von Orianne » 23.09.2014, 13:33
In der Nacht vom 14. auf den 15. Mai 1940 rechnete die schweizerische Armeeführung mit dem Angriff der Nazis. «Seit heute früh», schrieb Major Barbey in sein Tagebuch, «mehren sich die Nachrichten und Gerüchte der verschiedensten Herkunft, die sich alle auf die gleiche Formel bringen lassen: ‹Es ist heute Nacht zwischen zwei und vier Uhr.› Ich habe meinen Offizierskoffer gepackt.» Bernard Barbey war Chef des persönlichen Stabes von General Henri Guisan, dem Oberbefehlshaber der Schweizer Armee im Zweiten Weltkrieg.
Général Henri Guisan *21. Oktober 1874 † 7. April 1960 (Bild aus meiner Sammlung von mir koloriert)
Einige Tage zuvor, am 10. Mai 1940, war die Wehrmacht in den Niederlanden und Belgien eingebrochen. Mit unheimlichem Druck hatten die deutschen Panzer ihren Gegner vor sich hergetrieben, bald drangen sie in Frankreich ein. Die Schweiz hatte schon einen Tag nach Beginn der Offensive im Westen ihre Armee erneut vollständig mobilisiert, am Pfingstsamstag, den 11. Mai, einem besonders schönen, sonnigen Frühlingstag. 450 000 Mann Kampftruppen, 250 000 Hilfsdienstpflichtige standen im Feld. «Unsere Armee ist bereit, ihre Pflicht an allen Grenzen zu erfüllen», schrieb General Guisan an alle Soldaten. «Mit der letzten Energie wird sie die Freiheit unseres Landes verteidigen gegen jeden Angreifer, wer es auch sei. Wir werden alle, wenn es sein muss, uns für unsere Kinder und für die Zukunft unseres schönen Vaterlandes opfern.»
Am Abend des 14. Mai, als im Dienstquartier des Generals in Gümligen bei Bern der Pikettoffizier Abschiedsbriefe schrieb, während die anderen Offiziere wie befohlen sich ins Bett begeben hatten, war auch der Oberbefehlshaber schlafen gegangen. Nicht im Schloss aus dem 18. Jahrhundert, das man bezogen hatte, sondern in einer Kaverne eines Steinbruchs, den man erst vor kurzem für den General als bombensicheres Notquartier eingerichtet hatte. Am nächsten Morgen erschien er um zehn vor acht wieder im Schloss. Wie gut er geschlafen hat, entzieht sich den Kenntnissen der Nachwelt. Jedenfalls war ihm zugetragen worden, dass einige hohe Offiziere nur unruhigen Schlaf gefunden hatten, so dass er noch am gleichen Tag in einem Befehl an die Soldaten schrieb: «Ich erinnere an die hohe Pflicht des Soldaten, an Ort und Stelle erbittert Widerstand zu leisten. Die Schützentrupps, die überholt oder umzingelt sind, kämpfen in ihrer Stellung, bis keine Munition mehr vorhanden ist. Dann kommt die blanke Waffe an die Reihe. Solange ein Mann noch eine Patrone hat oder sich seiner blanken Waffen noch zu bedienen vermag, ergibt er sich nicht.»
Der Mai 1940 war die schwierigste Zeit in der Geschichte der Schweiz: Nie schien das Land bedrohter. Was niemand für möglich gehalten hatte, trat im Juni ein, als Frankreich, das im Ersten Weltkrieg vier Jahre lang den Deutschen getrotzt hatte, nach nur sechs Wochen zusammenbrach. Erschüttert beobachteten die Schweizer, wie ihr letzter demokratischer Nachbar, Hitler um Waffenstillstand bat. Manche verloren den Glauben an die Überlebensfähigkeit des Landes.
Was hatte die eidgenössische Armee auszurichten, deren Soldaten in schlechtgeschnittenen grauen Uniformen steckten und deren Geschütze zum Teil aus dem 19. Jahrhundert stammten? Panzerabwehrwaffen fehlten, um dem deutschen Blitzkrieg zu stoppen. Flugzeuge standen wenige bereit. Es gab mehr Piloten als Maschinen.
«Solange in Europa Millionen von Bewaffneten stehen», sagte General Guisan, «und solange bedeutende Kräfte jederzeit gegen uns zum Angriff schreiten können, hat die Armee auf ihrem Posten zu stehen.» General Guisan stieg im Sommer 1940 zum Helden auf. Klarer als jeder Bundesrat sprach er aus, was die verängstigten Menschen hören wollten. Den Eigensinn, an dem die Schweizer von jeher hingen, verkörperte keiner besser als dieser patrizisch anmutende Sohn eines Landarztes aus dem Waadtland. Ein charmanter Herrenreiter, der sich viel auf seine Pferde einbildete, wurde zum Idol der eingefleischten Demokraten.
