Finnisches Bildungsmodell - Zukunfts Investition oder Luxus?

Fragen und Informationen zu Schule, Studium und Chacen der Bildung in Deutschland

Moderator: Barbarossa

Renegat
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Es ist ja nicht nur das Einzelkindproblem, die gab es immer, wenn auch nicht so oft. Einzelkinder und ihr Leben sind ein Ausdruck für die schon lange nicht mehr "artgerechte Haltung von Kindern". Der Mensch ist ein soziales Wesen, Gruppenverhalten muß geübt werden, vor allem auch mal ohne Aufsicht und Kontrolle von Erwachsenen, einfach durch kindliches Spiel.
Bei allen Tierkindern/Wurfgeschwistern beobachten wir amüsiert die tolpatschigen Raufereien und ungestümes Verhalten. Nur von unseren eigenen Kindern verlangen wir, kleine Erwachsene von der ersten Stunde an zu sein. Wir, die Erwachsenen sind überall in der Überzahl, beobachten, analysieren, bewerten, greifen ein, wir lassen unseren wenigen Kindern keinen Raum für die soziale Entwicklung untereinander.
Nach meiner Meinung ist das auch der Hauptgrund, warum es in Schulklassen, in denen Kinder aus verschiedenen Gesellschaftsschichten sitzen, so oft zu Problemen kommt. Da treffen Kinder, die sich auf der Straße mit anderen Kindern/Geschwistern auseinandersetzen müssen auf Kinder, deren Leben genauso durchgeplant ist, wie das ihrer Eltern. Verabredung mit dem besten Freund mit Eintrag in den Terminkalender. Kein spontanes "Komm raus zum spielen".
Austoben höchstens als work-out beim Termin im Sportverein oder in der Sportstunde.
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Gontscharow
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Was Dieter geschrieben hat - am Ende der Grundschulzeit wird gefragt, was der Vater von Beruf sei und danach erfolgt dann die Empfehlung für die weiterführende Schule - kenne ich auch noch.
Ein Beweis dafür, daß man von 10-jährigen Kindern auch als Lehrer in Wirklichkeit nicht beurteilen kann,
welchen Weg das Kind einschlagen wird.Ich behaupte, daß 90% der Schüler in der Lage wären, die Anforderungen
des heutigen Abiturs zu meistern, wenn sie es selbst wollten und entsprechend in den Elternhäusern unterstützt würden.
---------Ich selbst war in der Grundschule kein guter Schüler. Unter anderem habe ich grammatikalisch falsches Deutsch geschrieben ( orthographisch sowieso, aber das tun ja alle Kinder, die das Schreiben lernen), was vielleicht damit zu tun hatte, daß man die Muttersprache eben von seiner Mutter lernt, und die meiner Mutter war eben nicht Deutsch. Ich habe dann in der 4.Klasse eine Empfehlung für die Hauptschule bekommen, bin de facto erst zur Realschule gegangen und später aufs Gymnasium gewechselt.
Stephan
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Stephan hat geschrieben: ...
Irgendwann nach dem PISA-Schock sah ich eine Dokumentation die auch über das finnische Modell berichtete. Ein ganz wesentlicher Unterschied zur Schule in Dtschl. war die Ruhe, die in der Klasse herrschte, von der ersten Minute des Unterrichts an. Zu hören war entweder der vortragende Lehrer und ein Schüler. Um die Disziplin zu fördern wurde auch bei offen stehender Klassentür unterrichtet, um die Schüler früh daran zu gewöhnen Rücksicht auf andere zu nehmen.

Vor allem in leicht-intellektuellen Kreisen wird Disziplin ja gerne als lästiges Überbleibsel vergangener Zeiten betrachtet und Chaos mit Kreativität gleichgesetzt. Dabei ist Disziplin ein Grundbaustein menschlichen Miteinanders. Nicht gleich jedem eigenen Impuls nachzugeben, den Anderen ausreden zu lassen, mit Argumenten statt mit Lautstärke überzeugen - all dies erfordert Disziplin.
...
RedScorpion hat geschrieben:Ja, nur ist diese Art von Disziplin ein Kind der Not, bzw. eine aus der Not erstandene Tugend. Dein letzter Satz im Zitat trifft es schon besser, und auch Orianne deutet an, dass die "Eigendisziplin" wichtiger ist als ein Sichzusammenreissen im Kollektiv. Das sind m.E. zwei verschiedene Paar Schuhe, und letzteres auch abhängig von der Unterrichtsstundenzahl am Tag nicht immer durchführbar.
(Hervorhebung von mir)

Diese Annahme, die auch von Alt-68ern gern vertreten wird, ist falsch.
Disziplin ist unteilbar.
s. http://retro.seals.ch/cntmng?pid=asm-004:1952:118::1254

Und von der Anzahl der Unterrichtsstunden ist Disziplin schon einmal völlig unabhängig - es ist einfach eine Frage der Einstellung.

