Die deutsche Führung im Jahr 1918

Die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts

Moderator: Barbarossa

Katarina Ke
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Am 21. März 1918 begann an der Westfront das Unternehmen "Michael". Mit einer Großoffensive wollte Deutschland den Krieg zu seinen Gunsten entscheiden. Die Oberste Heeresleitung hatte sich seit November 1917 für den Angriff ausgesprochen, weil man den Krieg beenden wollte, bevor die Amerikaner ihre Soldaten einsetzen konnten.

Das Unternehmen "Michael" scheiterte. Gab es nicht auch Alternativen zu dieser Großoffensive? Hätten nicht auch politische Schritte, beispielsweise eine öffentliche Garantie für die Wiederherstellung Belgiens, die deutsche Position verbessert?

Hätten die Deutschen sich nicht auf eine strategische Verteidigungsstellung zurückziehen und die alliierten Angriffe erwarten können? Die Bevölkerung in Frankreich und England war ebenfalls kriegsmüde. Möglicherweise hätten auch hohe Verluste der Westmächte die Politiker in Paris und London zum Einlenken gezwungen.

Und warum konnte das Militär die Entscheidungsprozesse in Deutschland 1917/18 so stark beeinflussen?

Ich habe den Eindruck, dass das Kaisereich in den letzten beiden Kriegsjahren ein gespaltenes Land war.

Auf der einen Seite gab es seit 1917 eine Mehrheit im Reichstag für einen Frieden ohne Annexionen; auf der anderen Seite hatte die von der Obersten Heeresleitung unterstützte "Vaterlandspartei" mit ihrem annexionistischen Programm, das meines Erachtens Züge von Größenwahn trägt, viele Anhänger.
Geschichte sollte so geschrieben werden, wie man eine Geschichte erzählt - lebendig und an den Fakten orientiert. Meine Homepage: http://www.katharinakellmann-historikerin.de/
Dietrich
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Katarina Ke hat geschrieben:
Auf der einen Seite gab es seit 1917 eine Mehrheit im Reichstag für einen Frieden ohne Annexionen; auf der anderen Seite hatte die von der Obersten Heeresleitung unterstützte "Vaterlandspartei" mit ihrem annexionistischen Programm, das meines Erachtens Züge von Größenwahn trägt, viele Anhänger.
Ende 1916 schätzte die deutsche Regierung die militärische Lage so günstig ein, dass Reichskanzler Bethmann Hollweg den Alliierten ein Friedrnsangebot machte, ohne aber konkrete Bedingungen zu nennen. Obwohl auch der amerikanische Präsident Wilson für einen Frieden eintrat, lehnten England und Frankreich das Angebot ab. Unverändert setzten nun beide Seiten auf Sieg. Als die Einsicht auf deutscher Seite wuchs, dass der Krieg nicht mehr zu gewinnen sei, beschloss eine Reichstagsmehrheit aus SPD, Zentrum und Fortschrittsspartei am 19. Juli 1917 eine Friedernsresolution. In ihr wurde der Verzicht auf Gebietserwerb erklärt und die Bereitschaft zu einem Verständigungsfrieden betont. Die Alliierten sahen darin ein Zeichen deutscher Schwäche und lehnten die Resolution ab. Entscheidend war dafür der Kriegseintritt der USA am 6. April 1917, der zu einem Strom an Waffen und Rohstoffen führte und frische US-Soldaten an die Westfront brachte.

All das zeigt, dass die beiden Kriegsparteien stets in Schwächephasen halbherzige Angebote machten, die dann auch zu keinen ernsthaften Verhandlungen führten. Nach Kriegseintritt der USA waren die Alliierten für jedes Gespräch unempfänglich, da sie sich den bevorstehenden Sieg nicht nehmen lassen wollten, der so viele Menschenleben gekostet hatte. Sie waren der festen Meinung, dass sie das vor ihren Völkern nicht verantworten konnten. Und so kam es dann, wie es kommen musste: Die Deutschen mussten um Waffenstillstand ersuchen und schließlich in den Friedensvertrag von Versailles einwilligen.

