Christiane Florin - Interessantes Interview zum Semesterbegi

Fragen und Informationen zu Schule, Studium und Chacen der Bildung in Deutschland

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Orianne
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Nächste Woche beginnt ein neues Semester. Dozentin Christiane Florin hat ein kritisches Buch über die heutigen Studenten geschrieben: Sie wüssten viel weniger als frühere Generationen und seien überangepasst.

Frau Florin, Sie haben einen Lehrauftrag an der Uni Bonn. Was fiel Ihnen als Dozentin auf?
Mir fiel auf: Viele Studenten, die da vor mir sitzen, haben von Politik keine Ahnung, verfügen nicht einmal über Grundkenntnisse. Wenn ich um eine chronologische Aufzählung der Nachkriegsbundeskanzler bitte, schaue ich in ratlose Gesichter. Natürlich besteht ein Studium nicht darin, stumpfsinnig Namen und Daten aufzuzählen, aber ich hatte erwartet, dass jemand, der sich für ein Seminar zur deutschen Innenpolitik anmeldet, sich schon einmal aus eigenem Antrieb mit dem Land beschäftigt hat, in dem er lebt. Grundwissen ist eine zwingende Notwendigkeit, um überhaupt am politischen Leben teilnehmen zu können. Da reichen Flashmobs, Containern und Web-Petitionen nicht aus.

Sie vermissen die Neugierde.
Die meisten meiner Studenten spulen einfach ein Programm ab, hinterfragen nichts und niemanden. Debattieren wollen sie meist erst, wenn sie mit ihren Noten unzufrieden sind. Sie erledigen das Studium wie einen Job, und das ist schade.

Ist dieser Missstand tatsächlich den Studenten vorzuwerfen? Wäre nicht viel eher das Bologna-System mit seiner Kontrollobsession und seinem Punktefetisch zu kritisieren?
Das Bologna-System trägt Mitschuld, kein Zweifel. Es ist wie die Studenten das Produkt unserer Gesellschaft, die sich seit den 1990ern radikal der Effizienzsteigerung verschrieben hat. Das Bildungssystem wurde ökonomisiert, man bildet sich nicht, sondern sammelt Credit-Points und Abschlüsse. Und auch wir Dozenten, Lehrbeauftragte und Professoren müssen uns die kritische Frage stellen lassen, wo wir gewesen sind, als das Bologna-System eingeführt wurde – warum da nicht mehr Widerspruch kam. Dennoch: Die Studenten dürfen nicht in ihrer selbstgewählten Resignation verharren. Dass sie sich angepasst verhalten, entspringt ja nicht einer inneren Überzeugung, sondern dem Gefühl: Ich kann ohnehin nichts ändern.

Ihre Klage über allzu berechnende, allzu ruhige Studenten scheint einer diffusen Sehnsucht nach «mehr Leidenschaft im Hörsaal» geschuldet, die unweigerlich in eine Glorifizierung der 68er und ihrer mitunter zum Palaver neigenden Exponenten mündet.
Nein. Ich bin 1968 geboren, die Glorifizierung der 68er überlasse ich den Strassenkämpfern von damals. Es geht mir nicht einmal darum, eine politisch engagiertere Studentenschaft zu fordern. Auch in meiner Studentenzeit, ja selbst 1968 engagierte sich nur eine Minderheit. Mir geht es um interessierte Studenten. Ich möchte sie dazu ermutigen, ein Studium als Chance zu sehen, sich mit anregenden Gedanken auseinanderzusetzen und selbstständiges Denken und Urteilskraft zu trainieren.

Haben sich nicht auch Organisation und Infrastruktur der Uni den heutigen Studenten entfremdet? Frontalunterricht, Hörsäle: Das sind Konzepte, die vor Jahrhunderten entwickelt wurden.
Sicher, da könnte man mehr tun. Aber auch hier gilt: Wenn die Studenten diese Formen nicht mehr für zeitgemäss erachten, sollen sie sich melden und Vorschläge machen, wie die Lehre besser werden könnte. Und das tun sie eben nicht. Zu selten.

Viele geisteswissenschaftliche Fächer leiden unter ihrer Popularität: Überfüllte Vorlesungen und Seminare verhindern eine ordentliche Betreuung und intensive, persönliche Diskussionen. Könnte hier eine strengere Selektion Fächer und Studenten aufwerten?
Das ist mir zu mechanisch. Es geht doch vielmehr darum, endlich ehrlich und ernsthaft zu fragen, was ein Abiturient respektive Maturand wissen und können muss, was Reife im Wort Hochschulreife bedeutet. Ich frage meine Studenten immer: Was bedeutet Bildung für Sie? Warum studieren Sie? Dann sind sie erst einmal sprachlos, weil ihnen offenbar niemand bisher diese Frage gestellt hat. Bildung ist für sie die Erfüllung diffuser Erwartungen, sie wollen möglichst schnell durch die Uni, ganz egal, ob sie neue Erkenntnisse gewonnen haben oder nicht. Heute wird viel zu sehr über vage Kompetenzen geschwurbelt, statt über konkrete Inhalte geredet. Die Ansprüche sinken, die Anzahl der Abiturienten steigt – was ja auch politisch gewollt ist. Und so wird die Stunde der Wahrheit im Lebenslauf nach hinten geschoben.

