neuere Entwicklung in der Ökonomie ist fraglos die Globalisierung und alles, was sie beinhaltet. Sie stellt uns heute vor wichtige, ethische Fragen, deren Antworten man auch mithilfe des Histomat zu finden versuchen kann.
Heutzutage muss man, aufgrund der Entwicklung der Wirtschaft, die Ökonomie global betrachten. Die Länder der Welt passen sich immer mehr an einen vom Westen vorgegebenen Standard an und es gibt nur noch vereinzelt Länder, die sich der Weltwirtschaft entziehen können. Es wird ein unglaublicher Anpassungsdruck auf ärmere Länder und Nationen ausgeübt.
Wenn man die momentane Weltwirtschaft marxistisch betrachtet, fällt auf, dass man die Gesellschaft ziemlich gut in zwei Klassen aufteilen kann: Konsumenten und Produzenten. Klar ist auch, dass wir als Europäer zu den Konsumenten, und damit zu den Ausbeutern, zählen. Wir genießen den Luxus von billiger Nahrung und Kleidung nur deshalb, weil wir als herrschende Klasse- relativ unbewusst- Menschen ausbeuten. Anders als zu den Zeiten Marx haben wir als Ausbeuter keinen direkten Kontakt mehr zu den Ausgebeuteten- mit Ausnahme der Repräsentanten vor Ort. Durch die räumliche Entfernung und das jahrzehntelange Augenverschließen gegenüber dieser Entwicklung sind wir uns dessen wenig bis gar nicht bewusst- und sind uns deswegen auch keiner Schuld bewusst. Es existieren, mit wenigen Ausnahmen, keine zwei Klassen mehr innerhalb einer Nation, sondern die ganze Nation bildet eine Klasse. Diese Entwicklung führt dazu, dass wir uns nicht als Ausbeuter fühlen.
Schon allein diese Erkenntnis, zu der man mit Betrachtung des Histomat kommt, bietet schon eine klare Perspektive für mehr Gerechtigkeit. Denn wenn man sich selbst in einer Linie mit Sklavenhaltern, Lehnsherren und Industriebossen sieht, hat das eine abschreckende Wirkung und es wird einem bewusst, in welcher Position man sich ökonomisch befindet. Jeder kann dann selbst entscheiden, ob er weiterhin Teil dieser Gemeinschaft sein möchte oder sich- soweit das in unserer heutigen Gesellschaft möglich ist- aus diesem ausbeuterischen System ausklinken möchte.
Ich werde euch jetzt einfach mal zeigen, was ich bisher geschrieben habe (die Erläuterungen zum geschichtlichen Hintergund lass ich mal weg, ich nehm mal an, dass ihr da Bescheid wisst ;) )... Ich würde gerne ein Feedback hören!
[b]2) Wie kann man Geschichte marxistisch deuten?[/b]
[b]Die Französische Revolution[/b]
Marxistische Deutung
Die Französische Revolution war für Marx ein wichtiger historischer Prozess, da er seine Theorie auch ein stückweit mithilfe der Geschehnisse in Frankreich stützte und entwickelte. Marx und Engels haben jedoch beide keine Untersuchungen über die Französische Revolution veröffentlicht, sondern sich nur stellenweise dazu geäußert.
Engels betont in einer Schrift von 1892:
„Der große Kampf des europäischen Bürgertums gegen den Feudalismus kulminierte in drei großen Entscheidungsschlachten. Die erste war das, was wir die Reformation in Deutschland nennen,… die zweite große Erhebung des Bürgertums … fand in England statt. Die große Französische Revolution war die dritte Erhebung der Bourgeoisie….Sie war aber auch die erste, die wirklich ausgekämpft wurde bis zur Vernichtung … der Aristokratie, zum vollständige Sieg der … Bourgeoisie.“
Friedrich Engels, Über Historischen Materialismus, 1892
Ziemlich deutlich wird in dieser Textstelle, dass Engels in der Französischen Revolution das Finale einer sehr langwierigen Entwicklung hin zum „Sieg der Bourgeoisie“ sieht. Diese Entwicklung begann bereits im 16. Jahrhundert, als das Städtetum aufkam und begann, sich in den neuen, absolutistischen Staat zu integrieren. In dieser Zeit haben sich die großen Monarchien herausgebildet, die jedoch für Marx nur eine Übergangsform darstellten.
