Für einen Zeitgenossen jener Jahr überraschen gewisse Darstellungen zum Thema, die seit Jahren wiederholt, neu vertieft und aufgerollt werden, mit auffallenden Lücken zum damaligen Kontext, gerne verbunden mit unilateralen Sichtweisen.
Eine wissenschaftlich fundierte, immer noch gültige Übersicht zum Thema möglicher Zusagen zur Nichterweiterung der NATO gegenüber der sowjetischen Führung und zur Entwicklung der Jahre danach bietet die Veröffentlichung des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages mit dem Titel
Zur öffentlichen Diskussion über Anfang der 1990er Jahre möglicherweise getroffene Zusagen westlicher Spitzenpolitiker zu einem Verzicht auf eine NATO-Osterweiterung.
Abschlussdatum 18. Februar 2016.
Auszüge davon nachfolgend:
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Auch der am 12. September 1990 unterzeichnete Zwei-plus-Vier-Vertrag selbst enthält keine Regelung, die der NATO eine über die DDR hinausgehende Ausdehnung nach Osten untersagt. Die Artikel 5 und 6 enthalten ausschließlich Aussagen zur Möglichkeit der Mitgliedschaft des vereinten Deutschlands in einem Bündnis sowie zur Stationierung deutscher Streitkräfte auf dem Gebiet der ehemaligen DDR. In Artikel 6 heißt es zur Bündnisfrage: „Das Recht des vereinten Deutschland, Bündnissen mit allen sich daraus ergebenden Rechten und Pflichten anzugehören, wird von diesem Vertrag nicht berührt.“
Damit hatte Russland explizit einer NATO-Osterweiterung um das Gebiet der ehemaligen DDR zugestimmt, auf dem nach dem Abzug der sowjetischen Streitkräfte (nur) Deutschland eigene NATO-assignierte Streitkräfte, aber keine Kernwaffen stationieren durfte, wie Absatz 3 des Artikel 5 ausführt: „Nach dem Abschluss des Abzugs der sowjetischen Streitkräfte vom Gebiet der heutigen Deutschen Demokratischen Republik und Berlins können in diesem Teil Deutschlands auch deutsche Streitkräfteverbände stationiert werden, die in gleicher Weise militärischen Bündnisstrukturen zugeordnet sind wie diejenigen auf dem übrigen deutschen Hoheitsgebiet, allerdings ohne Kernwaffenträger.“
Eine Thematisierung der NATO-Osterweiterung über die DDR hinaus, deren Nationale Volksarmee mit dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland aus dem Warschauer Pakt herausgelöst worden war, erfolgte in diesem Vertrag aufgrund der noch bestehenden Bündnisstrukturen in Osteuropa nicht. Da mit Ausnahme der DDR das östliche Bündnis noch weiter fortbestand, war der Beitritt weiterer Staaten der östlichen Hemisphäre zur NATO zu diesem Zeitpunkt jenseits jeglicher Imagination und daher Regelungen zur Rechtmäßigkeit einer dauerhaften Truppenstationierung auf dem Gebiet solcher Länder nicht Bestandteil des Zwei-plusVier-Vertrages.
Erst mit der Auflösung des Warschauer Paktes am 1. Juli 1991 und der Sowjetunion am 26. Dezember 1991 und den sich daraufhin anschließenden Diskussionen über eine künftige europäische Sicherheitsarchitektur gelangte das Thema einer über Gesamtdeutschland hinausgehenden Expansion der NATO nach Osten wieder verstärkt auf die Tagesordnung. Zwar war das Bündnis auf der einen Seite an einem Ausbau der Kooperation mit Russland interessiert. Auf der anderen Seite verstand man allerdings auch die Interessen der osteuropäischen Staaten, die mit dem Wunsch nach langfristiger territorialer Sicherheit und wirtschaftlicher Prosperität auf eine Integration in westliche Strukturen (NATO, EU) drängten.