Bei der starren Haltung aller Mächte ist stets als Erklärung zu berücksichtigen, dass die Stimmung in Europa auf allen Seiten nationalistisch und chauvinistisch aufgeheizt war, was die Kriegs- und Greuelpropaganda zusätzlich befeuerte. Wer für Friedensgespräche votierte, drang als Politiker nicht durch.

Die deutsche Regierung und auch Kaiser Wilhelm führten in den Kriegsjahren zunehmend ein Schattendasein. Die eigentliche Macht lag beim Generalstab und der Obersten Heeresleitung (OHL). Warum das so war? Der Weltjrieg war für Deutschland existenzbedrohend, sodass die Forderungen und Befehle der OHL oberste Priorität vor allen zivilen Einwänden und Maßnahmen hatte. Auch der Kaiser war weitgehend ausgeschaltet und musste sich dieser quasi "Militärrregierung" beugen.
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dieter
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Ja lieber Dietrich, ohne Hindenburg und Ludendorff lief ab 1916 in Deutschland Garnichts. Es war ein Irrtum des Generalstabs, dass man einen Krieg einfach beenden kann, wenn man keine Lust mehr dazu hatte. :roll:
Was Du nicht willst, dass man Dir tu, das füg auch keinem Andern zu.
Dietrich
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dieter hat geschrieben:Ja lieber Dietrich, ohne Hindenburg und Ludendorff lief ab 1916 in Deutschland Garnichts. Es war ein Irrtum des Generalstabs, dass man einen Krieg einfach beenden kann, wenn man keine Lust mehr dazu hatte. :roll:
Als dann um Friedensverhandlungen ersucht werden musste, war vom Generalstab und der OHL plötzlich nichts mehr zu hören. Zivilisten mussten die Kohlen aus dem Feuer holen und sich dann noch beschimpfen lassen, sie seien "Vaterlanfdsverräter". Diese Verleumdung diente nationalistischen und antidemikratischen Kräften zur Diffamierung der Weimarer Republik. Antisemiten trugen ihren Teil dazu bei, indem sie sogenannte innere und äußere Feinde des Reichs miteinander verbanden und das Zerrbild vom "internationalen Judentum" in die Welt setzten, das nationalistische Kräfte nur allzu gern glaubten. Hitler baute darauf einen Großteil seiner Propaganda auf.

Die OHL setzte schließlich die "Dolchstoßlegende" in die Welt, eine Verschwörungstheorie, nach der nicht das Militär und die kaiserliche Führung für Deutschlands Niederlage verantwortlich seien, sondern Sozialisten und demokratische Politiker. So wälzten die Militärs - an erster Stelle Ludendorff und Hindenburg - ihre Verantwortung bequem ab und schoben sie den "Zivilisten" zu.
Katarina Ke
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Vielen Dank für die Antworten.

Zu den Aufgaben eines Historikers oder Historikerin gehört es ja, sich in die Gedankenwelt der Verantwortlichen zu versetzen und mit einer kritischen Distanz die Quellen auszuwerten. Und da fällt mir auf, dass ein Teil der deutschen Bevölkerung, organisiert in der „Vaterlandspartei“ die überzogenen Forderungen der Obersten Heeresleitung teilte. Ob diese Partei, die eher einer Bewegung ähnelte, wirklich 800 000 Mitglieder hatte, wird von Historikern bezweifelt.

Was mich auch nicht so sehr zum Nachdenken bringt, dass ist der Stammtischkrieger im Heimatgebiet, der im Wirtshaus eine europäische Karte sieht und darauf erkennen kann, dass die Deutschen im Frühjahr 1918 an fast allen Fronten auf gegnerischem Gebiet stehen. Deshalb konnte ja selbst Abgeordnete des Reichstages im Oktober 1918 nicht begreifen, dass Deutschland den Krieg verloren hatte.

