Meine Heimatstadt Hamburg

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Moderator: Barbarossa

ehemaliger Autor K.

Meine Heimatstadt Hamburg.

Ich möchte etwas über meine Jugend in Hamburg in den späten sechziger Jahren berichten. Ich war damals Anfang 20 und gehörte zunächst wie meine Freunde zu den angry young men, auch Halbstarke genannt, die immer unzufrieden und auf alles sauer waren. Was uns allen nicht gefiel? Der stumpfsinnige Job, jeden Tag aufstehen, in die Firma wanken, malochen, wieder nach Hause gehen, Fernsehen glotzen. Vielleicht auf eine Karriere hoffen, mehr Geld verdienen, immer noch mehr. Und was haben wir dann davon? Autos, so groß wie Panzer, ein Eigenheim, der Farbfernseher, Urlaub auf Mallorca, hübsche Klamotten, Konsum und immer mehr Konsum. Im Supermarkt unsere Runden drehen, uns über die bunten Sachen freuen, Spülmittel, die Stumpfes wieder glänzend machen, zwanzig verschiedene Waschmittel für Weißwäsche und Buntwäsche. Einfach toll. Irgendwann stirbst du an Herzinfarkt und ab in die Kiste. Das kann doch nicht alles gewesen sein, oder? War da nicht noch mehr?

Zumindest glaubten wir, das wirkliche Leben könne das nicht sein. Dabei ging es den jungen Leuten unverschämt gut, vielleicht noch nie so gut wie Ende der sechziger Jahre, weder vorher noch später. Es gab jede Menge Jobs, viel mehr, als Leute die Arbeit suchten. Das Wort Arbeitslosigkeit kannten wir nur aus dem Geschichtsunterricht. Man verdiente einigermaßen, konnte sich früh von zu Hause abseilen, eigene Wohnung nehmen, sich das Leben selbst gestalten, ohne von den Eltern länger abhängig zu sein. Sexualität war kein Tabuthema mehr, die Pille verhinderte unerwünschte Schwangerschaften.

Wo haben wir uns damals in Hamburg vergnügt? Machen wir einen kleinen Bummel durch Hamburg in den späten 60er und frühen 70er Jahren. Lassen wir einmal kurz den leider viel zu früh verstorbenen Schriftsteller Hubert Fichte zu Wort kommen, der in seinem Buch „Die Palette“ über das damals wohl bekannteste Lokal der Hamburger Subkultur schreibt:
„Die Palette ist neunundachtzig bis hundert Schritte vom Gänsemarkt entfernt. …
Fünf Minuten zu Fuß von der Palette entfernt…Axel Springer, der Botanische Garten, Brokstedts Galerie… Von der Palette aus erreicht man in einer Viertelstunde zu Fuß..den Hauptbahnhof, den Freihafen, Fürst, Starclub, die Universität, die Außenalster.“
(Hubert Fichte, die Palette Reinbek 1970, Seite 5)

Dies ist eine sehr gute Beschreibung der Örtlichkeit. Die Palette war ein finsteres Kellerlokal, in dem sich viele Gammler aufhielten. Auf ihren Jacken konnte man hinten lesen: „Ich sitze immer in der Scheiße, nur die Tiefe ändert sich.“

Ende der sechziger Jahre gab es die Palette nicht mehr, sie hatte sich nun umbenannt in „Why Not“, ein Lokal, in dem ich mich öfters zusammen mit einigen Angestellten aus meiner Lehrfirma zusammensetzte, ein Bier trank und finstere Rachepläne gegen unseren Firmenchef schmiedete. Der Betrieb, in dem ich seinerzeit eine kaufmännische Lehre absolvierte, lag nur etwa 100 m entfernt von dem „Why Not“, direkt neben dem Axel Springer Haus. Der Chef war ein richtiger Kotzbrocken, ein Patriarch, der sein Unternehmen nach Gutsherrenart führte. Er ließ seine Leute für einen Hungerlohn täglich 10-12 Stunden schuften und erwartete dann noch, das sie dafür dankbar waren. Dagegen begann wir uns nun aufzulehnen, aber das ist eine andere Geschichte.

Heute, im Jahre 2014, gibt es das „Why Not“ auch schon längst nicht mehr. Wir finden dort jetzt das Edelhotel Marriott, das aber keine Gammler oder Hippies beherbergt.

