Der Sozialisierungsparagraph im Grundgesetz

Die junge Republik: Bonn, Adenauer, RAF, Schmidt, Kohl

Moderator: Barbarossa

Wallenstein

(Dieser Beitrag erschien schon in einem anderen Forum, wurde dort aber nicht weiter diskutiert)

Im vergangenen Jahr habe ich vor Jungsozialisten (Jusos) der SPD in einigen Ortsgruppen verschiedener Städte Vorträge gehalten. Einige davon sind vielleicht auch hier von Interesse:

Liebe Kolleginnen und Kollegen,
Im Grundgesetz finden wir gleich am Anfang einen interessanten Paragraphen mit der Nummer 15. Ich lese ihn einmal vor:

Artikel 15: Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel können zum Zwecke der Vergesellschaftung durch ein Gesetz, das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt, in Gemeineigentum oder in andere Formen der Gemeinwirtschaft überführt werden. Für die Entschädigung gilt Artikel 14 Abs. 3 Satz 3 und 4 entsprechend.

Was hat dies zu bedeuten? Ist das Grundgesetz für verschiedene Gesellschaftssysteme offen, möglichweise sogar für ein sozialistisches, wie dies einige in den sechziger Jahren glaubten? Wir können diesen Artikel aber nur im Zusammenhang mit Artikel 14 verstehen. Dort heißt es:

Artikel 14
1) Das Eigentum und das Erbrecht werden gewährleistet. Inhalt und Schranken werden durch die Gesetze bestimmt.
(2) Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.
(3) Eine Enteignung ist nur zum Wohle der Allgemeinheit zulässig. Sie darf nur durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes erfolgen, das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt. Die Entschädigung ist unter gerechter Abwägung der Interessen der Allgemeinheit und der Beteiligten zu bestimmen. Wegen der Höhe der Entschädigung steht im Streitfalle der Rechtsweg vor den ordentlichen Gerichten offen.


Die Mütter und Väter des Grundgesetzes strebten anscheinend eine Gesellschaftsordnung an, die auf dem Privateigentum basieren sollte. Aber, und das wusste man aus leidlicher Erfahrung: Privateigentum nützt nicht zwangsläufig der Allgemeinheit. Umweltverschmutzung z.B. mag für ein Unternehmen kostensparend sein, erhöht den privaten Gewinn, schadet aber der Allgemeinheit, die nun die Schäden beseitigen soll. Um so etwas zu verhindern, sollte der Staat eingreifen können. Eigentum bringt dem einzelnen Vorteile, soll aber auch der Allgemeinheit dienen.

Ein Beispiel: Damals nach dem Krieg gab es eine gewaltige Wohnungsnot. Damit diese nicht von Spekulanten ausgenutzt wurde, führte man eine Mietzwangsbewirtschaftung ein.

Der Abschnitt 3 ermöglicht sogar eine Enteignung. Davon wurde öfters Gebrauch gemacht und zwar meistens in Fällen, wenn es um Straßenbau ging. Wer nicht verkaufen wollte, konnte und wurde enteignet.

Und um ganz sicher zu gehen, führte man mit Artikel 20 noch das Sozialstaatspostulat ein:

Artikel 20
1.) Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat


Das bedeutet: Die Bundesrepublik hat eine soziale Verpflichtung gegenüber ihren Bürgern und soll ihnen helfen.

Wozu dann aber jetzt noch Artikel 15, der übrigens nie angewendet wurde?

Nach dem Krieg herrschte bei vielen Menschen die Überzeugung vor, das der Kapitalismus eine große Schuld am Faschismus hatte. Die großen Unternehmen hatten mit den Nazis zusammengearbeitet, der Staat verschaffte ihnen Rüstungsaufträge, Rohstoffe und Zwangsarbeiter. In den besetzten Gebieten wurden die dortigen Firmen deutschen Konzernen angegliedert. Gewerkschaften und Arbeiterorganisationen hatten die Nazis liquidiert und durch ihre Parteiorgane ersetzt. Nach dem Krieg sollten daher auch die Wirtschaftsführer vor ein Kriegsgericht gestellt werden, doch dazu kam es nicht. Die meisten wurden nach kurzer Haftzeit freigelassen. Viele Betriebe standen nach 1945 unter der Treuhandverwaltung der Alliierten, waren also gewissermaßen schon verstaatlicht. Sollte man das nicht so lassen und sie lediglich in deutsches Staatseigentum umwandeln, aber nicht den Alteigentümern zurückgeben, die nicht selten schwer belastet waren?

