Sind Traditionen wichtig für einen Staat?

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Balduin
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In einem Thema zur Krönung von König Charles III. hat Barbarossa diese interessanten Zeilen geschrieben:
Ich höre das immer wieder: ,,Das ist aus der Zeit gefallen.''
Gerade solch eine Krönungszeremonie ist ein Stück Tradition der Nation. Und Traditionen wiederum sind Bausteine der nationalen Identität.
Sollte man das nur deswegen infage stellen, weil es erscheint, wie aus einer anderen Zeit?
Geht dann nicht zu viel verloren, wenn es abgeändert oder gar abgeschafft wird?
Was meint ihr?
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He has called on the best that was in us. There was no such thing as half-trying. Whether it was running a race or catching a football, competing in school—we were to try. And we were to try harder than anyone else. We might not be the best, and none of us were, but we were to make the effort to be the best. "After you have done the best you can", he used to say, "the hell with it". Robert F. Kennedy - Tribute to his father
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Balduin hat geschrieben: 07.05.2023, 18:09 In einem Thema zur Krönung von König Charles III. hat Barbarossa diese interessanten Zeilen geschrieben:
Ich höre das immer wieder: ,,Das ist aus der Zeit gefallen.''
Gerade solch eine Krönungszeremonie ist ein Stück Tradition der Nation. Und Traditionen wiederum sind Bausteine der nationalen Identität.
Sollte man das nur deswegen infage stellen, weil es erscheint, wie aus einer anderen Zeit?
Geht dann nicht zu viel verloren, wenn es abgeändert oder gar abgeschafft wird?
Nein, abgeschafft sollten Traditionen auf keinen Fall werden. Sie sind wichtig für das Volk. Es kann sich durch Traditionen, auch gefühlsmäßig, als Volk und Land identifizieren. Aber Abänderungen ergeben sich sicher immer wieder durch die fortlaufenden kulturellen Entwicklungen. Gerade Engländer lieben es ihre Traditionen besonders zu feiern. Man denke nur an diese prächtigen bunten Paraden der verschiedenen Waffengattungen und die überschäumende Begeisterung und Feierlaune des Vokes. (Heute, Montag, haben sie einen Tag frei bekommen und können sich davon erholen). In Deutschland kommen wir ja auch nicht ohne das „Royale“ aus. Das zeigen all die Wein- und Erdbeerköniginnen und Schützenkönige. Nicht zu vergessen die Faschingsprinzen.

"Aus der Zeit gefallen“ empfand ich den „geheimen“ Vorgang der Salbung vor allem Volk. Aber hinter einem extra aufgebauten Sichtschutz. Das mußte Charles wohl zulassen und über sich ergehen lassen. Die vor dem Thron knienden Herzöge und ihre Huldigungen hat er aber abgeschafft. Bei früheren Krönungen wurde von den Herzögen erwartet, dass sie vor dem Monarchen knieten und ihm ihre Treue schworen. Anstelle der Huldigung der Adeligen gab es ein neues Element - eine Huldigung des Volkes.

Seine Aufgeschlossenheit für Neues zeigte Charles auch mit seiner Einladung zu diesen begeisternden Gesangsbeiträgen:
Auf youTube: King Charles III Coronation: Debbie Wiseman, The Ascension Choir sings Alleluia
und auch auf youTube in ihrem hinreißenden Outfit: Pretty Yende performs Sacred Fire at the King's Coronation
andreassolar
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Traditionen entstehen ständig neu, durch Varianten, Ergänzungen, Modulierungen.
Zu den stets vorhandenen und neue entstehenden Traditionen gehören die Verehrungen oder der rituell bezeugte Respekt vor gekrönten und ungekrönten politischen Häuptern eines Staates.

Dazu gehört auch der Personenkult in sich progressiv verstehenden Regimen, wie in den realsozialistischen des RGW/WP, im 'Ostblock'.