Tempora mutantur, nos et mutamur in illis. Die Zeiten ändern sich und wir ändern uns in ihnen. Wie recht doch der alte Ovid hatte! Eine humanistische Bildung hat gelegentlich seine Vorteile und sei es auch nur die, um Bildung vorzutäuschen.

Gehen wir nun noch einmal in Gedanken zurück in die späten sechziger und frühen siebziger Jahre und folgen dem Weg von der ehemalige Palette Richtung Hauptbahnhof. Wir kommen dann zum berühmten Jungfernstieg an der Binnenalster und finden dort ein großes Freiluftcafé, von dem Schauspieler Peter Ahrweiler gegründet. Hier gab es neben Kaffee aus Pappbechern auch Coca Cola und andere Erfrischungsgetränke. Heute nichts Besonderes, damals aber einzigartig, ein Touch von mediterranem Ambiente in einer nüchternen und geschäftstüchtigen Stadt. Das trübe Nieselwetter sorgte aber dafür, dass sich das Cafe auf die Dauer nicht hielt und bald wieder verschwand.

Aber immerhin: Hier trafen wir dann auf wunderhübsche Madchen mit endlos langen Beinen, superkurzen, knapp sitzenden Röcken, unter den Blusen spitze Brüste und langes, blondes oder schwarzes Haare, das bis auf die Hüften herunter reicht. Dazwischen dann einige, wenige Gammler, die verloren wirkten zwischen den vielen Büroangestellten und geschäftig einkaufenden Hausfrauen.

Wir gehen den Jungfernstieg weiter bis zur Kreuzung Mönckebergstraße, der Haupteinkaufsstraße und von dort biegen wir dann links ab zum Hauptbahnhof, vorbei an den Kaufhäusern Karstadt, Kaufhof und Horten. Der Hauptbahnhof machte damals einen reichlich schmuddeligen Eindruck und lud nicht zum Verweilen ein. Dafür gab es aber gleich daneben AKI, die Abkürzung für Aktualitätenkino. Die existierten damals auch in anderen deutschen Städten und sollten den Bahnreisenden die Wartezeit verkürzen. Hier wurde von morgens 9.00 Uhr bis 23.00 Uhr alle 50 Minuten lang immer das gleiche Programm gezeigt, eine Mischung aus Wochenschauen, Kulturfilmen und Zeichentrick- oder Slapstickfilmen. Man konnte kommen und gehen wann man wollte und so lange bleiben, wie man Lust hatte. Der Eintrittspreis galt für alle Sitzplätze. Eigentlich eine schöne Erfindung, an die sich heute kaum noch jemand erinnert.

Nach 18.00 Uhr, also nach dem Schließen der Geschäfte, verwaiste die Innenstadt und wurde menschenleer. Das passierte übrigens auch am Wochenende, denn nach dem Ladenschluss um 14.00 Uhr bis zum Montagmorgen verwandelte sich das Zentrum von Hamburg in eine Geisterstadt. Als ob ein Virus die Erdbevölkerung ausgerottet hätte, nirgendwo zeigte sich eine menschliche Seele. Wenn jemand einmal keine Menschen sehen mochte, seinen Tag in Einsamkeit und Stille verbringen wollte, dann war die Hamburger Innenstadt am Wochenende genau der richtige Ort dafür.

Kehren wir jetzt noch einmal zurück zur früheren Palette und nehmen nun den umgekehrten Weg Richtung Michel, der sprachlichen Abkürzung für die Michaeliskirche, einem der Wahrzeichen Hamburgs. Man kann sie nicht verfehlen, die Turmspitze erhebt sich über das Häusermeer. Vorher muss man noch die Hamburger Neustadt durchqueren, damals ein ziemlich übles und heruntergekommenes Stadtviertel, später dann, in den achtziger Jahren eine bei jungen Leuten angesagte Gegend, deren Charakter sich daraufhin völlig veränderte. Das Zentrum bildete damals wie heute ein großer Platz, der Großneumarkt, wo es seinerzeit vier üble Kneipen gab, Ahoi I und Ahoi II, der Blaue Peter und den vierten Namen habe ich vergessen. Diese Kneipen hatten rund um die Uhr geöffnet und bildeten die Stammkneipen von Obdachlosen, die sich hier mit billigen Fusel zudröhnten, eine Suppe löffelten, die angeblich aus Tomaten hergestellt wurde und ansonsten in den Lokalen lebten, tranken, schliefen und sich von Zeit zu Zeit heftig prügelten. In diesem Milieu traf man auf keine Gammler oder Hippies, die Trunkenbolde entstammten aus der untersten Unterschicht. Ein Abgrund trennte sie von den Aussteigern, die ja in der Regel über eine gute Schulbildung verfügten und ein bürgerliches Elternhaus als Joker im Hintergrund hielten für den Fall der Fälle.

