War die Entlassungs Bismarcks durch Wilhelm II. richtig?

Versailles, 1871, Bismarck, Deutsches Reich, Wilhelm I

Moderator: Barbarossa

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Balduin
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Auf der Website https://www.wilhelm-der-zweite.de/kaise ... smarck.php habe ich die folgenden Zeilen gelesen:
Die Entlassung Bismarcks durch Wilhelm II. ist völlig verständlich. Bismarck war es, der sich der Zusammenarbeit mit dem neuen Kaiser verweigerte, nicht umgekehrt. Bismarck war alt, eigensinnig, schätzte die Realitäten inzwischen falsch ein, argumentierte nur noch rückwärtsgewandt und intrigierte gegen den Kaiser. Sein Plan, durch militärische Gewaltmaßnahmen gegenüber der Arbeiterschaft einen Staatsstreich zu provozieren, war moralisch verwerflich und unvertretbar. Die Mehrheit der Deutschen war froh, als er weg war.
Stimmt ihr dem zu?
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He has called on the best that was in us. There was no such thing as half-trying. Whether it was running a race or catching a football, competing in school—we were to try. And we were to try harder than anyone else. We might not be the best, and none of us were, but we were to make the effort to be the best. "After you have done the best you can", he used to say, "the hell with it". Robert F. Kennedy - Tribute to his father
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Gut möglich, daß da etwas Wahres dran ist.
Bismarck zeichnete sich ja durch eine gewisse Sturheit aus. Aber bei einem Bismarck beurteilt man das dann eher als „eisern“ und „standhaft“. Aber im Alter kann es immer mehr als unerträglich empfunden werden. Der junge Wilhelm II. sah für seine Pläne keinen Konsens mehr mit Bismarck. Bismarck war ein geschickter Diplomat, ein kluger Kopf, ein Menschenkenner und ohne Skrupel, wenn es um die Durchsetzung seiner Ziele ging. Auch für seinen Sohn Herbert (1849-1904) scheint er ein sehr bestimmender Vater gewesen zu sein. Als Kaiser Wilhelm II. 1890 den Reichskanzler zum Rücktritt aufforderte, schied Herbert von Bismarck wenige Tage nach seinem Vater aus seinem Amt als Staatssekretär des Auswärtigen Amts.

...1881 erregte seine Affäre mit der noch verheirateten Fürstin Elisabeth zu Carolath-Beuthen Aufsehen. Sein Vater sträubte sich mit allen Mitteln gegen diese Verbindung, drohte seinem Sohn erst mit Enterbung, dann mit Selbstmord und erreichte schließlich, dass die beiden ihre Liaison lösten.
...Ähnlich früh wie sein jüngerer Bruder Wilhelm von Bismarck starb Herbert von Bismarck an einem durch seine Alkoholkrankheit ausgelösten Leberleiden.

https://de.wikipedia.org/wiki/Herbert_von_Bismarck
andreassolar
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Balduin hat geschrieben: 07.04.2023, 19:21 Auf der Website https://www.wilhelm-der-zweite.de/kaise ... smarck.php habe ich die folgenden Zeilen gelesen:
Die Entlassung Bismarcks durch Wilhelm II. ist völlig verständlich. Bismarck war es, der sich der Zusammenarbeit mit dem neuen Kaiser verweigerte, nicht umgekehrt. Bismarck war alt, eigensinnig, schätzte die Realitäten inzwischen falsch ein, argumentierte nur noch rückwärtsgewandt und intrigierte gegen den Kaiser. Sein Plan, durch militärische Gewaltmaßnahmen gegenüber der Arbeiterschaft einen Staatsstreich zu provozieren, war moralisch verwerflich und unvertretbar. Die Mehrheit der Deutschen war froh, als er weg war.
Stimmt ihr dem zu?
Njein.
Bismarck wollte wie bisher unter Wilhelm I. agieren, defacto der Chef von det janzen, dem Dt. Reich.
Von Wilhelm I. ist der bekannte, wahrscheinlich sogar erfundene, dennoch treffende Ausspruch tradiert worden, es sei schwer, unter Fürst Bismarck Kaiser zu sein.