Übrigens galt die Berührung eines 'Hauptes' früher gerne als irgendwie heilend oder positiv wirksam, gute Kräfte verleihend.
Das konnte man selbst noch bei der Verehrung für die Person von Donald Trump beobachten, wie eine Filmaufnahme mit konservativen Evangelikalen im White House zeigte - die gruppierten sich zur Aufnahme auch mal ganz eng seitlich und hinter ihn...und fast alle streckten eine Hand zu ihm und versuchten, sie an oder auf ihn zu legen, längere Zeit.
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andreassolar hat geschrieben: 12.05.2023, 09:46 Übrigens galt die Berührung eines 'Hauptes' früher gerne als irgendwie heilend oder positiv wirksam, gute Kräfte verleihend.
Das konnte man selbst noch bei der Verehrung für die Person von Donald Trump beobachten, wie eine Filmaufnahme mit konservativen Evangelikalen im White House zeigte - die gruppierten sich zur Aufnahme auch mal ganz eng seitlich und hinter ihn...und fast alle streckten eine Hand zu ihm und versuchten, sie an oder auf ihn zu legen, längere Zeit.

Hier geht es weniger um die Verehrung des Donald Trump. Diese Evangelikalen, die sich an Trump drängen, sehen sich eher als Medium ihres Gottes. Der Segen ihres Gott wird sich durch die körperliche Berührung auf den Auserwählten übertragen. Davon sind sie überzeugt.
https://www.deutschlandfunk.de/zu-viele ... p-100.html
We humbly ask you to bless our nation and to bless our president, Donald Trump …“
Mit der Bitte, das Land und seinen Präsidenten zu segnen, begann Anfang Januar eine Massenkundgebung evangelikaler Christen in Miami im Bundesstaat Florida. Eine Szene der Eintracht – Donald Trump, die Augen geschlossen, stand umringt von Predigern, die beschwörend die Hände über ihm ausstreckten.
„… a fighter and a champion for freedom, and Lord, that’s exactly what we have.“


Die Berührung des Kopfes hat in den Kulturen oft verschiedene Bedeutungen:

England: Kronprinz William tippte mit dem Finger an die Krone des vor ihm sitzenden Vater Charles III.

Königreich Bhutan: Alleine schon beim Aufstehen und Hinsetzen gibt es gewisse Regeln. Man neigt sich leicht nach vorne beim Aufstehen; beim Hinsetzen werden die Knie mit einem Zeremonienschal bedeckt und die Beine nebeneinandergestellt. Beim Sprechen wird die Hand vor den Mund gehalten, damit das Gegenüber nicht durch den Atem belästigt oder verunreinigt wird. Hängt man an ein Satzende die Silbe "la", so gilt dies als ein Zeichen des Respekts. In Tempeln und Klöstern sollte man leise sprechen, aus Ehrfurcht vor der Heiligkeit des Ortes. Schuhe werden ebenfalls vor Betreten des Tempels ausgezogen. Generell gilt, dass der Kopf als der heiligste Körperteil gesehen wird. Deswegen sollte es unbedingt vermieden werden, andere Menschen am Kopf zu berühren. https://www.bhutan-discover.de/ueber-bh ... ition.html

Griechenland: Das Berühren des Kopfes ist die Klagegeste schlechthin. Sie verbildlicht die Klage nicht nur auf der griechischen Sepulkralkeramik, besonders bei den Frauen, sondern auch in den nicht-sepulkralen Vasenbildern und wurde darüber hinaus auch in anderen Denkmälergattungen verwendet. Die berührten Stellen am Kopf der Figuren sind so vielfältig wie die Gestaltungsweisen der Hände selbst. https://opus.bibliothek.uni-wuerzburg.d ... erthen.pdf
Zuletzt geändert von Balduin am 12.05.2023, 18:41, insgesamt 1-mal geändert.
Grund: Quellen ergänzt
andreassolar
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Skeptik, deine referierte Szene spielte in Miami, meine im White House, es sind unterschiedliche Ereignisse u. Intensionen.
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andreassolar hat geschrieben: 13.05.2023, 09:32 Skeptik, deine referierte Szene spielte in Miami, meine im White House, es sind unterschiedliche Ereignisse u. Intentionen.
Ob Miami oder White House. Was spielt das für eine Rolle. Verschiedene Ereignisse, aber gleiche Intentionen. Sogar die Personen sind die gleichen. Siehe die blonde Evangelikale in derselben einstudierten Pose und auch der graumelierte Herr rechts hinter Trump war schon in Miami dabei.

