Karl Marx und die asiatische Produktionsweise

Kommentare und Meinungen zu epochenübergreifenden Themen

Moderator: Barbarossa

Wallenstein

In seinen Werken beschreibt Marx beiläufig die sogenannte „Asiatische Produktionsweise“. Die Ähnlichkeit dieses Systems mit dem späteren „Realen Sozialismus“ ist so verblüffend, das die Ideologen des offiziellen Kommunismus diesen Begriff in der Regel überhaupt nicht erwähnen. Die Parallelen sind aber erstaunlich und dies wurde von dem früheren Kommunisten und späteren Renegaten Karl August Wittfogel, sowie von dem westdeutschen Studentenführer Rudi Dutschke und dem DDR-Dissidenten Rudolf Bahro herausgearbeitet. (1)

Marx schreibt in einem Vorwort 1859: „In großen Umrissen können asiatische, antike, feudale und modern bürgerliche Produktionsweisen als fortschreitende Epochen der ökonomischen Gesellschaftsformation bezeichnet werden.“ (K. Marx, Kritik der politischen Ökonomie, MEW 13, Berlin 1960 S.9)

Um Klassenherrschaften zu bestimmen, stellt sich Marx die Frage: Wer beherrscht die entscheidenden Produktionsmittel und den durch sie geschaffenen Mehrwert? In der Antike, im Feudalismus und in der bürgerlichen Gesellschaft sind es die Privateigentümer, aber in der asiatischen Gesellschaft?

Hier lässt uns Marx im Unklaren:
..In jenen frühen Produktionsweisen waren die Hauptbesitzer des Mehrprodukts, mit denen der Kaufmann handelt, der Sklavenhalter, der feudale Grundherr, der Staat (d.h. der orientalische Despot).“ (Marx, Kapital, Bd. III, Berlin 1960, S. 343)

Während Marx in den beiden ersten Fällen Klassen benennt, spricht er am Beispiel des Orients vom Staat beziehungsweise von einer einzelnen Person. Nur eine Ungenauigkeit?

Marx beschreibt die dörflichen Gemeinden, die in Indien auf dem Gemeinschaftseigentum beruhen „…in dem die wirklichen Gemeinden nur als erbliche Besitzer auftreten, aber die zusammenfassende Einheit, die über allen diesen kleinen Gemeinwesen steht, als der höhere Eigentümer oder als der einzige Eigentümer erscheint, die im Despoten realisiert ist als dem Vater der vielen Gemeinwesen.“ (Marx, Grundrisse, Berlin 1960, S.376)

Auch hier wird wieder nur eine einzelne Person benannt, keine Klassen. Marx spricht von der allgemeinen Staatssklaverei im Orient, der Staat ist Obereigentümer des wichtigsten Produktionsmittels, dem Grund und Boden. Woher kommt diese starke Stellung des Staates? Marx erklärt dies mit Naturbedingungen:

„Klimatische und territoriale Verhältnisse, besonders die weiten Wüstenstriche, die sich von der Sahara quer durch Arabien, Persien, Indien und die Tatarei bis an das höchste asiatische Hochland ziehen, bedingten künstliche Berieselung durch Kanäle und Wasserwerke, die Grundlage der orientalischen Landwirtschaft. Wie in Ägypten und Indien, werden Überschwemmungen auch in Mesopotamien, Persien und anderen Ländern nutzbar gemacht, um die Fruchtbarkeit des Bodens zu steigern; hoher Wasserstand wird zur Speisung von Bewässerungskanälen ausgenutzt. Die unbedingte Notwendigkeit einer sparsamen und gemeinschaftlichen Verwendung des Wassers, die im Okzident, z.B. in Flandern und Italien, zu freiwilligem Zusammenschluß privater Unternehmungen führte, machte im Orient, wo die Zivilisation zu niedrig und die territoriale Ausdehnung zu groß war, um freiwillige Assoziationen ins Leben zu rufen, das Eingreifen einer zentralisierenden Staatsgewalt erforderlich. Hierdurch wurde allen asiatischen Regierungen eine ökonomische Funktion zugewiesen, die Funktion, für öffentliche Arbeiten zu sorgen. Diese künstliche Fruchtbarmachung des Bodens, die vom Eingreifen einer Zentralregierung abhängt und sofort in Verfall gerät, wenn diese Regierung Bewässerung und Dränierung vernachlässigt, erklärt die sonst verwunderliche Tatsache, daß wir heute ganz große Gebiete wüst und öde finden, die einstmals glänzend kultiviert waren, so Palmyra und Petra, die Ruinen im Jemen und weite Landstriche in Ägypten, Persien und Hindustan; sie erklärt auch, wie ein einziger Verwüstungskrieg imstande war, ein Land auf Jahrhunderte zu entvölkern und es seiner ganzen Zivilisation zu berauben.“
(Karl Marx - Friedrich Engels - Werke, Band 9, Berlin 1960 S. 127-133 Karl Marx, Die britische Herrschaft in Indien)