Unklar bleibt dabei, ob die Französische Revolution für Marx die eine, große Umwälzung darstellt, die die Gesellschaftsformation neu aufstellt. Es gibt Anzeichen dafür, wie oben angeführt, jedoch keine Belege.
Ebenso unklar ist, ob die Revolution aus einem Widerspruch von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen hervorgegangen ist. Dazu gibt Engels einen Kommentar ab, der sich jedoch nicht direkt auf die Französische Revolution bezieht, sondern auf das Ende des Mittelalters (wobei unklar bleibt, wann er das Ende des Mittelalters datiert):
„Als Europa aus dem Mittelalter herauskam, war das emporkommende Bürgertum… sein revolutionäres Element. Die anerkannte Stellung, die es sich innerhalb der mittelalterlichen Feudalverfassung erobert hatte, war bereits zu eng geworden für seine Expansionskraft. Die freie Entwicklung des Bürgertums vertrug sich nicht mehr mit dem Feudalsystem, das Feudalsystem musste fallen.“
Friedrich Engels, Über Historischen Materialismus, 1892
Faktum ist, dass die Französische Revolution keine ökonomischen Umbrüche in Frankreich brachte. An den Produktionsweisen änderte sich nichts, was ja schließlich im Histomat der eindeutige Indikator für den Beginn einer neuen Gesellschaftsformation ist. Man könnte also sagen, dass die Französische Revolution eine politische, und keine soziale Revolution war, da sie nicht aus ökonomischen Widersprüchen heraus entstanden ist, sondern aus politischen und geistlichen.
Da Engels im selben Text sagt, das Bürgertum habe in der Französischen Revolution den „vollständigen Sieg“ errungen und habe die Aristokratie „vernichtet“, kann man allerdings davon ausgehen, dass er das Ausbrechen der Französischen Revolution wie im obigen Zitat interpretieren würde: Die „Expansionskraft“ des Bürgertums, nicht in ökonomischer, sondern geistlicher und politischer Auslegung, „vertrug sich nicht mehr mit dem Feudalsystem“, weswegen es zum Umsturz kam. Dieser Umsturz ist der letzte und wichtigste von drei großen, historischen Umstürzen und besiegelt den geistigen Übergang in die bürgerliche Gesellschaft in Europa¬ mit den neuen Ideen von Vernunft, Freiheit und Gleichheit- ganz abgesehen vom eigentlich politisch unerfolgreichen Ausgang und von den gleichbleibenden Produktionsweisen. Hier änderte sich der Überbau vor der Basis, was einen Umbruch ausschließt und womit man auch das Scheitern der Revolution marxistisch erklären könnte. Frankreich war noch nicht reif für eine soziale Revolution, da die Produktivkräfte hier noch nicht ausgeschöpft waren.
Anders sah es damals in England aus, wo die Industrielle Revolution längst fortgeschritten war. Und hier liegt die Möglichkeit, die Französische Revolution und die Ideen, die sie hervorbrachte, marxistisch zu deuten: Wenn man die Geschichte im gesamteuropäischen Rahmen sieht, könnte man sagen, dass sich durchaus erst eine Basis änderte (Industrielle Revolution in England ändert die Produktionsverhältnisse) und sich dann ein Überbau aus Ideen und Idealen über ihr erhob (Französische Revolution und die Ideale der Freiheit). So betrachtet kann die Französische Revolution das Ende eines gesamteuropäischen Umbruchs darstellen, der sehr langwierig war und auch erst einige Zeit nach der Revolution seine volle Bandbreite entwickelte- mit der Expansion der Industrialisierung auch nach Frankreich und nach Deutschland, was bis ins Wilhelminische Zeitalter vordringt.