https://www.deutschlandfunk.de/zu-viele ... p-100.html

https://www.google.de/search?q=Evangeli ... jnMJSK9U1M

Trump spielt mit und denkt sich sein Teil:
https://www.dcreport.org/2020/09/08/wha ... -schmucks/
What He Really Thinks: Trump Mocks Christians, Calls Them ‘Fools’ and ‚Schmucks’
Was er wirklich denkt: Trump verspottet Christen, nennt sie "Narren" und „Trottel
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Barbarossa
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Was mir schon damals gleich aufgefallen ist: Trump hält die Bibel falsch herum. 😉

Interessantes Thema, zu dem ich Anlass gab.
Im Wesentlichen kann ich allem hier zustimmen. Anpassungen bzw. Modifizierungen von Traditionen sind in Ordnung, aber völlig abschaffen - das halte ich für Frevel.
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andreassolar
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Ob Miami oder White House. Was spielt das für eine Rolle. Verschiedene Ereignisse, aber gleiche Intentionen. Sogar die Personen sind die gleichen. Siehe die blonde Evangelikale in derselben einstudierten Pose und auch der graumelierte Herr rechts hinter Trump war schon in Miami dabei.
Ja, das trifft zu.

Worauf wollte ich hinaus? Auf die immer vorhandene Tradition, anscheinend eine anthropologische Konstante in jeder Bevölkerung, herausgehobene, bekannte, berühmte oder politisch/ gesellschaftlich herausragende Personen/Persönlichkeiten berühren zu wollen, ob Hand schütteln, oder gar mehr. Kraftübertragung, 'Heil'-Übertragung, Berührung einer elevierten Person.......(Marc Bloch, Otto Brunner)

Natürlich gehört die Inszenierung oder Präsentation der übertragenen Herrschaft oder Macht, ob formal oder informell übertragen, in allen Facetten dazu.

Die säkulare Ersatzinszenierung und Projektion sowie Überhöhung ohne Monarchen lässt sich gut am Präsidentenamt in den Staaten oder in Frankreich nachvollziehen, meine ich.

Und jede Monarchie modernisiert sich schleichend, zwischen den Generationen. Die Queen regierte über 60 Jahre, vielfach nach ihrem Verständnis und ihrer Zeit und dem Zeitgeist, in welcher sie das Amt übernahm.

Doch selbst innerhalb ihrer Regentschaft lässt sich eine schleichende Modernisierung fest stellen, meine ich. Besonders nach der Krise in den 1990ern mit Scheidungen und sonstigen Unebenheiten/Einbrüchen (Dianas Tod) bei ihren Nachkommen und sonstigen negativen Ereignissen.

Fazit: Es stellt sich nicht die Frage, ob Traditionen für einen Staat wichtig sind. Traditionen, das können verstaubte Rituale, Inszenierungen von Seiten der staatlichen Institutionen sein, die eisern durchgehalten werden, das können modernisierte Formen alter Inhalte und Aufgaben sein, oder ältere Formen mit neuen Inhalten und Aufgaben, das können volkstümlich entstandene sein usw. usw.
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andreassolar hat geschrieben: 14.05.2023, 10:18 Worauf wollte ich hinaus? Auf die immer vorhandene Tradition, anscheinend eine anthropologische Konstante in jeder Bevölkerung, herausgehobene, bekannte, berühmte oder politisch/ gesellschaftlich herausragende Personen/Persönlichkeiten berühren zu wollen, ob Hand schütteln, oder gar mehr. Kraftübertragung, 'Heil'-Übertragung, Berührung einer elevierten Person.......(Marc Bloch, Otto Brunner)

