Polizeihauptmann Paul Grüninger half vielen Juden in der CH
Verfasst: 27.09.2014, 14:03
Von Gefühlsduselei hält Ruth Roduner (92) nichts. «Wenn man 3000 Leuten das Leben rettet, ist das eine gute Sache.» Nicht mehr und nicht weniger. Seit einer Hüftoperation etwas wackelig auf den Beinen, steht sie auf der Grenzbrücke zwischen der Schweiz und Österreich und erzählt von den Ereignissen vor rund 75 Jahren. Die Brücke ist nach ihrem Vater, dem Kriegshelden Paul Grüninger, benannt. Auf der Gedenktafel steht in Deutsch, Englisch und Hebräisch: «In dankbarer Erinnerung an den St. Galler Polizeikommandanten Paul Grüninger, der an dieser Grenze 1938 und 1939 viele Hundert Menschen vor der nationalsozialistischen Verfolgung rettete, indem er ihnen die Flucht in die Schweiz ermöglichte.Sein Name steht stellvertretend für die mutigen Frauen und Männer auf beiden Seiten der Grenze, die Flüchtlingen geholfen haben.» Ruth Roduner zeigt auf den Alten Rhein, der hier zwischen Diepoldsau und dem vorarlbergischen Hohenems ein Rinnsal bildet. «Durch dieses Wasser sind bei Nacht und Nebel viele jüdische Flüchtlinge aus Österreich gewatet.» Ihr Vater habe dann über das Bleiben der Immigranten entschieden.
Polizeihauptmann Paul Grüninger in Uniform (Bild aus meiner Sammlung, koloriert)
Eine jüdische Zeugin erinnert sich im Dokumentarfilm «Grüningers Fall» nur zu gut an die erlösenden Worte Paul Grüningers: «Kopf hoch, Meitli! Jetzt bist du in der freien Schweiz.» So und ähnlich klang es bei Hunderten anderen, wenn Paul Grüninger an die Grenze gerufen wurde, wenn er die Flüchtlinge in seinem Büro in St. Gallen oder im Flüchtlingslager Diepoldsau empfing. Er allein entschied über ihr Bleiben. Von Hunderten ist oft die Rede, doch Grüninger selbst gab kurz vor seinem Tod in einem Fernsehinterview an, rund 3000 Juden vor dem Deutschen Reich gerettet zu haben. Viele von ihnen kamen aus Wien, wurden von Schleppern über die Grenze gebracht oder versuchten ihr Glück durch das Wasser. Wer nach der Grenzsperre im August 1939 einreiste, wurde sofort zurückgeschickt. Auch Schüsse sollen an der Grenze gefallen sein.
Heute nennt man es Zivilcourage, damals «Schlampereien»
Das Mitgefühl Paul Grüningers, des Polizeihauptmanns mit dem stets korrekten Mittelscheitel und dem ungewöhnlichen Zwicker mit nur einem Ohrenbügel, ging so weit, dass er die Einreiseakten der israelitischen Flüchtlingshilfe vordatierte. Somit legalisierte er die Einreise im Nachhinein. «Es ging darum, Menschen zu retten, die vom Tod bedroht waren. Wie hätte ich mich unter diesen Umständen um bürokratische Erwägungen und Berechnungen kümmern können?», schrieb er in seinem Lebenslauf.
Heute nennt man es Menschlichkeit oder Zivilcourage. Die Behörden, damals in Angst vor der «Verjudung der Schweiz», nannten es «Schlampereien auf dem Polizeikommando». Die Fälschung der Einreisepapiere kostete den gelernten Lehrer seinen Beruf und seine Existenz. Als alles aufflog, wurde er fristlos entlassen, musste seine Dienstwohnung räumen und hatte keinen Anspruch auf Rente. Sogar Geisteskrankheit, «Charakterdefizite im Sinne fehlender Hemmungen», wurden ihm vorgeworfen. Lange munkelte man, Paul Grüninger habe von den Flüchtlingen Geld angenommen. Bei solchen Vorwürfen schüttelt seine Tochter Ruth Roduner nur den Kopf. «Die haben ja gesehen, in welch ärmlichen Verhältnissen wir lebten.» Auch ihr Vater hatte stets beteuert, nie einen Rappen genommen zu haben.