Solche Verhältnisse waren zwischen Bismarck und KWII. mittel- und längerfristig undenkbar, sobald sich KWII. erfahren und sattelfest genug fühlte. Bismarck hat weiterhin keineswegs die Zusammenarbeit mit KWII. verweigert, zumal die Reichsregierung und -politik eindeutig vom Reichskanzler zu lenken und zu bestimmen war lt. Reichsverfassung, zusammen mit dem Bundesrat. KWII. war es, der sich selbst die Rolle einer Nebenregierung über/neben dem Reichskanzleramt zusammen zimmerte, jenes bekannte 'persönliche Regiment' Wilhelm II. gehört dazu.

Die andere Seite stimmt natürlich: Bismarck wollte die Arbeiterbewegung und SPD massiv weiter Repressionen aussetzen, KWII. suchte in seinen jungen Regentschaftsjahren ab 1888 verstärkt den sozialen Frieden/Ausgleich, die Integration/Einbindung der Arbeiterschaft. Und dies war der wichtigste Anlass für die Trennung KWII.s von Bismarck im März 1890.

Tatsächlich war Bismarck natürlich nach den vielen, vielen Regierungsjahren selbstherrlicher und allmählich dank seiner immensen politischen Kenntnisse und Regierungserfahrung 'einmalig' geworden, wirkte mit seinen tradierten Standes-, den Alters- und Generationen gemäßen Ansichten allmählich wie aus der Zeit gefallen, was die soziale, zeitgenössische moderne Wirklichkeit anging.

Und selbstverständlich war Bismarck an transnationaler politischer Weitsicht, Einsicht, Erfahrung und außenpolitischem Realismus dem jungen KWII. weit, weit überlegen, speziell was die prekäre militärisch-geostrategische Lage der neuen wie mächtigen und stürmisch aufstrebenden Großmacht in der Mitte Europas anging, dem Dt. Kaiserreich - eingezwängt zwischen zwei unmittelbaren Großmacht-Nachbarn, Frankreich und Russland.


Und Bismarck wurde 1890 bereits 75 Jahre alt, war bereits knapp 20 Jahre Reichskanzler und zugleich seit 1862 preußischer Ministerpräsident.
Ja, und viele wollten wohl (insgeheim) einfach einen Wechsel an der Spitze der Regierung nach sooo vielen Jahren.
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Balduin
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Sehr interessante Anmerkungen - danke euch beiden!
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Skeptik hat geschrieben: 08.04.2023, 16:55 Auch für seinen Sohn Herbert (1849-1904) scheint er ein sehr bestimmender Vater gewesen zu sein. Als Kaiser Wilhelm II. 1890 den Reichskanzler zum Rücktritt aufforderte, schied Herbert von Bismarck wenige Tage nach seinem Vater aus seinem Amt als Staatssekretär des Auswärtigen Amts.
Im Juni 1890 lief der geheime Rücksicherungsvertrag zw. Deutschem und Russischem Reich aus. Daher standen Bismarck und das Außenamt mit Sohn Herbert u. andere in Gesprächen mit den russ. Akteuren und Diplomaten in Berlin über eine Verlängerung des Vertrags, als Bismarck im März 1890 zurück getreten wurde.
Die russische Seite sorgte sich nun entsprechend um ein Scheitern oder nicht Weiterführen der Gespräche, Vorverhandlungen und Verhandlungen, während KWII. einer Verlängerung des Vertrages skeptisch gegenüberstand, aber versuchte, die russische Seite mit dem Verbleib Herbert von Bismarcks zu beruhigen, obwohl schon zur russischen Seite durchgesickert gewesen war, dass KWII. einer Verlängerung des Rückversicherungsvertrages skeptisch gegenüberstand, was natürlich auch Herbert von Bismarck wusste und zu spüren bekam.