Was meinen Sie damit?
Es gibt in Deutschland eine Inflation der guten und sehr guten Noten, sowohl beim Abitur als auch beim Hochschulabschluss. Viele, die heute die Universität mit einem guten Abschluss verlassen, wären früher schon im Gymnasium oder an der Universität gescheitert. Heute scheitern sie im Beruf. Absolventen präsentieren ihrem Arbeitgeber einen tollen Lebenslauf, ihr Chef ist dann aber im Alltag richtiggehend schockiert, wie bescheiden die praktischen Fähigkeiten tatsächlich sind, wie unselbstständig junge Akademiker sich verhalten und wie wenig Verantwortungsbereitschaft sie zeigen. Solche Klagen höre ich in letzter Zeit aus den HR-Abteilungen grosser Firmen. In der Folge werden Vorstellungsgespräche und Probetage gegenüber Noten höher gewichtet. Das heisst, die Noten, die wir verteilen, gelten nicht als besonders glaubwürdig. Man muss aber auch sagen, dass die Arbeitgeber, die sich jetzt beschweren, vor einigen Jahren genau diesen Bachelor gefordert haben.

Haben Sie manchmal das Gefühl, Ihre Studenten gar nicht mehr zu erreichen?
Im Gegenteil: Mein Buch spricht sehr viele Studenten an. Das Echo ist gewaltig, in positiver wie in negativer Hinsicht. Viele Studenten haben mir zugestimmt – nicht zufällig solche, die sich bereits heute engagieren. Noch mehr reagierten jedoch sehr getroffen, sehr pikiert. Manche fordern mich auf, ein nächstes Buch zu schreiben mit dem Titel: Warum unsere Journalisten so angepasst sind.

Quelle: Tagesanzeiger Zürich
Grant stood by me when I was crazy, and I stood by him when he was drunk, and now we stand by each other.

General William Tecumseh Sherman
Bild
ehemaliger Autor K.

Was Christine Florin hier äußert, kann ich teilweise bestätigen, da ich seit einigen Jahren selber als Universitätsdozent arbeite. Man muss allerdings einige Dinge hierbei berücksichtigen. Frau Florin ist bei den Geisteswissenschaftlern eingestellt und dort ist es teilweise ganz anders als in den übrigen Bereichen.

Ich bin 1950 geboren worden und studierte deshalb in der „unruhigen“ Zeit, die sie selber nur vom Hörensagen kennt. Viele Fachbereiche, wie z.B. VWL und BWL, mit denen ich es zu tun hatte, blieben davon aber völlig unberührt. Ich habe an der Universität zunächst Statistik und Mathematik für Wirtschaftswissenschaftler unterrichtet und habe die Vorlesungen genauso abgehalten, wie ich es einst kennen gelernt habe, Frontalunterricht und man spult sein Programm ab ohne Diskussion. Diese Paukfächer kann man auch kaum anders unterrichten. Eine Flut guter Noten gibt es hier auch nicht. Über die Hälfte der Teilnehmer fällt durch, eine „Drei“ ist schon außerordentlich gut.

In manch anderen Fächern ist es nicht viel anders, Jura, Naturwissenschaften, Mathematik, Medizin etc.
In den Geisteswissenschaften war es aber Ende der sechziger und Anfang der siebziger Jahre anders. Ich glaube allerdings nicht, dass Frau Florin diese Zeiten erleben möchte, denn ich kann mich noch gut an die ständigen Tumulte und Auseinandersetzungen erinnern. Ich fand dies aber eher störend, denn sie hinderten einem an Lernen und ich empfand sie zwar als spannend, aber nicht als sonderlich lehrreich. Viele Professoren begannen dann damit, gute Noten zu vergeben, um sich bei den Studenten lieb Kind zu machen und um Kontroversen aus dem Wege zu gehen. Damals konnte man in Pädagogik, Geschichte, Politik usw. beschämend einfach einen Schein machen. Seinerzeit begann die Flut der guten Noten in diesen Bereichen.

In den achtziger und in den neunziger Jahren änderten sich auch allmählich die Anforderungen bei einigen Geisteswissenschaftlern. Im Bereich der Soziologie verschwanden die Seminare aus dem Angebot, in denen Theorien diskutiert wurden zugunsten von Veranstaltungen, in denen es nur noch um Quantitative Methoden und um Empirische Sozialforschung geht, also um Positivismus und um Empirie. Das ist nicht verkehrt, aber ein wenig einseitig. Soziologie wird dann zu einem Handwerkszeug, das man nur noch erlernen muss. Die Lehre wurde so umgebaut, dass der Student nur noch Regeln auswendig lernen muss, um die Prüfung zu bestehen.

In Volkswirtschaft war dies ohnehin nie viel anders gewesen, aber es gab Veranstaltungen, in denen unterschiedliche Theoriemodelle vorgestellt und debattiert wurden. All dies ist völlig verschwunden und der Student lernt nur noch mathematische Modelle auswendig, die er in der Prüfung herunterbeten muss. Die Vielfalt der Theorien und die unterschiedlichen Ansätze lernt er in der Regel überhaupt nicht mehr kennen.

Was ich hiermit sagen will: Die Studienfächer werden heute oft so präsentiert, als handelt es sich hier um kanonisches Wissen, das man lediglich auswendig lernen muss. Das kommt den Professoren entgegen, weil es die anstrengenden Auseinandersetzungen und Diskussionen der früheren Zeit nicht mehr gibt und die Veranstaltungen störungsfrei ablaufen. Die Studenten kennen diese Lehrmethode wohl aus der Schule und sie glauben, studieren ist einfach nur pauken aus Lehrbüchern oder dem Internet. Das kann aber nicht der Sinn sein.

Ich war nach dem Studium lange Zeit Geschäftsführer in einem Unternehmen und habe bezüglich der Einstellungskriterien keinen sonderlichen Wert auf eine akademische Ausbildung der Bewerber gelegt. Wer nur etwas auswendig gelernt hat, ist nicht unbedingt qualifiziert. Im Berufsleben werden viele Anforderungen gestellt und ein studierter Mitarbeiter ist bei weitem nicht ein guter Mitarbeiter.
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