In meinem ersten Schuljahr hatten wir drei oder maximal vier Unterrichtsstunden am Tag. Der Schulbeginn sah so aus, dass sich die Schüler, die alle aus der näheren Umgebung stammten, bis ca. 15 Minuten vor Unterrichtsbeginn auf dem Schulhof einfanden. Dann begann ein klassenweises Aufstellen in 2er-Reihe, der Schulleiter begrüßte die Schüler, gab eventuell noch einige Dinge zum Tagesablauf bekannt und dann begaben sich die Schüler in ihre Klassenräume. Der Übergang von der Entspannungs- zur Lernphase erfolgte vor dem Unterricht und nicht in der ersten Viertelstunde wie man heute häufig beobachten kann.
RedScorpion hat geschrieben:Es ist gegen die Natur eines Nicht-Erwachsenen, 10 Stunden am Tag still zu sitzen ...
Erstens ist es auch gegen die Natur von Erwachsenen 10 Stunden am Tag still zu sitzen und zweitens wurde das auch von niemanden gefordert.

Zehn Stunden Unterricht am Tag sind sowieso Quatsch. Eigentlich ist nach ca. 4 Stunden das Maß voll. Die Uni Stuttgart empfiehlt den Studierenden bei Vorbereitungen auf Prüfungen nicht umsonst, spätestens nach 4 Stunden eine Pause von 1 - 3 Stunden! einzulegen.
s. http://www.uni-stuttgart.de/100-online/ ... /A-224.pdf
Für den Schüler ist es danach Zeit den gelehrten (und häufig noch nicht gelernten) Stoff in Form von Hausarbeiten zu vertiefen. Lernen ist kein abstrakter Prozess, sondern ist nichts anderes als die Ausbildung entsprechender Verknüpfungen und Strukturen im Gehirn, dazu braucht es aber Zeit und Wiederholungen sind unabdingbar.
RedScorpion hat geschrieben:...und Monologen eines mehr oder minder qualifizierten Alleinunterhalters beiwohnen zu müssen. Leider ist aber Unterricht oft oder gar meistens genau dies und nur dies. Ich bewundere da die Geduld der Schüler, derer Eltern und auch der Schulaufsichtsbehörden mit dem heutigen Personal, welches heute imho nicht die Qualität besitzt wie vor 30 Jahren, z. B. LG
Auch von Monologen war nirgendwo die Rede. Die wenigstens Schüler sind allerdings in der Lage den Satz des Pythagoras oder die Lösung quadratischer Gleichungen aus sich heraus zu entwickeln. Die Einführung des neuen Stoffes durch den Lehrer liegt also in der Natur der Sache. Eine persönliche Erfahrung an alle Pädagogen, die dies vielleicht lesen: Arbeitsgruppen im Unterricht waren mir ein Greuel.

Zustimmen muss man RS bezüglich des Verfalls der Qualität des Lehrkörpers. Der manifestiert sich in Dtschl. häufig schon im äußeren Erscheinungsbild. Der Lehrer von Früher verfügte über ein gewisses Maß an Selbstachtung, sah sich als Vorbild, das seinen Schülern etwas vermitteln wollte und den Unterricht als Aufgabe und nicht als Job, dazu zählte nicht zuletzt das Auftreten in einer angemessenen Kleidung. Den Wechsel zum Kumpel, der versucht sich Ansehen bei seinen Schülern durch Anbiederung in Auftritt und Verhalten zu erkaufen habe ich noch miterleben dürfen - die dürftigen Ergebnisse ebenfalls.
Freundliche Grüsse
Stephan
Lia