Paul Grüninger wurde vom Bezirksgericht St. Gallen wegen Amtsgeheimnisverletzung und Urkundenfälschung zu einer Geldstrafe von etwa 1300 Franken verurteilt, dem Doppelten seines damaligen Monatslohns. Er legte keine Berufung ein, sah aber die «Ungehörigkeit seiner Verbrechen» nicht ein. Später schrieb er: «Ich schäme mich dieser Verurteilung nicht. Im Gegenteil, ich bin stolz darauf, vielen Hunderten von schwer Bedrängten das Leben gerettet zu haben!»
Tochter Ruth musste die Handelsschule in Lausanne abbrechen, kehrte zur Familie nach St. Gallen zurück und suchte eine Stelle. Doch dies stellte sich als nicht einfach heraus. «Man sah meinen Vater als Verbrecher an. Ich bekam eine Absage nach der anderen, bis ich in einer jüdischen Textilfirma eine Anstellung fand.» Sie verdiente 120 Franken im Monat und konnte damit gerade die Miete für die St. Galler Wohnung bezahlen, in der sie fortan mit ihrer zwölf Jahre jüngeren Schwester Sonja, ihrer Mutter Alice und ihrem Vater wohnte. Sie seien zwar nie schlecht behandelt worden, die wahren Freunde konnte die Familie aber plötzlich an einer Hand abzählen. «Von einem Tag auf den anderen waren wir niemand mehr.»
Seine restlichen drei Jahrzehnte lebte Paul Grüninger von Gelegenheitsjobs, verkaufte Drucksachen, Schweinefutter oder Stoffe. Er fand nie wieder eine feste Anstellung. Man habe damals kein grosses Theater gemacht, geschweige denn offen über die Geschehnisse geredet, sagt Ruth Roduner, auf die Stimmung zu Hause angesprochen. Sie habe dem Vater die Enttäuschung zwar angemerkt, «und trotzdem betonte er bis zu seinem Tod, er würde wieder gleich handeln. Darauf bin ich stolz.»
Der Fall Grüninger: Chronologie der Ereignisse
11./12. März 1938: Anschluss Österreichs ans Dritte Reich. Eine erste Fluchtwelle beginnt.
28. März 1938: Der Schweizerische Bundesrat beschliesst die Einführung der Visumspflicht für Inhaberinnen und Inhaber österreichischer Pässe.
14. August 1938: An der Grenze in Diepoldsau-Schmitter wird ein Auffanglager für jüdische Flüchtlinge eröffnet. Im Innern des Kantons St. Gallen bestehen weitere Lager oder Flüchtlingsheime.
19. August 1938: Der Bundesrat beschliesst eine Grenzsperre: Österreichische Flüchtlinge ohne Visum sind ab sofort ausnahmslos zurückzuweisen.
4. Oktober 1938: Der Bundesrat stimmt einer Vereinbarung mit Deutschland über die Einführung des Judenstempels zu.
9./10. November 1938: Die Reichskristallnacht löst eine weitere Fluchtwelle aus.
6./7. Januar 1939: Heinrich Rothmund, der Chef der Eidgenössischen Fremdenpolizei, reklamiert wegen der hohen St. Galler Flüchtlingszahlen und fordert von Regierungsrat Valentin Keel eine Untersuchung.
26. Januar 1939: Grüninger legt Valentin Keel «bereinigte» Einreisezahlen vor.
31. März 1939: Der St. Galler Regierungsrat beschliesst die Suspendierung Paul Grüningers und leitet ein Strafverfahren gegen den Hauptmann ein.
1. Oktober 1940: Öffentliche Verhandlung des Bezirksgerichts St. Gallen gegen Paul Grüninger. Anklage: Verletzung der Amtspflicht, Urkundenfälschung.
September 1971: Paul Grüninger wird von der israelischen Behörde Yad Vashem mit der «Medaille der Gerechten» ausgezeichnet.