Aber dieser vermeintlich hochqualifizierte Generalstab hätte doch 1917/18 erkennen müssen, dass ein Siegfrieden nicht mehr möglich ist. Im kleinen Kreis soll Ludendorff sich vor dem 21. März 1918 auch skeptisch geäußert haben. Woher kommt dieser Größenwahn von Männern (ich räume ein, es hat in der Geschichte auch größenwahnsinnige Frauen gegeben), die ja keine Dummköpfe waren? Ludendorff hatte maßgeblichen Anteil am Sieg bei Tannenberg (natürlich konnten die Deutschen den russischen Funkverkehr abhören, aber dadurch alleine wurde die Schlacht nicht gewonnen), und er hat im Frühjahr 1917 mit seiner Führung dafür gesorgt, dass die Westfront stabilisiert wurde.

Doch wenn er sich auf politisches Gebiet wagte und ein General, der mit Fragen der „großen Strategie“ konfrontiert wird, muss dies zwangsläufig tun, dann schienen bei Ludendorff wohl „alle Sicherungen durchzuknallen“. Dass er als Soldat 1917/18 nicht die Waffen strecken wollte, ist nachvollziehbar. Aber dieses Alles oder Nichts, das man immer der deutschen Führung im Zweiten Weltkrieg unterstellt, kann man bei Teilen der deutschen Eliten schon im Ersten Weltkrieg feststellen.

Natürlich gibt es in der deutschen Führung, die 1917/18 von Militärs dominiert wurde, auch die Vorstellung, man könne mit einem Siegfrieden im Innern eine Demokratisierung verhindern. Glaubte man ernsthaft, dass auch gemäßigte Sozialdemokraten wie Friedrich Ebert oder Gustav Noske weiterhin das Dreiklassenwahlrecht in Preußen akzeptiert hätten, nur weil Deutschland im Falle eines Sieges Belgien und Teile Nordfrankreichs annektiert hätte?
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Barbarossa
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Katarina Ke hat geschrieben:...
Aber dieser vermeintlich hochqualifizierte Generalstab hätte doch 1917/18 erkennen müssen, dass ein Siegfrieden nicht mehr möglich ist. Im kleinen Kreis soll Ludendorff sich vor dem 21. März 1918 auch skeptisch geäußert haben. Woher kommt dieser Größenwahn von Männern (ich räume ein, es hat in der Geschichte auch größenwahnsinnige Frauen gegeben), die ja keine Dummköpfe waren? Ludendorff hatte maßgeblichen Anteil am Sieg bei Tannenberg (natürlich konnten die Deutschen den russischen Funkverkehr abhören, aber dadurch alleine wurde die Schlacht nicht gewonnen), und er hat im Frühjahr 1917 mit seiner Führung dafür gesorgt, dass die Westfront stabilisiert wurde.

Doch wenn er sich auf politisches Gebiet wagte und ein General, der mit Fragen der „großen Strategie“ konfrontiert wird, muss dies zwangsläufig tun, dann schienen bei Ludendorff wohl „alle Sicherungen durchzuknallen“. Dass er als Soldat 1917/18 nicht die Waffen strecken wollte, ist nachvollziehbar. Aber dieses Alles oder Nichts, das man immer der deutschen Führung im Zweiten Weltkrieg unterstellt, kann man bei Teilen der deutschen Eliten schon im Ersten Weltkrieg feststellen.

Natürlich gibt es in der deutschen Führung, die 1917/18 von Militärs dominiert wurde, auch die Vorstellung, man könne mit einem Siegfrieden im Innern eine Demokratisierung verhindern. Glaubte man ernsthaft, dass auch gemäßigte Sozialdemokraten wie Friedrich Ebert oder Gustav Noske weiterhin das Dreiklassenwahlrecht in Preußen akzeptiert hätten, nur weil Deutschland im Falle eines Sieges Belgien und Teile Nordfrankreichs annektiert hätte?
Voraussetzung für demokratische Veränderungen ist immer eine politische Bewegung der Bevölkerung. In dem benachtigte Schichten der Bevölkerung mehr politische Rechte für sich selbst einfordern, setzt sich ein Demokratisierungsprozess in Gang, der i.d.R. zu mehr Demokratie führt. *) Von privilegierten Schichten hat man solche Initiativen kaum zu erwarten, denn: Wer verzichtet schon freiwilig auf seine gewohnten Privilegien?
Solche Umwälzungsprozesse setzen sich meist in Notzeiten in Gang, da die Unterprivilegierten meist auch die Notleidenden in Notzeiten sind. Eine solche Notzeit gab es im Laufe des Krieges und spitzte sich am Ende des Krieges in Deutschland immer weiter zu.
Ein Sieg hätte das schnelle Ende der Not auch für die einfache Bevölkerung bedeutet, da man von den besiegten Nationen hohe Reparationszahlungen u.a.m. hätte verlangen können. Damit wäre auch die Gefahr einer Revolution minmiert worden.
Durch die militärische Niederlage nahm aber das "Unheil seinen Lauf" - teilweise kann man das sogar ohne Anführungszeichen schreiben, denn die bürgerkriegsähnlichen Zustände 1918 u. 19 bedeuteten tatsächlich Unheil für Deutschland. Die Demokratisierung des Landes war hingegen eine positive Entwicklung, allerdings wurde sie spätestens ab 1930 Stück für Stück wieder zurückgenommen.