Im Ahlener Programm forderte die CDU 1947 ein neues Wirtschaftssystem und die Verstaatlichung der damals bedeutenden Montanindustrie. Die Partei stand zu diesem Zeitpunkt unter dem Einfluss christlicher Gewerkschafter. Erst 1949 löste sie sich von diesen Positionen.

Für die SPD galt noch immer das Heidelberger Programm von 1925, welches größere Vergesellschaftung in der Wirtschaft forderte. Die Gewerkschaften unterstützten diese Positionen. Viele glaubten damals, dass nur durch eine zentrale Planung in Deutschland der Wiederaufbau möglich sei.

Die Amerikaner allerdings wollten die Marktwirtschaft. Die Briten verhielten sich ambivalent. Die Labour Partei hatte in England damals ebenfalls umfangreiche Verstaatlichungen vorgenommen und die SPD hoffte auf deren Unterstützung.

Der Artikel 15 und überhaupt das Grundgesetz sind demzufolge als Kompromiss zu sehen zwischen den Kräften, die auf eine Marktwirtschaft setzten und den Gruppen, die anderen gesellschaftlichen Vorstellungen anhingen.

Die weitere Entwicklung hat die damalige Kontroverse dann entschieden. Dass das neue Wirtschaftssystem, die soziale Marktwirtschaft, so erfolgreich sein würde, hatte keiner vorher geglaubt. Auch die SPD sah sich deshalb 1959 im Godesberg Programm gezwungen, alle Sozialismusvorstellungen zu beseitigen. (Dies ist eine Kurzfassung des Vortrages).
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Balduin
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Das Eigentum kann nicht frei von staatlichem Einfluss sein: Das gesamte Baurecht beschränkt die Eigentumsfreiheit.

1949 wurden eben wichtige Weichen gestellt - durchaus nachvollziehbar, dass die CDU Flick, Krupp und Co entmachtet sehen wollten. Glücklicherweise hat man sich am amerikanischen Vorbild orientiert

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He has called on the best that was in us. There was no such thing as half-trying. Whether it was running a race or catching a football, competing in school—we were to try. And we were to try harder than anyone else. We might not be the best, and none of us were, but we were to make the effort to be the best. "After you have done the best you can", he used to say, "the hell with it". Robert F. Kennedy - Tribute to his father
Wallenstein

Ralph hat geschrieben:Nicht Genossinnen und Genossen? ;)

Das Eigentum kann nicht frei von staatlichem Einfluss sein: Das gesamte Baurecht beschränkt die Eigentumsfreiheit.

1949 wurden eben wichtige Weichen gestellt - durchaus nachvollziehbar, dass die CDU Flick, Krupp und Co entmachtet sehen wollten. Glücklicherweise hat man sich am amerikanischen Vorbild orientiert

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Ich bin kein Mitglied in der SPD und schon gar nicht ein Genosse.
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Balduin
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Passt schon, war nur als Scherz gemeint

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Renegat
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Wallenstein hat geschrieben:..... Eigentum bringt dem einzelnen Vorteile, soll aber auch der Allgemeinheit dienen.

Ein Beispiel: Damals nach dem Krieg gab es eine gewaltige Wohnungsnot. Damit diese nicht von Spekulanten ausgenutzt wurde, führte man eine Mietzwangsbewirtschaftung ein.
Manche Probleme wiederholen sich, ob die Lösungen sich ähneln, wird man sehen. Heute wurde die Mietpreisbremse beschlossen. http://www.haufe.de/immobilien/wohnungs ... 98528.html
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Barbarossa
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Ist eigentlich gar nicht so schecht, dies Kombination von Recht auf Eigentum, bei gleichzeitiger Verpflichtung zum "Wohle der Allgemeinheit". Es gab ja schon Situationen, wo man sich gerade auf den Art. 14 (2) eine größere Fokussierung gewünscht hätte. Ein besonders eklatantes Beispiel dafür war ja das Nokia-Werk, das nach Rumänien verlegt wurde. Das hätte im Hinblick auf diesen Artikel verhindert werden können/müssen.