[b]Bismarck und der Sozialstaat[/b]
Marxistische Deutung
Es ist kein Geheimnis, dass Bismarck in den Sozialdemokraten eine „gefährliche Räuberbande“ sah und alles tat, um ihre Macht um Deutschen Reich zu schmälern. Dass daraus das Modell eines modernen Staates entsprungen ist, war wohl eher ein zufälliges Resultat als Berechnung Bismarcks. Mit seiner Doppelstrategie von Zugeständnissen und Verboten gegenüber der Arbeiter versuchte er, ihre Macht zu minimieren und sie gleichzeitig an das Deutsche Reich zu binden- trotzdem gewannen sie immer mehr an Zuspruch. Zwar gelang es ihm, sie während seiner kompletten Amtszeit mehr oder minder unter Kontrolle zu halten, doch für den enormen Aufwand, den er betrieb, waren die Erfolge wirklich minimal. Ich gehe später darauf ein, warum das aus marxistischer Sicht so war. Es gibt noch einen zweiten Verdienst Bismarcks, der für uns heute als enorme Errungenschaft gilt: Das Legen des Grundsteines eines funktionierenden, demokratischen Staat durch das Entstehen der Ansätze von Wirtschafts- und Sozialpolitik. Bismarcks Ziel hinter der Einführung der neuen Systeme im Deutschen Reich, wie dem „Kartell der schaffenden Stände“, mit dem er den Grundstein für eine spätere Verbands- und Gewerkschaftsordnung legte, war ganz sicher nicht das Entstehen eines demokratischen Staates. Bismarck war eingefleischter Konservativer, Monarchist und Preuße. Für ihn waren alle diese Neuerungen Mittel zum Zweck, wobei der Zweck immer der Erhalt seiner Machtposition und der des Deutschen Reiches war. Dennoch ist man ihm heute für all diese Errungenschaften dankbar und ehrt seine Person deswegen.
Wie dachten Marx und Engels über Bismarck?
Für die Politik, die Bismarck betrieb, haben Marx und Engels schon lange vor seiner Amtszeit im „Kommunistischen Manifest“ von 1847/48 eine Beurteilung abgegeben. Unter der Überschrift „Der konservative oder Bourgeoissozialismus“ beschreiben und verspotten Marx und Engels jene Bourgeois, die versuchen, soziale Missstände abzuschaffen, die Lage des Proletariats zu verbessern und so die Gesellschaft vor der sozialistischen Revolution zu bewahren. Diese Menschen behaupten zwar, im Interesse der arbeitenden Klasse zu agieren, streben aber eigentlich nur Verbesserungen im eigenen Interesse an:
„Es gehören hierher: … Verbesserer der Lage der arbeitenden Klasse. Und auch zu ganzen Systemen ist dieser Bourgeoissozialismus ausgearbeitet worden. … Die sozialistischen Bourgeois wollen … die Bourgeoisie ohne das Proletariat.“
Marx/Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, 1847/48
Wenn man so will, beschreibt dieser kurze Absatz genau das Vorgehen Bismarcks mit Einführung der Gewerkschaften und Versicherungen, mit dem Unterschied, dass er seine wahren Ziele hinter diesen administrativen Verbesserungen gar nicht zu verschleiern suchte oder überhaupt konnte: Die Sozialistengesetze taten ihr übriges um zu beweisen, dass Bismarck nicht wirklich an der Lage der Arbeiter interessiert sein konnte. Er wollte lediglich- um es in Marx‘ Dialektik auszudrücken- erreichen, dass die Arbeiter mehr zu verlieren hatten als „nur ihre Ketten“ und somit keine Revolution anzetteln würden.
Marx hatte- zumindest anfangs- eine radikale Sicht der Demokratie. Er sah im Staat nur ein Interessengefüge der herrschenden Klasse, der moderne Repräsentativstaat war für ihn Herrschaftsinstrument der Bourgeoisie. Das Proletariat müsse ihn zerschlagen und ihn durch den proletarischen Staat ersetzen.
Diese radikale Auffassung änderte sich ein stückweit nach 1871, so schreibt Engels:
„Man kann sich vorstellen, die alte Gesellschaft könne friedlich in die neue hineinwachsen in Ländern, wo die Volksvertretung alle Macht in sich konzentriert, wo man verfassungsmäßig tun kann, was man will, sobald man die Majorität des Volkes hinter sich hat: in demokratischen Republiken wie Frankreich und Amerika, in Monarchien wie in England, ... wo diese Dynastie gegen den Volkswillen ohnmächtig ist.“
Engels, Kritik des SPD-Programms von 1891
Auch ihre Meinung über Bismarck als Person änderte sich: Anfangs bezeichnete Marx ihn noch als „Esel“ und nannte ihn „Pißmarck“- nach der Reichsgründung jedoch zollten Marx wie Engels Bismarck Respekt und sahen ihn ihm einen „bonapartistischen Halbdiktator“ und nannten ihn sogar einen „preußischen Revolutionär von oben“. Engels schrieb in einem Brief an Marx 1870:
"Bismarck tut ein Stück unserer Arbeit in seiner Weise ohne es zu wollen. Er schafft reineren Bord als vorher."
