Die 68er - eine Bewegung voller Widersprüche?

Die junge Republik: Bonn, Adenauer, RAF, Schmidt, Kohl

Moderator: Barbarossa

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Barbarossa
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TU Berlin 1968a [CC BY 3.0 (https://creativecommons.org/licenses/by/3.0)], von Holger.Ellgaard, vom Wikimedia Commons: Transparente am Architektur-Gebäude der TU Berlin im Protest gegen die Verabschiedung der Notstandsgesetze
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Die ''68er Bewegung war ja eigentlich eine Studentenbewegung, die vor allem veraltete Strukturen aufbrechen wollte und mit jenen Altnazis abrechnen wollte, die noch immer im Staatsdienst waren. Insbesondere die Anschläge auf Benno Ohnesorg am 2. Juni 1967 und auf Rudi Dutschke am 11. April 1968 trugen sicher zur Radikalisierung der Bewegung bei. In anderen Pfaden unseres Forums wurde über das Thema bereits sehr kontrovers diskutiert, siehe:
http://geschichte-wissen.de/foren/viewt ... =26&t=4062
http://geschichte-wissen.de/foren/viewt ... =75&t=4054

Eines ist mir dabei aber immer noch nicht klar geworden. Es gibt meines Erachtens bei den '68ern eine große Diskrepanz, was die Ansichten und Aktionen der Akteure angeht, und dem, was die Bewegung langfristig in der Gesellschaft an Veränderungen auslöste.
Einerseits:
Die Wissenschaft ist sich heute einig darüber, dass die Bewegung im damaligen Westdeutschland freieres Denken und eine liberalere Gesellschaft inklusive der Gleichberechtigung der Geschlechter bewirkte.
Andererseits:
Viele der Ansichten und Aktionen der Bewegung belegen alles andere als pluralistische, demokratische Ansichten. Beispiele:
1.) Bei aller berechtigten Kritik am Vietnamkrieg der USA ist es dennoch kein Zeichen von demokratischer Gesinnung, auf Demos totalitäre Machthaber zu unterstützen, in dem man bspw. ständig ,,Ho Chi Minh'' ruft und Gewalttäter wie Che Guevara zur Ikone erhebt.
2.) Man ist auch kein Demokrat, wenn man die bestehende Pressefreiheit im eigenen Land mit Füßen tritt und den verhassten Springerverlag am liebsten enteignet - also zerschlagen hätte. Als echter Demokrat muss man auch mit Kritik und Meinungen umgehen können, die nicht der eigenen Meinung entsprechen.
3.) In Fernsehdokus wurde kürzlich festgestellt, dass der in der CSSR zur gleichen Zeit stattgefundene ,,Prager Frühling'' bei den '68ern kaum thematisiert wurde und lange gar keine Position dazu gefunden wurde. Letztlich stellte sich ein beträchtlicher Teil der Studentenbewegung sogar auf die Seite Moskaus, das die zaghaften Reformen Dubčeks mit militärischen Maßnahmen jäh beendete, was wohl einer der Gründe für die Spaltung der Bewegung war. (siehe dazu: https://www.globkult.de/geschichte/zeit ... gsbewegung)
Für mich nun ganz und gar ein Beleg für eine eher antidemokratische Haltung zahlreicher Akteure.
Und nicht zuletzt
4.) Aus den radikalsten unter den '68ern ging die RAF hervor.

Wie passt das alles zusammen? Wie kann eine solche Bewegung mit wenigstens teilweise antidemokratischen Denkweisen bzw. Elementen den Anstoß für eine liberalere Gesellschaft geben?
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Balduin
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Hallo Barbarossa,

danke für das Thema, das sicherlich eine Diskussion wert ist. In DER SPIEGEL Nr. 14 / 31.03.2018 ist auf S. 46 ff.  ein Interview mit der Journalistin Bettina Röhl abgedruckt, das ich Dir sehr empfehlen kann. Bettina Röhl ist die Tochter von Ulrike Meinhof, einer der Gründerinnen der RAF.