Ob die Generäle die ganze Tragweite überblickten, weiß ich nun nicht, aber selbst wenn sie die Problematik auch nur ansatzweise erkannten, wird klar, dass ein Siegfrieden im Grunde angestrebt werden musste.



*) Eine Ausnahme stellt hier die kommunistische Bewegung dar, die eine "Diktatur des Proletariats" anstrebte. Durch diese marxistische Bewegung innerhalb der unterprivilegierten Schicht war keine Demokratisierung des Landes zu erwarten, da lediglich eine privilegierte Schicht durch eine andere ersetzt werden sollte und durch die Art und Weise der Machtausübung konnte nur ein totalitäres System entstehen.
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Dietrich
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Katarina Ke hat geschrieben:Vielen Dank für die Antworten.

Zu den Aufgaben eines Historikers oder Historikerin gehört es ja, sich in die Gedankenwelt der Verantwortlichen zu versetzen und mit einer kritischen Distanz die Quellen auszuwerten. Und da fällt mir auf, dass ein Teil der deutschen Bevölkerung, organisiert in der „Vaterlandspartei“ die überzogenen Forderungen der Obersten Heeresleitung teilte. Ob diese Partei, die eher einer Bewegung ähnelte, wirklich 800 000 Mitglieder hatte, wird von Historikern bezweifelt.
Auf beiden Seiten des Rheins - sowohl in Frankreich als auch in Deutschland - gab es solche irrealen Pläne zur Aufteilung des gegnerischen Staates. Wie stark die Anhänger dieser Großmachtphantasien waren, lässt sich heute nicht mehr genau sagen. Auf jeden Fall war es ein kleinerer nationalistischer Teil und die ungezügelte Kriegspropaganda trug zu einer enthemmten Betrachtung des Gegners bei.