Im Sommer 1940 entschied Guisan das Schicksal der Schweiz. Wochenlang hatte er mit sich gerungen, er war unsicher, veranstaltete Diskussionen in der Armeespitze, selbst die Idee stammte nicht von ihm, ja anfänglich hatte er sie gar abgelehnt. Doch am 10. Juli 1940 befahl Guisan der schweizerischen Armee den Rückzug ins Réduit, einen engumgrenzten Raum in den Alpen zwischen Sargans im Osten und St-Maurice im Westen. Das Mittelland sollte nur mehr von ein paar Grenzbrigaden verteidigt werden, während der Grossteil der Armee in den Bergen sich verschanzte, um, wie ein Offizier schimpfte, der damals den Schritt bekämpft hatte, «Gebirgsstöcke und Gletscher» zu bewachen. Industrie, Alte, Kinder und Mütter: Kaum wären die Nazis eingedrungen, hätte man sie fast schutzlos zurückgelassen. Das war der Armeeführung bewusst – deshalb hatte man gezögert. Doch kaum war der Entscheid gefallen, vertrat Guisan diesen kühnsten Strategiewechsel der Schweizer Militärgeschichte mit einer Selbstsicherheit, als wäre er im Réduit geboren.
Operation Tannenbaum
Militärisch, das belegen ihre Berichte, hielten die Deutschen eine Eroberung der Schweiz für rasch machbar: In ein bis zwei Tagen wären Zürich und Bern besetzt, in vier bis sechs Tagen stünden sie am Alpenrand, glaubten sie, je nach Planung. Weil sie jedoch die Schweizer für kriegstüchtig hielten, wollten sie recht viele Truppen einsetzen: Zwischen 11 und 21 Divisionen, was je nachdem über 200 000 Soldaten bedeutet hätte. Dänemark hatten die Deutschen mit zweieinhalb Divisionen überrannt, Norwegen mit sechs. «Kampfkraft und Kampfmoral des Schweizer Heeres sind zweifellos gut», schrieb der deutsche Generalstabsoffizier Bodo Zimmermann, der im Herbst 1940 eine Angriffsstudie verfasste. «Die Eigenart des Landes hat zu guter Geländeausnützung und zu besondern Fähigkeiten im Kleinkrieg geführt. Auch die technische Ausbildung des Schweizer Heeres ist beachtlich. Es ist also anfänglich mit zähem Widerstand zu rechnen.» Immer aber ging es den Deutschen darum, die schweizerische Armee auszuschalten, bevor sie sich in die Berge zurückziehen konnte. In allen Studien, auch späteren, wird betont, dass ein Kampf im Gebirge «unkalkulierbar» wäre. Die Berge schreckten ab. Als Zimmermann seinen Bericht ablieferte, war ihm nicht bewusst, dass die Schweizer sich daran machten, sich ins Réduit in den Alpen zurückzuziehen. Vom «Réduit national» hatte Zimmermann zwar vernommen, glaubte aber, dass es im Mittelland liege.
Ohne Zweifel erschwerte das Réduit die Eroberung der Schweiz.
Doch die grösste Leistung Guisans bestand darin, einem Land, das an sich zweifelte, die Zuversicht zurückgegeben zu haben, Herr des eigenen Schicksals zu sein. 1945 trat Guisan als General zurück mit der Meldung "Dienst erfüllt, ich melde mich ab", 1947 übergab er seinen 270 Seiten starken Bericht dem Bundesrat. 1960 starb Henri Guisan in Pully. Fast 300'000 Leute nahmen Abschied von dem grossen asketischen Mann.
Quellen: Buch Henri Guisan von Markus Somm, eigene Aufzeichnungen
Henri Guisan bekleidete in der Schweizer Armee folgende Dienstgrade:
ab 1894: Leutnant
ab 1904: Hauptmann
ab 1908: Hauptmann im Generalstab
ab 1911: Major; Übertritt von der Feldartillerie in die Infanterie
ab 1916: Oberstleutnant im Generalstab
ab 1919: Stabschef der 2. Division, Kommandant des Infanterieregiments 9
Generalsränge:
ab 1921: Oberstbrigadier *
ab 1927: Oberstdivisionär **
ab 1932: Oberstkorpskommandant ***
Die letzte Ehre 1960
http://www.youtube.com/watch?v=enGRYEq8IR8
Rede von General Guisan:
http://www.youtube.com/watch?v=-YysHYHbLh4
Kurze Rede von General Guisan:
http://www.youtube.com/watch?v=DWvILoXa4co
In der Nacht vom 14. auf den 15. Mai 1940 rechnete die schweizerische Armeeführung mit dem Angriff der Nazis. «Seit heute früh», schrieb Major Barbey in sein Tagebuch, «mehren sich die Nachrichten und Gerüchte der verschiedensten Herkunft, die sich alle auf die gleiche Formel bringen lassen: ‹Es ist heute Nacht zwischen zwei und vier Uhr.› Ich habe meinen Offizierskoffer gepackt.» Bernard Barbey war Chef des persönlichen Stabes von General Henri Guisan, dem Oberbefehlshaber der Schweizer Armee im Zweiten Weltkrieg.