KWII. versuchte Herbert von Bismarck im Außenamt zu halten, um die russischen Diplomaten in Berlin vorerst zu beruhigen. Herbert war aber klar genug, dass sein Verbleib von KWII. vor allem dazu genutzt werden würde, die russische Seite so lange wie möglich über die weiteren Absichten/Intensionen KWII.s und seiner Berater zur Verlängerung des Rückversicherungsvertrages zu täuschen.

KWII. beabsichtigte eine andere Außenpolitik, auch und gerade gegenüber Moskau, und im entschiedenen Gegensatz zu Bismarck und dessen Sohn Herbert.
Daher trat Herbert wenige Tage nach der Entlassung seines Vaters ebenfalls zurück, gegen den Willen von KWII.
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Mehr Details zu den Gründen/Hintergründen und den Abläufen, die zu Herbert von Bismarcks Rücktritt führten bzw. zur erzwungenen Entlassung am 26. März 1890, sechs Tage nach der Entlassung seines Vaters, finden sich in

Horst Groepper, Bismarcks Sturz und die Preisgabe des Rückversicherungsvertrages (2008), S. 337-343.
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Danke für diese zusätzlichen Hintergründ der Entlassung. Herrlich dieser Satz den Altkanzler Bismarck den Emissären Hahnke und Lucanus für den Kaiser mitgab:
Ich weiß wohl, daß Abraham auf direktes Gebot Gottes bereit war, seinen Sohn Isaak zu opfern; ein solches göttliches Gebot liegt hier nicht vor. Es wird sich schon noch ein Böcklein finden, das an meines Sohnes Statt geopfert werden kann.

Wie oft in Familien, geht es um eine andere emotionale Hinwendung zu jüngeren Geschwistern. Ob Herbert auch in diese Kategorie fällt weiß man sicher nicht. Aus Briefen an „Billchen“:
Wien, 29. Juli 1864 – Mein lieber Bill, es ist recht schlimm, daß ich an Deinem Geburtstage niemals bei Dir sein kann; ich glaube seit 4 Jahren nicht, wo wir ihn wohl zusammen in Petersburg feierten; im vorigen Jahr war ich in Gastein zu der Zeit, 1862 in St. Sebastian, 1861, wenn ich mich nicht sehr irre, in Coblenz oder Baden, und nun muß ich mich hier mit den Dänen quälen, bei sehr großer Hitze und viel Arbeit. […] Jetzt muß ich wieder auf ein großes diner, wo die Leute viel Unbequemes mit mir reden wollen. […] Dein treuer Vater v. B.

Nikolsburg, 1. August 1866 – Mein lieber Bill, […] Ich hätte so gern mit angesehen, wenn Du so plötzlich 14 Jahre alt wirst, mit Einem Ruck um 1 Jahr älter und verständiger. […] Ich habe viel Arbeit gehabt, und noch mehr steht bevor. Der Friede mit Österreich ist so gut wie fertig; nachdem es uns den Platz in Deutschland geräumt hat, haben wir es glimpflich behandelt; Holstein und 40 Millionen Thaler, wovon 20 für Gegenforderungen abgehn. […] Dein treuer Vater v. B.

https://www.bismarck-stiftung.de/2021/0 ... -bismarck/
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Barbarossa
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Wenn es so stimmt, wie es in dem Artikel steht, dass nämlich Bismarck einen Arbeiteraufstand provozieren wollte, um ihn dann gewaltsam niederschlagen zu können, dann war dieser offenbar gerade dabei, den größten Fehler seiner Regierungszeit zu begehen. Dann war dessen Entlassung allein schon deswegen richtig.
Wilhelm II. hat zu beginn seiner Regierungszeit tatsächlich einige soziale Reformen umgesetzt. Ob das mit Bismarck möglich gewesen wäre, darf man auch anhand dieses Artikels bezweifeln. Bismarck war ein Machpolitiker - schon Kaiser Wilhem I. soll einmal geäußert haben, es sei für ihn nicht einfach ,,unter Bismarck Kaiser'' zu sein. Das drückt schon einiges aus - lässt tief blicken. Es ist deswegen tatsächlich anzunehmen, dass Bismarck es beim jungen Wilhelm II. damit auf die Spitze trieb. Ich kenne die Denkweise von so ,,alten Zauseln'' (um es mal salopp zu sagen) sehr gut. Es ist heute noch so - sie denken, was will dieser Jungspund? Der hat doch noch nichts erlebt... usw...
Unter diesen Voraussetzungen war eine weitere Zusammenarbeit zwischen Wilhelm II. und Bismarck sicher nicht möglich.