22. Februar 1972: Paul Grüninger stirbt im Alter von 80 Jahren.
1993: Paul Grüninger wird durch die St. Galler Regierung politisch rehabilitiert, zwei Jahre später vom Bezirksgericht St. Gallen freigesprochen.
1998: Der Grosse Rat des Kantons St. Gallen entschädigt die Nachkommen Paul Grüningers für die entstandenen Lohn- und Renteneinbussen des Hauptmanns mit 1,3 Millionen Franken. Mit dem Betrag gründen sie die «Paul Grüninger Stiftung», die jährlich weltweit einen Preis von 50'000 Franken an Menschen mit besonderer Zivilcourage verleiht. Der Preis ging bisher unter anderem nach Afghanistan und nach Kolumbien.
Polizeihauptmann Paul Grüninger in Uniform (Bild aus meiner Sammlung, koloriert)
Eine jüdische Zeugin erinnert sich im Dokumentarfilm «Grüningers Fall» nur zu gut an die erlösenden Worte Paul Grüningers: «Kopf hoch, Meitli! Jetzt bist du in der freien Schweiz.» So und ähnlich klang es bei Hunderten anderen, wenn Paul Grüninger an die Grenze gerufen wurde, wenn er die Flüchtlinge in seinem Büro in St. Gallen oder im Flüchtlingslager Diepoldsau empfing. Er allein entschied über ihr Bleiben. Von Hunderten ist oft die Rede, doch Grüninger selbst gab kurz vor seinem Tod in einem Fernsehinterview an, rund 3000 Juden vor dem Deutschen Reich gerettet zu haben. Viele von ihnen kamen aus Wien, wurden von Schleppern über die Grenze gebracht oder versuchten ihr Glück durch das Wasser. Wer nach der Grenzsperre im August 1939 einreiste, wurde sofort zurückgeschickt. Auch Schüsse sollen an der Grenze gefallen sein.
Heute nennt man es Zivilcourage, damals «Schlampereien»
Das Mitgefühl Paul Grüningers, des Polizeihauptmanns mit dem stets korrekten Mittelscheitel und dem ungewöhnlichen Zwicker mit nur einem Ohrenbügel, ging so weit, dass er die Einreiseakten der israelitischen Flüchtlingshilfe vordatierte. Somit legalisierte er die Einreise im Nachhinein. «Es ging darum, Menschen zu retten, die vom Tod bedroht waren. Wie hätte ich mich unter diesen Umständen um bürokratische Erwägungen und Berechnungen kümmern können?», schrieb er in seinem Lebenslauf.
Heute nennt man es Menschlichkeit oder Zivilcourage. Die Behörden, damals in Angst vor der «Verjudung der Schweiz», nannten es «Schlampereien auf dem Polizeikommando». Die Fälschung der Einreisepapiere kostete den gelernten Lehrer seinen Beruf und seine Existenz. Als alles aufflog, wurde er fristlos entlassen, musste seine Dienstwohnung räumen und hatte keinen Anspruch auf Rente. Sogar Geisteskrankheit, «Charakterdefizite im Sinne fehlender Hemmungen», wurden ihm vorgeworfen. Lange munkelte man, Paul Grüninger habe von den Flüchtlingen Geld angenommen. Bei solchen Vorwürfen schüttelt seine Tochter Ruth Roduner nur den Kopf. «Die haben ja gesehen, in welch ärmlichen Verhältnissen wir lebten.» Auch ihr Vater hatte stets beteuert, nie einen Rappen genommen zu haben.
Paul Grüninger wurde vom Bezirksgericht St. Gallen wegen Amtsgeheimnisverletzung und Urkundenfälschung zu einer Geldstrafe von etwa 1300 Franken verurteilt, dem Doppelten seines damaligen Monatslohns. Er legte keine Berufung ein, sah aber die «Ungehörigkeit seiner Verbrechen» nicht ein. Später schrieb er: «Ich schäme mich dieser Verurteilung nicht. Im Gegenteil, ich bin stolz darauf, vielen Hunderten von schwer Bedrängten das Leben gerettet zu haben!»