Auch von Monologen war nirgendwo die Rede.
Schon lange out. Lehervorträge von mehr als drei Minuten= unerwünscht. Impulse setzen, Unterrichtsgespräch quer durch alle Fächer- entdeckendes lernen, Phasenwechsel, etc.etc. sind seit Ewigkeiten angesagt.
Stefan hat geschrieben:Der Übergang von der Entspannungs- zur Lernphase erfolgte vor dem Unterricht und nicht in der ersten Viertelstunde wie man heute häufig beobachten kann.
Jau, ist oft so. Die Pause ist zur Entspannung da, WC-Besuch und oft genug auch Essen und Trinken muss man dann zu Beginn des Unterrichts erledigen. Und überhaupt, Schule ist Sch.., wer lernen will, hat selber Schuld und ist uncool. :mrgreen:
Grundsätzlich hat Finnland nicht die Massen- Probleme mit Migranten, eine Sache.
Und grundsätzlich haben die Skandinavier eine andere Mentalität und Grundeinstellung, auch für den Umgang miteinander und untereinander, was die moderne Form des Unterrichtens erleichtert, neben den kleinen Lerngruppen, die eigentlich die wichtigste Grundvoraussetzung für erfreuliches Lehren und Lernen sind.
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Orianne
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Jede Münze hat zwei Seiten so auch Finnland:

Finnland ist der Liebling der Statistik. Aber in Finnland sind viele Jugendliche arbeitslos, die Suizidrate unter Jugendlichen ist hoch und das Alkoholismusproblem gross. Eine Spurensuche.

Vor 40 Jahren noch ein Agrarstaat, ist Finnland heute Hightech-Pionier und brilliert trotz Finanzkrise mit Spitzenrating immer noch als Europas Liebling – auch dank dem berühmten «sisu», dem finnischen Kampfgeist. Das Land ist eins der sichersten Europas, steht im Korruptionsindex auf Platz eins, und die Bertelsmann-Stiftung hat herausgefunden, dass der gesellschaftliche Zusammenhalt nirgendwo in Europa grösser ist als hier.

Und da ist natürlich das Schulsystem. Finnland steht bei internationalen Vergleichen der Schüler regelmässig an der Spitze – obgleich noch in den 1970er Jahren Lehrer-Delegationen in Länder wie die DDR reisten, um sich Anregungen für das eigene System zu holen. Heute glauben drei Viertel der Finnen, dass ihr öffentliches Schulsystem die grösste Errungenschaft seit der Unabhängigkeit 1917 ist, Bildungsexperten aus aller Welt kommen mit der Frage nach dem Erfolgsgeheimnis zu Besuch.

Die Antwort geht auf Socken. Ein Besuch in der Taivallahti-Gesamtschule in Helsinki. In den Fluren hängen die kleinen Jacken an bunten Haken, die Schuhe stehen auf dem Boden: Wie in Finnland üblich, läuft man auch hier auf Socken, da fühlt sich Schule fast wie die Wohnstube an. Auch im Klassenzimmer geht es sehr persönlich zu: Die Kinder duzen die Lehrerin, die sich um jeden einzeln kümmert. Wenn sie das nicht schafft, springt ihr ein ganzes Fürsorge-Team aus Psychologen, Sozialarbeitern und Krankenschwestern zur Seite. Die Lehrer sind frei in der Unterrichtsgestaltung, richten sich statt nach strengen Lehrplänen nach dem Tempo der Kinder. Kinder mit Migrationshintergrund haben Anspruch auf Muttersprachenunterricht. Es gibt eine Schulbibliothek und kostenloses Mittagessen für alle. Die optimale Vorbereitung auf das wahre Leben – theoretisch.

Doch die Praxis sieht manchmal anders aus. Das weiss Sami Isoniemi nicht nur aus der eigenen Kindheit. Der heute 27-Jährige ist Kriminalkommissar und engagiert sich in der Jugendarbeit. Als Leiter einer Ehemaligen-Gruppe besucht er Jugendschutz-Einrichtungen und Jugendhaftanstalten und erzählt seine Geschichte: «Ich will den Kindern zeigen, dass ihr Schicksal keine Einbahnstrasse ist. Dass sie stark sind und ihren Traum leben können, so wie ich Polizist geworden bin.» Die Kinder erleben oft zum ersten Mal, dass ihnen jemand wirklich zuhört. «Die gemeinsame Geschichte verbindet uns.»