Die Notwendigkeit einer Einbindung der ost- und mitteleuropäischen Staaten zur Stabilisierung Europas sah vor dem Hintergrund des jugoslawischen Bürgerkrieges und der labilen Situation in Russland insbesondere auch die amerikanische Regierung unter Bill Clinton. Dennoch zeigte sie sich „mit Rücksicht auf die Isolations- und Einkreisungsängste Moskaus“ mit konkreten Erweiterungsplänen anfänglich zurückhaltend.11 Daher entschied sie sich zunächst dafür, die Verbindung mit den osteuropäischen Staaten durch das „Partnership for Peace“-Programm (PfP-Programm) zu stärken, zu dem während des NATO-Gipfels in Brüssel vom 10 – 11. Januar 1994 der Startschuss gegeben wurde und dem u.a. zahlreiche Staaten aus dem Vertragsgebiet des ehemaligen Warschauer Paktes und auch Russland selbst (am 22. Juni 1994) beitraten. In seiner Rede zur Auflegung des PfP-Programms versicherte Clinton am 10. Januar 1994, dass es nicht der Wille der USA sei „[…] jetzt eine neue Trennlinie durch Europa [zu] ziehen, halt nur ein wenig weiter östlich“, und damit den europäischen Friedensprozess zu gefährden. So wurde den osteuropäischen Beitrittskandidaten ohne Festlegung eines genauen Zeitplans lediglich eine zukünftige Aufnahme in die NATO in Aussicht gestellt. Eine engere Kooperation mit Russland wurde dennoch weiterhin nicht ausgeschlossen.
Im Laufe des Jahres 1994 wuchs dann allerdings in den USA der politische Druck auf Präsident Clinton, die NATO-Osterweiterung zügig voranzutreiben. So drängte der republikanisch dominierte Kongress mit dem „NATO Expansion Act“ am 14. April 1994 und dem „NATO Revitalization Act“ am 11. Mai 1994 auf einen Zeitplan zur raschen Aufnahme neuer NATO-Mitgliedstaaten. Clintons Ankündigung am 1. Juli 1994, im Jahre 1995 Standards und einen Zeitplan für die Osterweiterung auszuarbeiten, zeigte ebenso wie seine Aussage, dass die NATO seiner Meinung nach aus sicherheitspolitischen Gründen
„erweitert werden wird, und erweitert werden sollte“,
dass er dem innenpolitischen Druck nachgegeben hatte. Gleichzeitig versicherte er allerdings in einem Gespräch mit dem damaligen russischen Präsidenten Boris Jelzin am 27. September 1994, die amerikanische Politik lasse sich von den
„three no’s“ leiten: „no surprises, no rush and no exclusion.“
Diese Aussage gegen eine schnelle Aufnahme neuer NATO-Mitglieder und für die Möglichkeit eines Einschlusses Russlands in eine künftige europäische Sicherheitsarchitektur ist möglicherweise von russischer Seite missverstanden worden.
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Das historisch-wissenschaftlich zutreffende Fazit der Arbeit:
Wann man davon absieht, dass im Text gelegentlich 'Russland' geschrieben wird, wo die Sowjetunion gemeint ist....und andere Kleinigkeiten...3. Fazit
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass in einem frühen Stadium der Gespräche zur deutschen Einheit im Rahmen der Verhandlungsdiplomatie zwar Äußerungen getätigt worden waren, die auf eine mögliche Bereitschaft der NATO zum Verzicht auf eine Ostausdehnung hätten schließen können. Diese Äußerungen entfalteten aus völkerrechtlicher Sicht nach Inkrafttreten des Zwei-plus-Vier-Vertrages am 15. März 1991 allerdings keine Bindungswirkung.
Der sowjetischen Führung hätte damals – darüber besteht in der Politikwissenschaft weitgehende Übereinstimmung – bereits klar sein müssen, dass mit den betreffenden Äußerungen eine völkerrechtlich verbindliche Zusage zu einem Verzicht auf eine NATO-Osterweiterung nicht vorgelegen hat, zumal diese sowohl im Fortgang der Zwei-plus-Vier-Gespräche nicht aufrechterhalten als auch nach der deutschen Wiedervereinigung von entscheidenden westlichen Politikern explizit nicht wiederholt wurde. 18 Vielmehr unterstrichen verschiedene westliche Spitzenpolitiker mit ihren Aussagen im Wesentlichen nur, dass russische Sicherheitsinteressen bei der Bündnisexpansion berücksichtigt werden müssten. Diese sah die NATO durch die verschiedenen Phasen ihrer Osterweiterung nicht eingeschränkt, u.a. deshalb, weil sie Russland stets zur Zusammenarbeit einlud und hierfür verschiedene Kooperationsformate (z.B. das PfP-Programm oder der Gemeinsame Ständige NATO-Russland-Rat 19) entwickelte und weiterentwickelte.