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Général Henri Guisan *21. Oktober 1874 † 7. April 1960 (Bild aus meiner Sammlung von mir koloriert)
Einige Tage zuvor, am 10. Mai 1940, war die Wehrmacht in den Niederlanden und Belgien eingebrochen. Mit unheimlichem Druck hatten die deutschen Panzer ihren Gegner vor sich hergetrieben, bald drangen sie in Frankreich ein. Die Schweiz hatte schon einen Tag nach Beginn der Offensive im Westen ihre Armee erneut vollständig mobilisiert, am Pfingstsamstag, den 11. Mai, einem besonders schönen, sonnigen Frühlingstag. 450 000 Mann Kampftruppen, 250 000 Hilfsdienstpflichtige standen im Feld. «Unsere Armee ist bereit, ihre Pflicht an allen Grenzen zu erfüllen», schrieb General Guisan an alle Soldaten. «Mit der letzten Energie wird sie die Freiheit unseres Landes verteidigen gegen jeden Angreifer, wer es auch sei. Wir werden alle, wenn es sein muss, uns für unsere Kinder und für die Zukunft unseres schönen Vaterlandes opfern.»
Am Abend des 14. Mai, als im Dienstquartier des Generals in Gümligen bei Bern der Pikettoffizier Abschiedsbriefe schrieb, während die anderen Offiziere wie befohlen sich ins Bett begeben hatten, war auch der Oberbefehlshaber schlafen gegangen. Nicht im Schloss aus dem 18. Jahrhundert, das man bezogen hatte, sondern in einer Kaverne eines Steinbruchs, den man erst vor kurzem für den General als bombensicheres Notquartier eingerichtet hatte. Am nächsten Morgen erschien er um zehn vor acht wieder im Schloss. Wie gut er geschlafen hat, entzieht sich den Kenntnissen der Nachwelt. Jedenfalls war ihm zugetragen worden, dass einige hohe Offiziere nur unruhigen Schlaf gefunden hatten, so dass er noch am gleichen Tag in einem Befehl an die Soldaten schrieb: «Ich erinnere an die hohe Pflicht des Soldaten, an Ort und Stelle erbittert Widerstand zu leisten. Die Schützentrupps, die überholt oder umzingelt sind, kämpfen in ihrer Stellung, bis keine Munition mehr vorhanden ist. Dann kommt die blanke Waffe an die Reihe. Solange ein Mann noch eine Patrone hat oder sich seiner blanken Waffen noch zu bedienen vermag, ergibt er sich nicht.»
[i]Der Mai 1940 war die schwierigste Zeit in der Geschichte der Schweiz: Nie schien das Land bedrohter. Was niemand für möglich gehalten hatte, trat im Juni ein, als Frankreich, das im Ersten Weltkrieg vier Jahre lang den Deutschen getrotzt hatte, nach nur sechs Wochen zusammenbrach. Erschüttert beobachteten die Schweizer, wie ihr letzter demokratischer Nachbar, Hitler um Waffenstillstand bat.[/i] Manche verloren den Glauben an die Überlebensfähigkeit des Landes. [i]Was hatte die eidgenössische Armee auszurichten, deren Soldaten in schlechtgeschnittenen grauen Uniformen steckten und deren Geschütze zum Teil aus dem 19. Jahrhundert stammten? Panzerabwehrwaffen fehlten, um dem deutschen Blitzkrieg zu stoppen. Flugzeuge standen wenige bereit. Es gab mehr Piloten als Maschinen.[/i]
«Solange in Europa Millionen von Bewaffneten stehen», sagte General Guisan, «und solange bedeutende Kräfte jederzeit gegen uns zum Angriff schreiten können, hat die Armee auf ihrem Posten zu stehen.» General Guisan stieg im Sommer 1940 zum Helden auf. Klarer als jeder Bundesrat sprach er aus, was die verängstigten Menschen hören wollten. Den Eigensinn, an dem die Schweizer von jeher hingen, verkörperte keiner besser als dieser patrizisch anmutende Sohn eines Landarztes aus dem Waadtland. Ein charmanter Herrenreiter, der sich viel auf seine Pferde einbildete, wurde zum Idol der eingefleischten Demokraten.