Das fällt mir dazu so beim ersten durchlesen des Beitrages ein.
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Katarina Ke
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Das Grundgesetz wurde von Angehörigen des Parlamentarischen Rates ausgearbeitet, die sich im Bereich Wirtschaft nicht eindeutig festlegen wollten.

Unmittelbar nach dem Krieg gab es in der CDU und der SPD viele Menschen, die glaubten, dass ein sich ungehemmt entwickelnder Kapitalismus nicht nur wirtschaftlich, sondern auch politisch schädlich sei. Immerhin war die NSDAP vor der Weltwirtschaftskrise nur eine Splitterpartei gewesen.

In England hatte die Labour Party mit Sozialisierungsforderungen im Sommer 1945 die Wahlen gewonnen, und auch in Frankreich hatten konservative oder bürgerliche Kabinette keine Probleme mit einer dirigistischen Wirtschaftspolitik. In fast allen Ländern Westeuropas zwang die Situation zu einer Zwangsbewirtschaftung.

Schon der Wortlaut von Artikel 15 Grundgesetz (GG) legt ja fest, dass nur ganz bestimmte Zweige des Wirtschaftslebens vergesellschaftet werden können. Ein förmliches Gesetz ist erforderlich, also eine Mehrheitsentscheidung des Parlaments. Ich gehe davon aus, dass auch der Bundesrat zustimmen müsste, wenn sich durch Ausführungsbestimmungen Auswirkungen auf die Bundesländer ergeben.

Die Artikel 14 und 15 stehen in einem Spannungsverhältnis zueinander. Damit die Eigentumsgarantie des Artikels 14 nicht „leer läuft“, ist der Gesetzgeber verpflichtet, eine angemessene Entschädigung zu zahlen; allerdings muss sie nicht so hoch sein wie der Verkehrswert.

In der Verfassungswirklichkeit hat der Artikel 15 GG meines Wissens keine Rolle gespielt. Die Unionsparteien unterstützten nach einigem Zögern ab 1951/52 die gemäßigt-liberale Wirtschaftspolitik von Ludwig Erhard. Die Sozialdemokraten spürten schnell, dass Vergesellschaftungsforderungen die Attraktivität der Partei nicht steigerten und nahmen schon im „Dortmunder Aktionsprogramm“ von 1952 Abstriche vor.

Die wirtschaftliche Entwicklung bis zum Öl-Schock 1973/74 verlief – bis auf kleinere Konjunkturkrisen – positiv. Bis in die SPD hinein glaubte man nun, ein 'sozial gebändigter Kapitalismus' sei die beste Grundlage für soziale Gerechtigkeit.

Ende der sechziger Jahre nahmen die Jungsozialisten das Thema Sozialismus wieder auf. Sie lehnten aber eine Zentralverwaltungswirtschaft wie in der DDR ab und plädierten für ein Vergesellschaftungsmodell, an dem auch Verbraucher beteiligt gewesen wären. Die Wahlergebnisse der Landtagswahlen der frühen siebziger Jahre bewiesen, was Facharbeiter davon hielten: nichts.

Die Entwicklungen in der DDR und im Ostblock zeigten ja, zu welch katastrophalen Ergebnissen staatlicher Dirigismus führte. Allerdings litten auch die kapitalistischen Industriegesellschaften seit 1975 immer wieder an Krisen. Die skandinavischen Wohlfahrtsstaaten konnten ihre Systeme einigermaßen erhalten, aber auch dort geht man ja grundsätzlich von einer kapitalistischen Produktionsweise aus. Der Staat erhebt hohe Steuern und greift wohl aktiver in die industrielle Rahmenplanung ein, als es hier der Fall ist.