Bismarcks Verdienste - etwa die erste Einigung Deutschlands und die Einführung der Sozialgesetze inkl. der gesetzlichen Sozialversicherung bleiben dabei mit seinem Namen untrennbar verbunden. Aber er war alt und sein Ableben war ohnehin nur noch eine Frage der Zeit. Insofern gehe ich auch nicht mit der Behauptung im Artikel mit, ohne seine Entlassung wäre es vielleicht nicht zum ersten Weltkrieg gekommen. Bismarck starb 1898 - bis zum ersten Weltkrieg war es noch eine lange Zeit, die so oder so ohne ihn vergangen wäre.
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Barbarossa hat geschrieben: 10.04.2023, 12:11 Wenn es so stimmt, wie es in dem Artikel steht, dass nämlich Bismarck einen Arbeiteraufstand provozieren wollte, um ihn dann gewaltsam niederschlagen zu können, dann war dieser offenbar gerade dabei, den größten Fehler seiner Regierungszeit zu begehen.
Im verlinkten Text oben wird u.a. notiert:
Die strengen Sozialistengesetze, nach 12 Jahren im Jahre 1890 im Reichstag aufgehoben, wollte Bismarck sogar noch verschärfen. Er hoffte, daß es dadurch zu Aufständen kommen würde, die einen Staatsstreich – verbunden mit einem Militärschlag gegen die Sozialdemokratie – rechtfertigen würden.
Was bekanntlich so nicht zutrifft. Der genannte Artikel verkürzt und entstellt teilweise die damaligen Ideen, Realitäten und Abläufe.



Die Verlängerung des Sozialistengesetzes, welches 1890 auslief, fand Anfang 1890 erwartbar keine Mehrheit im Reichstag. Die nachfolgenden Reichstagswahlen am 20. Februar führten zu einem großen Stimmenerfolg für die SPD.

Bismarck versuchte nun KWII. dazu zu bringen, ein sogar noch verschärftes Sozialistengesetz im Reichstag einzubringen, um den Reichstag nach der erwartbaren Ablehnung dieser Vorlage auflösen und eine erneute Reichstagswahl durchführen zu lassen.

Sollte dieser neue Reichstag ebenfalls jene neue Sozialistengesetz-Vorlage ablehnen, sollten nach den Vorstellungen Bismarcks durch Vereinbarungen der einzelstaatlichen Regierungen der Bundesstaaten im Deutschen Reich das allgemeine Wahlrecht für den Reichstag abgeschafft werden.

"Würden die Sozialdemokraten und ihre Anhänger ein solchen 'Staatsstreich von oben' mit Aufständen beantworten, müßten diese militärisch unterdrückt werden." So Bismarcks Ultima Ratio für diesen Fall.
(Zitiert nach Willy Albrecht, Ende der Illegalität. Das Auslaufen des Sozialistengesetzes und die deutsche Sozialdemokratie, 1990, S. 15 f., hier S. 16.)
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Der Begriff 'Staatsstreich' wird mit der illlegalen/gewaltsamen Absetzung einer Regierung durch andere staatliche Funktionsträger hinreichend präzise definiert.