Brief von Engels an Marx vom 15.8.1870
Man kann also davon ausgehen, dass Marx und Engels Bismarck als Person- als preußischen, monarchistischen und konservativen Junker- ablehnten, jedoch das, was er erreichte, ganz abgesehen von seiner Intention dahinter, durchaus begrüßten. Von der Ablehnung Marxens gegen Bismarck kann man schon deswegen ausgehen, weil es zahlreiche Belege gibt, dass Marx eine sehr starke Ablehnung gegen Preußen hegte und bis 1866 jeden Machtzuwachs ablehnte. Nach dem Sieg bei Königgrätz gegen Österreich jedoch änderte sich diese Auffassung etwas und zum Deutsch-Französischen-Krieg kam der Nationalstolz Marxens ein stückweit hervor, er begann, Vorteile in der Entwicklung zu sehen:
"Die Franzosen brauchen Prügel. Siegen die Preußen, so ist die Zentralisation der state power nützlich der Zentralisation der deutschen Arbeiterklasse."
Brief von Marx an Engels vom 20.06.1870 (einen Tag nach Kriegsausbruch)
Man kann also folgendes zusammenfassen: Zu Anfang waren Marx und Engels noch etwas unflexibler in ihrer Idee von Klassenkampf und Materialismus verankert. Vor allem Marx konnte dem preußischen Staat und alles, wofür er stand, nichts Positives abgewinnen. Anfangs sahen beide Theoretiker, wie man im „Kommunistischen Manifest“ nachlesen kann, in jeder administrativen Verbesserung der Situation der Arbeiter bloß einen Versuch zur Verhinderung der sozialistischen Revolution. An dieser Auffassung hielten sie wahrscheinlich auch fest. Trotzdem: mit der Machtgewinnung Bismarcks und Preußens und vor allem nach der Gründung des Deutschen Reiches (was Marx sehr begrüßte, er war sehr patriotisch) änderten beide ihre Meinung über Bismarck und begannen in seinen, für die damalige Zeit durchaus revolutionären Veränderungen des Staatswesens einen Segen für die Arbeiterklasse zu sehen. Eine Zentralisation des deutschen Staates bedeutete für sie auch eine Zentralisation der Arbeiterbewegung, wovon sie sich neue Chancen versprachen.
Deutung
Wenn man Bismarck also in einer marxistischen Weise betrachtet, dann wird aus dem Reformator, dem Begründer des modernen Staates ein Mann, der völlig unbewusst und völlig wider seinem Willen den Grundstein legte für einen Staat, der völlig seiner Vorstellung widersprach: Er liberalisierte die Politik, aktivierte mit seiner Doppelstrategie die Arbeiterbewegung (zusätzlich), er legte den Grundstein für die moderne Demokratie, kurz: Er erreichte das Gegenteil von dem, was er erreichen wollte, wenn man sich die heutigen Auswirkungen seiner Amtszeit anschaut.
Außerdem kann man marxistisch betrachtet sagen, dass er ein stückweit den Entwicklungen seiner Zeit ausgeliefert war: Die Geschichte folgte nach Marx der materialistischen Evolution, in der Bismarcks antagonistischen Ideen keinen Erfolg haben konnten und in der all sein Handeln letztlich seinen Gegnern in die Hand spielte, was sich zum Beispiel daran zeigt, dass sein Kampf gegen die Sozialdemokratie so unerfolgreich war. Jeder Versuch seinerseits, eine „alte Ordnung“ beizubehalten, beförderte letztlich die Entwicklung einer neuen Ordnung.
So verliert er die Rolle des „großen Politikers“ in dem Sinne, dass als Folge Auswirkungen seiner Politik (die Basis, die er schuf) Ideen entstanden und sich weiterentwickelten (der Überbau), die mit seinen eigenen Überzeugungen nichts zu tun hatten. Die materialistische Evolution nach Marx verhinderte den antagonistischen Kurs Bismarcks auf ganz natürliche Weise. All die Errungenschaften, für die er heute geehrt wird, waren unvermeidbar die Folge des geschichtlichen „Mechanismus“ und nicht Folge von Bismarcks Handeln. Außerdem entsprachen sie nie seiner Intention, sondern widersprechen ihr sogar in hohem Maße.