Eine Passage aus dem Interview möchte ich hier als Antwort auf Deine Fragen wiedergeben:
SPIEGEL: Dennoch spricht viel dafür dass 1968 ein ntowendiger Katalysator war, um ein liberaleres Deutschland zu schaffen.
Röhl: Das ist Quatsch. Die Reformen waren alle schon vorher eingeleitet: die Entnazifizierung, die Emanzipation der Frau, die Liberalisierung der Familien. Die 68er-Generation ist vielmehr die erste Nutznießerin der neuen Freiheiten. (...) Die [gemeint sind die 68-er] hatten eine unpolitische, glückliche Jugend in einer Wohlstandsgesellschaft (...).
Die 68er-Bewegung wird überhöht - eben weil viele, die sich dort engagierten, heute Schriftsteller, Journalisten und Politiker sind und in gewissem Maße ihre eigene Vergangenheit (öffentlichkeitswirksam) verklären.
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Barbarossa
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Das ist ja mal eine ganz andere Sichtweise. In diesem Fall hätte eine gewaltige Geschichtsfälschung stattgefunden. Dagegen sollte man vorgehen.
Allerdings gab es viele gesellschaftliche Veränderungen, die erst in den 70ern stattfanden.
Gibt es weitere Meinungen?
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Balduin
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Geschichtsfälschung ist mir dafür ein zu starkes Wort. Das sind eben strittige Fragen, Deutungen und Ansichten in der Geschichtswissenschaft.
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Barbarossa
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Ja gut, vielleicht passt Verklärung doch besser. Besonders interessant ist dabei, dass die Männer der 68er Bewegung mit der Gleichberechtigung der Geschlechter gar nicht so viel im Sinn hatten. Das habe ich in einer Doku jetzt auch noch gehört. Das wäre dann als 5. Punkt dem Startbeitrag hinzuzufügen.
Die Frauen haben sich dann von der Studentenbewegung abgespalten, um sich für ihre Belange selbst einzusetzen.

Überhaupt denke ich auch, dass sich die Jugend aller Generationen viel mehr über die Musik identifiziert hat, die sie gehört haben. Schon der Rock 'n Roll der 50er Jahre war ein Ausdruck von Rebellion gegen die Elterngeneration und so ging das weiter. Insofern mag es sein, dass die Studentenbewegung politisch einiges in Gang gesetzt hat, aber ob sie nun so großen gesellschaftlichen Einfluss hatte, würde ich eher bezweifeln. Denn: Wie viele haben Ende der 60er Jahre schon ein Studium aufgenommen?
Schon an dieser Stelle beginnt wohl eine Überschätzung der eigenen Schicht.
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Ruaidhri
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Moin,

ja, es war eine Bewegung voller Widersprüche und sehr unterschiedlicher Ebenen und Phänomene. So widersprüchlich, dass in Teilen sogar meine Eltern mit ihr sympathisierten, und die waren  nicht links, rebellierten aber auch gegen die immer noch hierarchischen, autoritäten Strukturen und das große Schweigen.
Mit Sicherheit gaben die Demos und das unverhältnismäßig gewaltsame Auftreten der Polizei in vielerlei Hinsicht Anschub, selbst etwas zu tun, Protest zu wagen, Strukturen zu hinterfragen.
Barbarossa hat geschrieben:Insofern mag es sein, dass die Studentenbewegung politisch einiges in Gang gesetzt hat, aber ob sie nun so großen gesellschaftlichen Einfluss hatte, würde ich eher bezweifeln.
Man muss wohl die miefige Zeit miterlebt haben, um, bei aller Kritik an den Auswüchsen zu verstehen, dass ohne die Demos, ohne das vehemente Aufbegehren erst der Mut zur Freiheit wuchs, bei Jungen, aber auch Älteren. Ohne allem, was verkündet wurde zuzustimmen, war letztlich der gesellschaftliche Umschwung doch groß- und am Ende positiv.
Der Umschwung von vor 1968 zu den 70ern war immens, die krassen Unterschiede allein in der Schule und im Studium  zwischen meinen älteren Geschwistern und meinen Jahrgängen war den Protesten zu verdanken.

 
Muttersprache: Deutsch Vaterland: Keins. Heimat: Europa
LG Ruaidhri
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Barbarossa
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1968er Protest unter etwas anderen Vorzeichen: Streiks und Proteste der Ingeneurschüler

Während die Studenten 1968 gegen den ,,Muff von 1000 Jahren'' protestierten, der angeblich ,,unter den Talaren'' herrschte, wollten die Ingeneurschüler in jener Zeit genau dorthin.
Die eigentlich als brav geltenden Ingenieurschüler wollten als Studenten anerkannt werden und es begannen Proteste, die vom Vorlesungsstreik bis hin zum Anzünden eines alten Autos reichten. Die Proteste waren letztlich erfolgreich und führten zur Gründung der Fachhochschulen.
Quelle: http://www.deutschlandfunk.de/1968-inge ... _id=416481
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