Vom Michel aus ist er nicht mehr weit zu der der bekanntesten, sündigen Straße der Welt, der Reeperbahn. Wir gehen sie schnell herunter Richtung Altona, vorbei am Cafe Keese, in dem die Damen beim Tanzen die Wahl haben, einigen miesen Sexlokalen und Imbissläden, in denen man Bier und Bockwurst bestellen konnte, seit Mitte der sechziger Jahre auch erstmals Pommes Frites und die inzwischen ja äußerst beliebt gewordene Currywurst.

Am Ende der Reeperbahn biegt eine nicht minder berühmte Seitenstraße von ihr ab, die Große Freiheit. Damals hätten wir uns zunächst in die Diskothek Sahara begeben können, die gleich am Anfang lag, ein ziemlich übler Schuppen, in dem hauptsächlich Farbige verkehrten, von denen viele mit Kokain handelten. Wenn es zu einer der zahlreichen Razzien kam, warfen sie das in Stanniolpapier gewickelte Koks einfach auf den Boden, der daraufhin silbern schimmerte. Ein hübscher Anblick.

Vorbei ging es nun an diversen Stripteaselokalen, dem Tabu, dem Safari, Regina und wie sie alle hießen. Dieser Weg glich einem Spießrutenlaufen, denn vor jedem Eingang standen Anmacher, die mit einem Wortschwall und zum Teil äußerst aggressiv die Passanten in ihr Cabaret locken wollten.

Ließ man sich darauf ein, betrat man ein Lokal mit vielen kleinen Tischen und Stühlen sowie einer Theaterbühne, auf der dann die Show ablief.

Ein sogenanntes Herrengedeck kostete meistens 30,-DM, dafür gab es dann eine Flasche Piccolo. Unaufgefordert setzte sich in der Regel eine Animierdame mit an den Tisch, die nun versuchte, den Gast zu beträchtlichen Mehrausgaben zu veranlassen, ohne das dafür eine Gegenleistung erbracht wurde, es sei denn, das alberne Geschwätz war einem mehrere hundert Mark wert.

Auf der Bühne lief allerdings eine Show ab, die es in der Welt nur selten so zu sehen gibt und für die sich eine Investition von 30, - DM schon lohnte.

Phantastisch aussehende Mädchen und Frauen entblätterten sich nicht nur äußerst gekonnt vor den staunenden Publikumsblicken, sondern bei der abschließenden Bodenakrobatik schoben sie sich riesige Kunstpenisse oder Kerzen in die Scheide und ritten auf einem Penis herum. War ein Begleiter dabei, trieben sie es beide auf der Bühne vor aller Augen oder das Mädchen bekam die Peitsche zu spüren, die auf ihren nackten Rücken und Hintern klatschte und dabei richtige Spuren hinterließ. Wer solche Darbietungen liebt, kam hier voll auf seine Kosten.

Heute sind die meisten Cabarets verschwunden. Dafür gibt es jetzt Lokale, in denen nackte Damen auf Tischen tanzen, was auch seinen Reiz haben kann, jedenfalls dann, wenn man nur 2 m von ihnen entfernt sitzt.

Vorbei an den Stripteaselokalen erreichte man bis Ende 1969 den Starclub, unweit einer katholischen Kirche gelegen. Der Starclub ist eine Legende, aber versprechen sie sich nicht zu viel davon, er hatte den Charme eines heruntergekommenen Vorstadtkinos. Kein Wunder, es handelte sich ja auch um ein ehemaliges Filmtheater. Vor dem Eingang saß in einem kleinen Kabuff die Kartenverkäuferin. Im Winter bildeten sich davor manchmal lange Schlangen von Besuchern, die in der Kälte zitterten und fluchten.