[b]3) Bietet der Histomat heute noch Perspektiven für mehr Gerechtigkeit?[/b]
Es ist heutzutage mehr oder weniger unumstritten, dass Marx sich in seiner Vorhersage der sozialistischen Revolution, die er ja als unvermeidlich ansah, geirrt hat. Zwar gibt es Menschen, die noch auf die besagte Revolution warten und daran glauben, dass sie noch eintritt, aber die dafür angeführten Argumente wirken meist schwach. Man kann wohl sagen, dass Marx vor allem einen Fehler beging: er hat den Kapitalismus und die Produktivkräfte, die er freisetzen kann, gnadenlos unterschätzt. Er ging davon aus, dass die Produktivkraft des Kapitalismus sich in naher Zukunft ausschöpfen würde und damit die Revolution bald eintreten würde. Dinge wie die Entwicklung des Dienstleistungsgewerbes, das Ausmaß der Globalisierung und das Entstehen des Weltmarktes in seiner heutigen Form konnte er unmöglich vorhersehen. Auch, wenn seine These der Zukunft heute weitestgehend als falsch gilt, ändert das jedoch nichts an seiner Brillanz bezüglich der Durchdringung des ökonomischen Systems und der Bedeutung von Ökonomie für den Verlauf der Weltgeschichte. Er war der erste, der Ökonomie in einen solchen Zusammenhang bringen konnte uns stellte damit Historiker vor eine neue Aufgabe, in der sie geschichtliche Prozesse sehr vielschichtiger deuten lernten. Seine Thesen und vor allem der Histomat sind nicht umsonst heute noch von zentraler Bedeutung, wenn es um Geschichtsanalyse geht.
So kann man den Histomat auch auf heutige Entwicklungen anwenden. Die prägnanteste und wichtigste neuere Entwicklung in der Ökonomie ist fraglos die Globalisierung und alles, was sie beinhaltet. Sie stellt uns heute vor wichtige, ethische Fragen, deren Antworten man auch mithilfe des Histomat zu finden versuchen kann.
Heutzutage muss man, aufgrund der Entwicklung der Wirtschaft, die Ökonomie global betrachten. Die Länder der Welt passen sich immer mehr an einen vom Westen vorgegebenen Standard an und es gibt nur noch vereinzelt Länder, die sich der Weltwirtschaft entziehen können. Es wird ein unglaublicher Anpassungsdruck auf ärmere Länder und Nationen ausgeübt.
Wenn man die momentane Weltwirtschaft marxistisch betrachtet, fällt auf, dass man die Gesellschaft ziemlich gut in zwei Klassen aufteilen kann: Konsumenten und Produzenten. Klar ist auch, dass wir als Europäer zu den Konsumenten, und damit zu den Ausbeutern, zählen. Wir genießen den Luxus von billiger Nahrung und Kleidung nur deshalb, weil wir als herrschende Klasse- relativ unbewusst- Menschen ausbeuten. Anders als zu den Zeiten Marx haben wir als Ausbeuter keinen direkten Kontakt mehr zu den Ausgebeuteten- mit Ausnahme der Repräsentanten vor Ort. Durch die räumliche Entfernung und das jahrzehntelange Augenverschließen gegenüber dieser Entwicklung sind wir uns dessen wenig bis gar nicht bewusst- und sind uns deswegen auch keiner Schuld bewusst. Es existieren, mit wenigen Ausnahmen, keine zwei Klassen mehr innerhalb einer Nation, sondern die ganze Nation bildet eine Klasse. Diese Entwicklung führt dazu, dass wir uns nicht als Ausbeuter fühlen.
Schon allein diese Erkenntnis, zu der man mit Betrachtung des Histomat kommt, bietet schon eine klare Perspektive für mehr Gerechtigkeit. Denn wenn man sich selbst in einer Linie mit Sklavenhaltern, Lehnsherren und Industriebossen sieht, hat das eine abschreckende Wirkung und es wird einem bewusst, in welcher Position man sich ökonomisch befindet. Jeder kann dann selbst entscheiden, ob er weiterhin Teil dieser Gemeinschaft sein möchte oder sich- soweit das in unserer heutigen Gesellschaft möglich ist- aus diesem ausbeuterischen System ausklinken möchte.