Im Sommer 1940 entschied Guisan das Schicksal der Schweiz. Wochenlang hatte er mit sich gerungen, er war unsicher, veranstaltete Diskussionen in der Armeespitze, selbst die Idee stammte nicht von ihm, ja anfänglich hatte er sie gar abgelehnt. Doch am 10. Juli 1940 befahl Guisan der schweizerischen Armee den Rückzug ins Réduit, einen engumgrenzten Raum in den Alpen zwischen Sargans im Osten und St-Maurice im Westen. Das Mittelland sollte nur mehr von ein paar Grenzbrigaden verteidigt werden, während der Grossteil der Armee in den Bergen sich verschanzte, um, wie ein Offizier schimpfte, der damals den Schritt bekämpft hatte, «Gebirgsstöcke und Gletscher» zu bewachen. Industrie, Alte, Kinder und Mütter: Kaum wären die Nazis eingedrungen, hätte man sie fast schutzlos zurückgelassen. Das war der Armeeführung bewusst – deshalb hatte man gezögert. Doch kaum war der Entscheid gefallen, vertrat Guisan diesen kühnsten Strategiewechsel der Schweizer Militärgeschichte mit einer Selbstsicherheit, als wäre er im Réduit geboren.
Operation Tannenbaum
Militärisch, das belegen ihre Berichte, hielten die Deutschen eine Eroberung der Schweiz für rasch machbar: In ein bis zwei Tagen wären Zürich und Bern besetzt, in vier bis sechs Tagen stünden sie am Alpenrand, glaubten sie, je nach Planung. Weil sie jedoch die Schweizer für kriegstüchtig hielten, wollten sie recht viele Truppen einsetzen: Zwischen 11 und 21 Divisionen, was je nachdem über 200 000 Soldaten bedeutet hätte. Dänemark hatten die Deutschen mit zweieinhalb Divisionen überrannt, Norwegen mit sechs. «Kampfkraft und Kampfmoral des Schweizer Heeres sind zweifellos gut», schrieb der deutsche Generalstabsoffizier Bodo Zimmermann, der im Herbst 1940 eine Angriffsstudie verfasste. «Die Eigenart des Landes hat zu guter Geländeausnützung und zu besondern Fähigkeiten im Kleinkrieg geführt. Auch die technische Ausbildung des Schweizer Heeres ist beachtlich. Es ist also anfänglich mit zähem Widerstand zu rechnen.» Immer aber ging es den Deutschen darum, die schweizerische Armee auszuschalten, bevor sie sich in die Berge zurückziehen konnte. In allen Studien, auch späteren, wird betont, dass ein Kampf im Gebirge «unkalkulierbar» wäre. Die Berge schreckten ab. Als Zimmermann seinen Bericht ablieferte, war ihm nicht bewusst, dass die Schweizer sich daran machten, sich ins Réduit in den Alpen zurückzuziehen. Vom «Réduit national» hatte Zimmermann zwar vernommen, glaubte aber, dass es im Mittelland liege.
Ohne Zweifel erschwerte das Réduit die Eroberung der Schweiz.[i] Doch die grösste Leistung Guisans bestand darin, einem Land, das an sich zweifelte, die Zuversicht zurückgegeben zu haben, Herr des eigenen Schicksals zu sein.[/i] 1945 trat Guisan als General zurück mit der Meldung "Dienst erfüllt, ich melde mich ab", 1947 übergab er seinen 270 Seiten starken Bericht dem Bundesrat. 1960 starb Henri Guisan in Pully. Fast 300'000 Leute nahmen Abschied von dem grossen asketischen Mann.
Quellen: Buch Henri Guisan von Markus Somm, eigene Aufzeichnungen
Henri Guisan bekleidete in der Schweizer Armee folgende Dienstgrade:
ab 1894: Leutnant
ab 1904: Hauptmann
ab 1908: Hauptmann im Generalstab
ab 1911: Major; Übertritt von der Feldartillerie in die Infanterie
ab 1916: Oberstleutnant im Generalstab
ab 1919: Stabschef der 2. Division, Kommandant des Infanterieregiments 9
Generalsränge:
ab 1921: Oberstbrigadier *
ab 1927: Oberstdivisionär **
ab 1932: Oberstkorpskommandant ***
Die letzte Ehre 1960
http://www.youtube.com/watch?v=enGRYEq8IR8
Rede von General Guisan:
http://www.youtube.com/watch?v=-YysHYHbLh4
Kurze Rede von General Guisan:
http://www.youtube.com/watch?v=DWvILoXa4co