Bismarcks Ideen im genannten Zusammenhang konnten und können daher in keiner Weise sinnvoll als Plan für einen Staatsstreich eingeordnet/bezeichnet werden.
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andreassolar hat geschrieben: 10.04.2023, 21:45 Was bekanntlich so nicht zutrifft. Der genannte Artikel verkürzt und entstellt teilweise die damaligen Ideen, Realitäten und Abläufe.
Verglichen mit „Normalbürgern“ war Bismarck ein Mensch mit einer bizarren Lebensführung. Extreme allerorten. Da findet ein jeder Material für seine Interpretationen. Hier Otto Pflanze, der die ausführlichste Gesamtdarstellung von Bismarcks Zeit als Reichskanzler vorgelegt hat, die je geschrieben wurde:

...„Ich schlief selten vor sechs, oft auch erst um acht Uhr morgens einige Stunden, war dann bis zwölf für niemanden zu sprechen, und in welcher Verfassung ich dann für die Sitzungen war, können Sie sich denken. Mein Gehirn war eine gallertartige, unzusammenhängende Masse. Ehe ich in den Kongreß ging, trank ich zwei bis drei Biergläser allerstärksten Portweines, um das Blut ordentlich in Wallung zu bringen – ich wäre sonst ganz unfähig gewesen zu präsidieren.“

...Bismarck reagierte, das macht Pflanzes Erzählung überaus plastisch sichtbar, auf Widerstände, vor allem auf innere Opposition, auf Gegenwirkungen am Hof, parlamentarischen Widerspruch neuralgisch im wörtlichen Sinne. Er wurde krank davon. Seine Leiden entsprangen oft einer maßlosen Lebensführung, seiner Völlerei, seinem nach heutigen Begriffen exzessiven Alkoholgenuß; diese Ausschweifungen waren aber wiederum Reaktionen auf politische Niederlagen und Widerstände. Bismarck litt unter wochenlangen nervösen Gesichtsschmerzen; er war über Jahre schlaflos und fand Ruhe nur mit Schmerz- und Schlafmitteln, vor allem Morphium. Er war ein hemmungsloser Hasser, rachsüchtig bis zur Selbstverletzung, nämlich imstande, ganze Nächte wach zu liegen und sich dabei alle jemals erlittenen Kränkungen noch einmal vor Augen zu führen. Kurz, er war ein Mensch von überspannter, reizbarster Einbildungskraft, einer ebenso nachtragenden wie den Ereignissen vorauseilenden Vorstellungsgabe. Er war alarmistisch bis zum Verfolgungswahn und von extrem scharfem analytischem Verstand.

https://www.deutschlandfunk.de/bismarck-100.html
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Skeptik hat geschrieben: 11.04.2023, 12:59
andreassolar hat geschrieben: 10.04.2023, 21:45 Was bekanntlich so nicht zutrifft. Der genannte Artikel verkürzt und entstellt teilweise die damaligen Ideen, Realitäten und Abläufe.
Verglichen mit „Normalbürgern“ war Bismarck ein Mensch mit einer bizarren Lebensführung. Extreme allerorten. Da findet ein jeder Material für seine Interpretationen.
Bevor es zu Missverständnissen kommt:
Mein Statement, das Du zitierst, bezog sich nur auf die von mir zitierte Behauptung aus oben verlinkten Text zu Bismarcks Rücktritt:
Die strengen Sozialistengesetze, nach 12 Jahren im Jahre 1890 im Reichstag aufgehoben, wollte Bismarck sogar noch verschärfen. Er hoffte, daß es dadurch zu Aufständen kommen würde, die einen Staatsstreich – verbunden mit einem Militärschlag gegen die Sozialdemokratie – rechtfertigen würden.
Die von mir unterstrichene Behauptung aus dem Text ist objektiv falsch, und keine Ergebnis davon, dass in der Person und Lebensführung von Bismarck ein jeder Material für seine Interpretation finden könne, scheint mir...die dann, abhängig von Sicht und Interpretation, alle irgendwie 'richtig' wären.