Tochter Ruth musste die Handelsschule in Lausanne abbrechen, kehrte zur Familie nach St. Gallen zurück und suchte eine Stelle. Doch dies stellte sich als nicht einfach heraus. «Man sah meinen Vater als Verbrecher an. Ich bekam eine Absage nach der anderen, bis ich in einer jüdischen Textilfirma eine Anstellung fand.» Sie verdiente 120 Franken im Monat und konnte damit gerade die Miete für die St. Galler Wohnung bezahlen, in der sie fortan mit ihrer zwölf Jahre jüngeren Schwester Sonja, ihrer Mutter Alice und ihrem Vater wohnte. Sie seien zwar nie schlecht behandelt worden, die wahren Freunde konnte die Familie aber plötzlich an einer Hand abzählen. «Von einem Tag auf den anderen waren wir niemand mehr.»
Seine restlichen drei Jahrzehnte lebte Paul Grüninger von Gelegenheitsjobs, verkaufte Drucksachen, Schweinefutter oder Stoffe. Er fand nie wieder eine feste Anstellung. Man habe damals kein grosses Theater gemacht, geschweige denn offen über die Geschehnisse geredet, sagt Ruth Roduner, auf die Stimmung zu Hause angesprochen. Sie habe dem Vater die Enttäuschung zwar angemerkt, «und trotzdem betonte er bis zu seinem Tod, er würde wieder gleich handeln. Darauf bin ich stolz.»
Der Fall Grüninger: Chronologie der Ereignisse
11./12. März 1938: Anschluss Österreichs ans Dritte Reich. Eine erste Fluchtwelle beginnt.
28. März 1938: Der Schweizerische Bundesrat beschliesst die Einführung der Visumspflicht für Inhaberinnen und Inhaber österreichischer Pässe.
14. August 1938: An der Grenze in Diepoldsau-Schmitter wird ein Auffanglager für jüdische Flüchtlinge eröffnet. Im Innern des Kantons St. Gallen bestehen weitere Lager oder Flüchtlingsheime.
19. August 1938: Der Bundesrat beschliesst eine Grenzsperre: Österreichische Flüchtlinge ohne Visum sind ab sofort ausnahmslos zurückzuweisen.
4. Oktober 1938: Der Bundesrat stimmt einer Vereinbarung mit Deutschland über die Einführung des Judenstempels zu.
9./10. November 1938: Die Reichskristallnacht löst eine weitere Fluchtwelle aus.
6./7. Januar 1939: Heinrich Rothmund, der Chef der Eidgenössischen Fremdenpolizei, reklamiert wegen der hohen St. Galler Flüchtlingszahlen und fordert von Regierungsrat Valentin Keel eine Untersuchung.
26. Januar 1939: Grüninger legt Valentin Keel «bereinigte» Einreisezahlen vor.
31. März 1939: Der St. Galler Regierungsrat beschliesst die Suspendierung Paul Grüningers und leitet ein Strafverfahren gegen den Hauptmann ein.
1. Oktober 1940: Öffentliche Verhandlung des Bezirksgerichts St. Gallen gegen Paul Grüninger. Anklage: Verletzung der Amtspflicht, Urkundenfälschung.
September 1971: Paul Grüninger wird von der israelischen Behörde Yad Vashem mit der «Medaille der Gerechten» ausgezeichnet.
22. Februar 1972: Paul Grüninger stirbt im Alter von 80 Jahren.
1993: Paul Grüninger wird durch die St. Galler Regierung politisch rehabilitiert, zwei Jahre später vom Bezirksgericht St. Gallen freigesprochen.
1998: Der Grosse Rat des Kantons St. Gallen entschädigt die Nachkommen Paul Grüningers für die entstandenen Lohn- und Renteneinbussen des Hauptmanns mit 1,3 Millionen Franken. Mit dem Betrag gründen sie die «Paul Grüninger Stiftung», die jährlich weltweit einen Preis von 50'000 Franken an Menschen mit besonderer Zivilcourage verleiht. Der Preis ging bisher unter anderem nach Afghanistan und nach Kolumbien.