Wie kann es in einem Land wie Finnland zur Ausgrenzung kommen? «Wenn ich das wüsste, wäre ich Millionärin», sagt Jaana Walldén vom Ministerium für Bildung und Kultur. Meist sind es junge Arbeitslose, die aus dem Raster fallen, glaubt man bei Demos Helsinki, einem unabhängigen Wirtschafts-Think-Tank. Der Grund: Die finnische Politik habe es versäumt, Jobs auch für Geringqualifizierte zu schaffen. «Geringverdiener wiederum bekommen keine zusätzlichen Sozialleistungen, wenn sie überhaupt einen Job haben», sagt Heikki Hiilamo, Professor für Sozialpolitik in Helsinki. «Und diese Menschen greifen schneller zur Flasche oder werden depressiv.» Dabei seien das Problem selten die Jugendlichen oder Kinder selber, sondern ihr Umfeld. Studien des Nationalen Instituts für Gesundheit und Gemeinwohl (THL) zeigen, dass Eltern ihre finanziellen und gesundheitlichen Probleme ebenso wie Arbeitslosigkeit weitervererben. «Viele Kinder vereinsamen», sagt Walldén, auch in Akademikerfamilien: «Da sind die Eltern oft mit sich selbst beschäftigt.»

In diesen Familien ist der Zusammenhalt schwach – durchaus typisch für Finnland. Die Kultur ist geprägt von Einzelkämpfertum, das den Kampf mit der Natur ebenso spiegelt wie den Konformitätsdruck. Dazu kommen der Alkohol, eine «Schweigekultur» in Bezug auf Gefühle, die Kleinheit des Landes, in dem das soziale System auf einem engmaschigen Beziehungsnetz basiert – auch weil die Gesellschaft kaum Hierarchien kennt. Die erste Frage an Fremde lautet stets: «Woher kommst du?» Ob jemand einen Doktortitel trägt oder Millionär ist, interessiert nur wenig. Ein schöner Zug – doch wer schlecht ist im Netzwerken, ist schnell raus. Und dann sind da die fürsorglichen Ganztagsschulen: Für manche Eltern ein willkommener Weg, eigene erzieherische Verantwortung abzuschieben. Querdenker haben es schwer in diesem System. Es gibt nur wenige und klar definierte Jugendkulturen, etwa die Heavy-Metal-Szene. Wer nicht dazugehört, wird schnell zum Aussenseiter. Und das führt oft zu Problemen wie Mobbing.

Der Staat hilft

Der Staat will sich nun mehr um solche Jugendlichen kümmern, auch wenn er darauf hinweist, dass die Statistik ihren Schrecken verliert, blickt man auf die Zahl der Neet-Jugendlichen («not in employment, education or training») – denn hier liegt Finnland unter dem EU-Schnitt. Dennoch versuche ihr Ministerium, verschiedene Jugendhilfethemen besser zu koordinieren, sagt Jaana Walldén. Ausserdem hat es seine Ausgaben für den Kampf gegen Jugendarbeitslosigkeit in fünf Jahren von 2,5 auf 14 Millionen Euro erhöht.

Überhaupt hat die Politik das Thema für sich entdeckt. Neben staatlich verordneten Gesundheitschecks an Schulen richtet die Diakonie Helsinki im Auftrag von Staatspräsident Sauli Niinistö einen Arbeitskreis ein, der Experten verschiedener Fachbereiche versammelt. Parallel hat Premier Jyrki Katainen das Projekt «Nuorisotakuu» initiiert. Diese «Jugendgarantie» will Arbeitslosen bis 25 innerhalb von drei Monaten eine Ausbildungs- oder Arbeitsstelle vermitteln. Kristian Nieminen etwa hat es – anders als 98 Prozent der Finnen – mit der Bewerbung für die gymnasiale Oberstufe «nicht auf die Reihe gekriegt». Als Schulabbrecher fühlte er sich ausgegrenzt. Dank «Nuorisotakuu» hat er nun eine Wohnung und einen Ausbildungsplatz als Mechaniker.

«Nirgendwo sonst kümmert man sich so eingehend um Jugend- und Sozialarbeit», sagt Isoniemi. Selbst der Glücksspielverband RAY überweist jedes Jahr 301 Millionen Euro an 780 entsprechende Einrichtungen. Und das staatliche Wettbüro Veikkaus hat erst 2012 Gewinngelder von gut 525 Millionen Euro für Jugendarbeit, Sportplätze und Theater abgezweigt. Wie besonders das ist, weiss Isoniemi auch dank internationalen Arbeitstreffen von Sozialarbeitern aus ganz Europa. «Nur Deutsche habe ich dort nicht getroffen und auch keine Schweizer.»

Quellen: Teile aus unserer Lehrerzeitung und TA
Grant stood by me when I was crazy, and I stood by him when he was drunk, and now we stand by each other.

General William Tecumseh Sherman
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