Schaut man sich den ganzen Text dort an, so wird gut erkennbar, dass dieser nur marginal Fachliteratur zu Bismarck kennt und nennt. Schon gar keine neuere und neue oder spezielle Fachliteratur zum Kontext des Rücktritts.
Einzig Lothar Galls allgemeine Bismarck-Bio von 1980 bietet eine, im Text wiederum nur einmal am Ende genutzte/referierte, recht allgemeine Fachliteratur.
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Groepper, Bismarcks Sturz (2008), notiert S. 232 f. zum Verhältnis Bismarck und KWII. Anfang 1890 u.a.:


Hatte sich Bismarck schon Schuwalow [Paul Schuwalow, russ. Botschafter in Berlin, Anm. von mir] gegenüber am 10. Februar [1890, Anm. von mir] mit »geradezu verblüffender Offenherzigkeit« über sein Verhältnis zum Kaiser geäußert und bei ihm immerhin die Möglichkeit seines Rücktritts anklingen lassen, so ging er - nicht minder offenherzig - in dieser Richtung noch einen wesentlichen Schritt weiter, als er am 10. März, dem Geburtstag des Zaren, den russischen Geschäftsträger Grafen Murawew in der russischen Botschaft [in Berlin, Anm. von mir] aufsuchte, um seine Glückwünsche für den Zaren darzubringen. Es sei ihm, erklärte er dem Grafen bei dieser Gelegenheit, unmöglich, dem Kaiser auf dem von ihm gewählten Wege zu [S. 233] folgen. Er gebe unausführbare Befehle und halte sich für einen Friedrich Wilhelm I. Er, Bismarck, könne nicht am Ende seines Lebens mit seiner Unterschrift Maßnahmen bestätigen, die er nicht billige. Er habe daher den Entschluß gefaßt, sich ganz von den Geschäften zurückzuziehen und ein bloßer Beobachter des Geschehens zu bleiben, zumal sich seine Kollegen, die Minister, in der Sorge um die Erhaltung ihrer Stellung vollständig von ihm abgewandt hätten. Er hätte das sofort getan, aber er wolle nicht den Eindruck erwecken, daß ihn die in den Reichstag gewählten Abgeordneten erschreckten.

U n d als Murawew am folgenden Tage (11. März) Bismarck in der Reichskanzlei den Dank des Zaren für seine Glückwünsche übermittelte, erklärte der Kanzler, er sei über das gnädige Verhalten des Zaren tief gerührt, um anschließend auf das Gespräch vom Vortage zurückzukommen:
Sie werden es nicht glauben, wie schwer und ermüdend die Arbeit mit meinem jungen
Monarchen für mich ist. Er kommt ständig auf Angelegenheiten zu sprechen, die noch
der Klärung bedürfen und sich dann von selbst erledigen. Er fürchtet immer, daß ich
ihn nicht hinreichend in die Geschäfte einweihe. Ich bin eine solche Situation nicht
gewohnt. Bei meinem alten König habe ich viele Dinge selbst entschieden und ihm
nur das Ergebnis mitgeteilt. Jetzt bin ich genötigt, die kleinste Einzelheit zu erörtern.

[...]
Der eingerückte Zitatblock macht m.E. mit Vorsicht hinreichend deutlich, dass KWII. eine Zu- und Zusammenarbeit und Zuständigkeit (ein-)forderte, wo Bismarck unter KWI. eben seit Jahren und Jahrzehnten vielfach und weitgehend selbständig als Reichskanzler seit 1871 und preussischer Ministerpräsident seit 1862 die Regierungsleitlinien und Regierungspolitiken auf Reichs- und preussischer Ebene ganz wesentlich prägen und formen und ausüben konnte.
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Danke @andreassolar, das ist sicher die andere Seite der Medaille. Bismarck hat sicher KWII abgespürt, daß der ein ungesundes Selbstbewusstsein durch Aktionismus kompensierte.
Das ging auch der adeligen Verwandtschaft in ganz Europa auf die Nerven. Sie ertrugen ihn mehr oder weniger, wenn er im Sommer immer mit seiner Riesenjacht im Mittelmeer aufkreuzte.
Insofern ist Bismarcks Haltung hier durchaus nachvollziehbar und erwartbar.
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