Wallenstein: Die SPD hat in Godesberg 1959 nicht alle Sozialismusvorstellungen beseitigt. Sie hat sich zum Privateigentum bekannt, aber deutlich gemacht, dass Sozialdemokraten grundsätzlich auch dem Gemeineigentum eine wichtige Rolle zubilligen.

In Godesberg hat sich die SPD als linke Volkspartei definiert, der man beitreten kann, gleichgültig, ob man Marxist, Humanist, Linksliberaler oder einfach 'linker Sozialpolitiker ohne theoretischen Anspruch' ist – wie die meisten Parteimitglieder. Im Berliner Programm von 1989 wurde man wieder antikapitalistischer. Das Hamburger Programm von 2007 ist für mich ein Allerweltstext.

Ob eine Vergesellschaftung von Nokia vor dem Europäischen Gerichtshof Bestand gehabt hätte, möchte ich bezweifeln. Wenn Subventionssysteme so geschaffen sind, das findige Juristen da schnell Löcher finden können, bleibt nur noch die moralische Empörung.

Auch die westeuropäischen Parteien haben es versäumt, auf internationale Steuersysteme zu setzen, die Steuerflucht verhindern. In Deutschland schließen Gewerkschaften in einigen Branchen seit Jahrzehnten mehrere Tarifverträge ab. In einem Unternehmen des öffentlichen Nahverkehrs im Rheinland haben die Genossen und ihre Freunde von der italienischen Oper (Verdi) zwei Klassen von Busfahrern geschaffen.

Ich setzte keine Hoffnungen auf den Artikel 15 GG, der 1949 entstand, als Nationalstaaten noch die Wirtschaft maßgeblich beeinflussen konnten.

Die deutsche Sozialdemokratie wirkt auf mich heute wie ein Schiff ohne Kompass. Die sozialpolitischen Unterschiede zur Union sind gering. Man kann CDU und CSU ja nicht vorwerfen, sie würden die Sozialbindung des Eigentums nach Artikel 14 Absatz 3 GG nicht beachten.

Der Artikel 15 GG wird wohl auch in Zukunft eher Verfassungshistoriker interessieren.
Geschichte sollte so geschrieben werden, wie man eine Geschichte erzählt - lebendig und an den Fakten orientiert. Meine Homepage: http://www.katharinakellmann-historikerin.de/
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dieter
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Ihr Lieben,
ich finde auch heute den Artikel 14 des Absatz 2 des Grundgesetzes schon sehr wichtig. der besagt: "Eigentum verpflichtet, sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen."
Ich meine, dass dieser Absatz in der heutigen Zeit noch wichtiger ist als 1949. Das zeigen die Skandale die jeden Tag in den Nachrichten kommen immer mehr. :evil: :twisted:
Was Du nicht willst, dass man Dir tu, das füg auch keinem Andern zu.
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Barbarossa
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Katarina Ke hat geschrieben: ...
Ob eine Vergesellschaftung von Nokia vor dem Europäischen Gerichtshof Bestand gehabt hätte, möchte ich bezweifeln. Wenn Subventionssysteme so geschaffen sind, das findige Juristen da schnell Löcher finden können, bleibt nur noch die moralische Empörung.
...
Mir schwebt dabei gar keine Vergesellschaftung vor - das würde ja im Klartext Verstaatlichung bedeuten. Davon halte ich schon mal gar nichts.
Ich denke in so einem Fall, wie bei Nokia, wo ein Werk geschlossen wurde, das Schwarze Zahlen schrieb, hätte es eines Gesetzes bedurft, welches die Schließung des Werkes verbietet und statt dessen den Verkauf dieses Werkes vorschreibt, wenn der Eigentümer daran kein Interesse mehr hat. Eine Schließung von Betrieben sollte nur bei Unwirtschaftlichkeit möglich sein, wenn vorherige Sanierungsanstrengungen keinen Erfolg hatten.
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dieter
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Lieber Barbarossa,
das wäre aber kein Kapitalismus mehr sondern höchstens ein Soziale Marktwirtschaft, für die ich auch bin. :wink:
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