Diese Erklärung mag uns zunächst einmal genügen. Aber noch immer wissen wir nicht, wer denn die herrschende Klasse in diesem System ist. Nur einmal wird sie von ihm erwähnt:

„Die Notwendigkeit, die Perioden der Nilbewegung zu berechnen, schuf die ägyptische Astronomie und mit ihr die Herrschaft der Priesterkaste als Leiterin der Agrikultur“. (K. Marx, Das Kapital I, Berlin 1960, S.78)

Hier wird endlich Klartext gesprochen. Während Marx sonst die herrschende Klasse mystifiziert, in dem er allgemein vom Staat spricht oder einer einzelnen Person, dem Despoten, so benennt er jetzt die Herrscher dieser Welt, die er jedoch als Kaste bezeichnet. (?) Es ist eine Bürokratie, eine Funktionselite. Sie sind aber nicht Privateigentümer, sondern nur Verwalter. Es gibt also Klassengesellschaften auch ohne Privateigentum. Oder ist die Kaste bei ihm keine Klasse?

Marx schildert in der „asiatischen Produktionsweise“ eine Klassengesellschaft, in der die Macht der Herrscher nicht auf Privateigentum beruht, sondern auf ihrer Funktion im Produktionsprozess. Genau das ist aber in der „asiatischen Produktionsweise“ der Fall, eine Bürokratie, eine Funktionselite, beherrscht alles. Dem Staat mit dem Despoten an der Spitze gehören die Produktionsmittel, die Bürokratie verwaltet sie. Die Parallelen zum „Realen Sozialismus“ sind verblüffend. Rudolf Bahro schreibt zu Recht von der „Industriellen Despotie“ des Sozialismus, dem modernen Ebenbild der alten „asiatischen Produktionsweise“. Die Elite im Sozialismus kontrolliert den Produktionsapparat, der jetzt aber aus der Industrie besteht, nicht mehr aus dem Grundeigentum.

Hat Marx möglicherweise selber gemerkt, dass seine gesellschaftspolitischen Vorstellungen auf eine Neubelebung der orientalischen Despotie hinauslaufen können? Hat er sich deshalb nicht weiter über die Bürokratie geäußert und nirgendwo klar herausgearbeitet? Wir werden es nie erfahren.

Stalin hat allerdings gemerkt, dass hier ein Problem vorliegt. 1931 wurde von ihm offiziell die „berüchtigte Theorie der asiatischen Produktionsweise“ verurteilt und verdammt und ersatzlos aus dem Kanon des Marxismus-Leninismus gestrichen.

Stalin sah die große Ähnlichkeit seines Regimes mit der „asiatischen Produktionsweise“. Er konnte eine Theorie nicht dulden, die davon ausgeht, dass sich in einer Gesellschaft, in der alles dem Staat gehört, eine neue herrschende Klasse in Form einer Bürokratie herausbilden könnte. Das hätte unweigerlich zu einer Diskussion über den Charakter der sowjetischen Bürokratie geführt und die war in den zwanziger Jahren bereits voll entbrannt. Lenin, der die Theorie von Marx noch teilte, hatte auch wiederholt vor einer „asiatischen Restauration“ in Russland gewarnt. Stalin wollte alle Denkansätze in dieser Richtung vollständig eliminieren.