Hatte man glücklich eine Karte erhalten und den Eingang passiert ging es, wie in einem Kino üblich, langsam schräg nach unten hin zur Bühne, vorbei an den vielen Sitzreihen. Auch die Schaubühne war nicht sonderlich eindrucksvoll. Früher hing dort eine Leinwand, nun hatte man dort Platz gemacht für die Rockbands. Ich selbst bin nur wenige Male im Starclub gewesen und kann mich lediglich an die Hare Krishna Band erinnern. Doch der Starclub konnte eine eindrucksvolle Liste weltberühmter Musiker aufweisen: Frank Zappa, Jimi Hendrix, The Searchers, Fats Domino Bo Diddley, The Lords, Garry and the Pacemakers Chuck Berry und natürlich die Beatles, sie alle sind dort gewesen. Schließlich musste er aber für immer schließen. Die Bands wurden zu teuer, der Konkurrenz mit den neu entstehenden Diskotheken war er nicht gewachsen.

Beenden wir den Rückgang durch Hamburg mit einem abschließenden Besuch der Diskothek Grünspan, mein damaliges Lieblingslokal am Ende der bewussten Straße Große Freiheit. Übrigens, damit kein Missverständnis entsteht, die Freiheit hat nichts mit Sex zu tun. Vielmehr konnten sich in dieser Gegend in früheren Jahrhunderten religiös verfolgte Minderheiten ansiedeln, die woanders von fanatischen Rechtgläubigen verfolgt wurden. Hier ließ man sie in Ruhe, genossen also eine „Große Freiheit“.

Ich selbst bin übrigens Atheist und habe für Religion nicht das geringste Verständnis. Ich kann daran nicht viel Gutes erkenne. Ich machte später die erstaunliche Erfahrung, dass Menschen, die aus religiösen Gründen unterdrückt und verfolgt werden, oftmals selbst sehr intolerant und unduldsam gegen Andersgläubige sind. Aber das ist ein anderes Thema.

Bleiben wir bei erfreulicheren Dingen, also beim Grünspan. Ebenfalls ein ehemaliges Lichtspielhaus wurde die Diskothek 1968 gegründet und hat sich bis in die Gegenwart erhalten. Dass Grünspan war und ist einfach toll. Hier gab es, wie im Starclub, eine ehemalige Bühne, die noch eine Leinwand besaß, aber ansonsten als Tanzfläche umgebaut worden war. Die Musik war irrsinnig laut und erreichte knapp die Schmerzgrenze für das menschliche Trommelfeld. Sie spielten Psychodelic Rock oder Vorläufer des späteren Hard Rock, Musik von Gruppen wie Iron Butterfly, Deep Purple, Led Zeppelin, Birth Control, Rare Earth usw. Keine doofe Diskomusik oder aktuelle Songs aus den Hitparaden. Dazu setzte der Club als einer der ersten in Deutschland Lasertechnik ein und Disconebel, zeigte mehrere Filme gleichzeitig, auf der Leinwand und an den Seitenwänden, mit einem Projektor wurden psychodelische Bilder auf die Bühne projiziert, eine tolle Sache. Immer voll mit Leuten, die alle so aussahen wie die, vor denen uns unsere Eltern immer gewarnt hatten. Dabei war es aber fast immer friedlich. Ich habe jedenfalls nie Gewalt erlebt und ich war dort jahrelang Stammgast. Die Atmosphäre versetzte einen in einen Rauschzustand, auch ohne Drogen.

Doch vor dem Eingang standen diverse Dealer und verkauften Haschisch oder LSD. Am Wochenende besorgten wir uns immer den Stoff und dröhnten uns damit zu.

Ich hoffe, sie können sich nun ein ungefähres Bild von der Gegend machen, in der ich einen Großteil meiner Jugend verbrachte und die trotz vieler Schattenseiten auch ihr Gutes hatte. Auf jeden Fall war sie interessant und außergewöhnlich.
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Orianne
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Das war eine interessante Zeit, vielen Dank für Deinen Stadtrundgang, und Deinen Blick zurück, Du scheinst etwas gleich alt zu sein wie meine Mutter:)
Grant stood by me when I was crazy, and I stood by him when he was drunk, and now we stand by each other.

General William Tecumseh Sherman
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Lia

Fortsetzung der trefflichen Charakteristik des Lebens in Deiner Heimatstadt. :clap:
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dieter
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Lieber Karlheinz,
es ist alles interresant, was Du bringst. :)
Was Du nicht willst, dass man Dir tu, das füg auch keinem Andern zu.
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