Natürlich gehört die Inszenierung oder Präsentation der übertragenen Herrschaft oder Macht, ob formal oder informell übertragen, in allen Facetten dazu.
Kann es sein, daß diese Haltung von allem Anfang der Entwicklung vom Tier zum Menschen in den Genen angelegt ist. Irgendwo hatte ich von einer Hypothese gelesen, daß nach dem Herdenleben in den Wäldern mit einem Alpha an der Spitze der Übergang zum Leben und Überleben in der Savanne nur in ganz kleinen Einheiten möglich war. Aber in den Köpfen und im Verhalten immer noch der "Boss" sein Wesen trieb und indirekt Macht ausübte.
Irgendwann wurde dann dieses Alpha ins Irgendwo imaginiert. Der Mensch schuf quasi Gott. Das war aber irrational. Und so drehte man das Ganze um:
„Und Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn; und schuf sie als Mann und Frau“.

Eine ver-rückte Idee?
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Barbarossa
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Die Wichtigkeit von Tradidionen für eine Nation zeigt sich gerade bei konservativen oder gar nationalistisch Regierungen. Da werden Abstammungslinien an den Haaren herbeigezogen. Einige Beispiele:

Wo wir schon bei den Briten sind: Die britischen Königshäuser führen ihre Tradition auf König Arthus zurück.
1. Ist gar nicht geklärt, ob es überhaupt einen solchen König gab, und
2. Wenn es ihn gab, dann hatte er als Kelte eine völlig andere ethnische Abstammung.

Ungarn: Die Ungarn (bes. unter Orban) sehen sich als direkte Nachkommen der Hunnen (siehe König Attila).
Auch das halte ich für an den Haaren herbeigezogen. Als Finno-Ugrier sind die Ungarn jedoch sprachlich eher mit den Finnen, Esten oder auch mit den Samen verwandt.
Die Hunnen kamen jedoch aus Zentralasien und deren Reste zogen nach ihrer Herrschaft in Europa in die Kaukasusregion ab.
Die Magyaren (Ungarn) kamen erst viel später (Ende des 9. Jh.) nach Mitteleuropa und stammten ursprünglich aus dem Ural.
siehe: https://de.m.wikipedia.org/wiki/Magyaren

Die ehemals jugoslawischen ,,Nordmazedonier'' sehen sich in der Tradition der antiken Makedonier unter Alexander des Großen.
Ebenso völlig abwegig - ein slawisches Volk kann sich nicht in eine Traditionsreihe eines griechischen Stammes stellen - ebenfalls völlig andere Ethnie!

Traditionen können also auch sehr seltsame Blüten treiben.
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Ruaidhri
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Barbarossa hat geschrieben: 29.05.2023, 11:40 Wo wir schon bei den Briten sind: Die britischen Königshäuser führen ihre Tradition auf König Arthus zurück.
1. Ist gar nicht geklärt, ob es überhaupt einen solchen König gab, und
2. Wenn es ihn gab, dann hatte er als Kelte eine völlig andere ethnische Abstammung.
Na, nicht wirklich, im Prinzip sind es die Angeln, Saxen und Jüten, dann die Wikinger( nicht die Normannen!), in denen die meisten weißen Briten (und Historiker) ihre Ahnen sehen. :D
Traditionen sind schon gut, richtig und wichtig, ich weiß, dass viele Expats sie schätzen lernten, nur eben sehr erstaunt sind, wie unterschiedlich Deutschlands Regionen ticken.
Muttersprache: Deutsch Vaterland: Keins. Heimat: Europa
LG Ruaidhri
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