Der frühere Kommunist Wittfogel vertritt noch eine andere Auffassung: Stalin begann in den zwanziger Jahren damit, ein primitives Stadien-Schema zu entwickeln, um die Weltgeschichte zu erklären. Demzufolge gab es zuerst die klassenlose Urgesellschaft. Aus der begann sich das Privateigentum zu entwickeln und durchlief verschiedene Stadien. Zuerst gab es die Sklavenhaltergesellschaft, dann den Feudalismus, danach den Kapitalismus. Am Ende setzt sich dann der Sozialismus durch, in dem das Privateigentum wieder beseitigt wird. Dieses Schema suggeriert eine strenge Gesetzmäßigkeit in der Geschichte, die zwangsläufig zum Sozialismus führt. Die „asiatische Produktionsweise“ passt aber in dieses Schema nicht hinein und wurde von Stalin deshalb für falsch erklärt. Kurzerhand bezeichnete er alle asiatischen Länder von Indien bis China für feudal, damit seine Theorie wieder stimmt.

(1) Siehe die Bücher:
Karl-August Wittfogel, die orientalische Despotie
Rudi Dutschke, Versuch Lenin vom Kopf auf die Füße zu stellen
Rudolf Bahro, Die Alternative

P.S.
Sowohl Marx als auch Engels hielten den Orient für primitiv und rückständig. Damit teilten sie die Meinung der Europäer in der damaligen Zeit. Deshalb begrüßten sie die britischen Eroberungen in Indien und China, denn auf diese Weise würde der Orient zivilisiert werden, wenn auch auf brutale Art. Dieser schmerzhafte Prozess sei aber absolut notwendig, damit diese Länder von der Barbarei zur Zivilisation vorstoßen können. Auch für Marx und Engels ist die westliche Kultur die einzige richtige Kultur, der Rest ist primitiv und rückständig. So schreibt Marx über Indien:

„Seit undenklichen Zeiten gab es in Asien nur drei Regierungsdepartements: das der Finanzen oder für die Ausplünderung des eigenen Volkes; das des Krieges oder für die Ausplünderung anderer Völker; und schließlich das der öffentlichen Arbeiten.“

Dann beschreibt er das Kastenwesen und die Struktur der indischen Dörfer:

„Wir dürfen nicht vergessen, daß dieses menschenunwürdige, stagnierende Dahinvegetieren, diese passive Art zu leben, auf der andern Seite ihre Ergänzung fanden in der Beschwörung wilder, zielloser, hemmungsloser Kräfte der Zerstörung, und in Hindustan selbst aus dem Mord einen religiösen Ritus machten. Wir dürfen nicht vergessen, daß diese kleinen Gemeinwesen durch Kastenunterschiede und Sklaverei befleckt waren, daß sie den Menschen unter das Joch äußerer Umstände zwangen, statt den Menschen zum Beherrscher der Umstände zu erheben, daß sie einen sich naturwüchsig entwickelnden Gesellschaftszustand in ein unveränderliches, naturgegebnes Schicksal transformierten und so zu jener tierisch rohen Naturanbetung gelangten, deren Entartung zum Ausdruck kam in der Tatsache, daß der Mensch, der Beherrscher der Natur, vor Hanuman, dem Affen, und Sabbala, der Kuh, andächtig in die Knie sank.“

Karl Marx - Friedrich Engels - Werke, Band 9, S. 127-133
Berlin 1960 Karl Marx, Die britische Herrschaft in Indien
  • Vergleichbare Themen
    Antworten
    Zugriffe
    Letzter Beitrag

Zurück zu „Epochen-übergreifende Themen“