Die von dir zitierte rechtsradikale und nationalistische "Deutsche Vaterlandspartei" wurde 1917 gegründet und bereits 1918/19 liquidiert. Sie war nicht im Reichstag vertreten, erlebte zunächst einen kurzen Aufschwung und parallel zum militärischen Niedergang einen rasanten Absturz. Dennoch gehörten ihr viele führende Industrielle, Großgrundbesitzer und Wirtschaftsverbandsfunktionäre an, darunter Max Roetger, Wilhelm von Siemens, Carl Duisberg, Carl Ziese, Ernst von Borsig, Hugo Stinnes, Emil Kirdorf, Jakob Wilhelm Reichert, Alfred Hugenberg, Ernst Schweckendieck, Conrad Freiherr von Wangenheim und Hermann Röchling. Das wirft ein bezeichnendes Licht auf die politische Einstellung der deutschen Elite und zeigt überdeutlich, mit welchen Schwierigkeiten später die Weimarer Republik zu kämpfen hatte. Kein Wunder, dass bereits Ende der 20er Jahre die NSDAP breiteste Zustimmung sowohl im Volk als auch bei den Herren der Industrie und des Kapitals fand.
Katarina Ke hat geschrieben: Aber dieser vermeintlich hochqualifizierte Generalstab hätte doch 1917/18 erkennen müssen, dass ein Siegfrieden nicht mehr möglich ist. Im kleinen Kreis soll Ludendorff sich vor dem 21. März 1918 auch skeptisch geäußert haben. Woher kommt dieser Größenwahn von Männern (ich räume ein, es hat in der Geschichte auch größenwahnsinnige Frauen gegeben), die ja keine Dummköpfe waren? Ludendorff hatte maßgeblichen Anteil am Sieg bei Tannenberg (natürlich konnten die Deutschen den russischen Funkverkehr abhören, aber dadurch alleine wurde die Schlacht nicht gewonnen), und er hat im Frühjahr 1917 mit seiner Führung dafür gesorgt, dass die Westfront stabilisiert wurde.
Es fiel den Generälen der OHL unglaublich schwer, sich selbst und dem deutschen Volk die drohende Niederlage einzugestehen. Besonders nachdem die Militärs jahrelang die miliärische Überlegenheit Deutschlands verkündet hatten. Zudem regte sich Hoffnung, nachdem im Zuge der russischen Oktoberrevolution 1917 Russland einen Separatfrieden abgeschlossen hatte. Dadurch konnten die Truppen von der Ostfront an die Westfront verlegt werden. Die Rechnung wäre vielleicht sogar aufgegangen, wenn die USA nicht 1917 in den Krieg eingetreten wären. Die deutsche Frühjahrsoffensive 1918 scheiterte, bald danach musste Deutschland um einen Waffenstillstand ersuchen.
Katarina Ke hat geschrieben:Natürlich gibt es in der deutschen Führung, die 1917/18 von Militärs dominiert wurde, auch die Vorstellung, man könne mit einem Siegfrieden im Innern eine Demokratisierung verhindern. Glaubte man ernsthaft, dass auch gemäßigte Sozialdemokraten wie Friedrich Ebert oder Gustav Noske weiterhin das Dreiklassenwahlrecht in Preußen akzeptiert hätten, nur weil Deutschland im Falle eines Sieges Belgien und Teile Nordfrankreichs annektiert hätte?
Das ist sicher eine richtige Feststellung. Dabei lässt sich nicht sicher abschätzen, inwieweit die Generäle der OHL einem Selbstbetrug erlagen, also noch bis zur Frühjahrsoffensive 1918 an einen Sieg glaubten, oder ob sie wider besseres Wissen und ohne Achtung der Verluste handelten. Das mag sicher von Fall zu Fall verschieden sein, aber letzten Endes gewann die Prämisse vom Endkampf um jeden Preis die Oberhand.

Zu Gunsten der deutschen Seite ist allerdings zu beachten, was ich schon weiter oben sagte: Als die Einsicht auf deutscher Seite wuchs, dass der Krieg nicht mehr zu gewinnen sei, beschloss eine Reichstagsmehrheit aus SPD, Zentrum und Fortschrittsspartei am 19. Juli 1917 eine Friedernsresolution. In ihr wurde der Verzicht auf Gebietserwerb erklärt und die Bereitschaft zu einem Verständigungsfrieden betont. Die Alliierten sahen darin ein Zeichen deutscher Schwäche und lehnten die Resolution ab. Entscheidend war dafür der Kriegseintritt der USA am 6. April 1917, der zu einem Strom an Waffen und Rohstoffen führte und frische US-Soldaten an die Westfront brachte.
Katarina Ke
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Vielleicht liegt ein Motiv für die Militärs auch in deren Erziehung. Es gab ja kein Reichsheer, sondern bis zur Verfassungsreform im Herbst 1918 eine preußische, bayerische und eine württembergische Armee.

Die preußischen Militärs waren meist von ihrer Zeit in der Kadettenanstalt geprägt. Garnisonen lagen in der Provinz, einen Sozialdemokraten sah man meist – etwas übertrieben – von weitem. Natürlich waren die sozialen Unterschiede in England noch krasser, aber die britische Oberschicht stimmte im 19. und frühen 20. Jahrhundert - wenn auch zähneknirschend - demokratischen Reformen (wie zum Beispiel der Entmachtung des Oberhauses 1910) zu. Wobei es für das britische Unterhaus vor 1914 noch kein allgemeines Männerwahlrecht gab.

Das preußische Offizierkorps rekrutierte sich auch auch bei den meisten Linienregimentern aus Angehörigen des preußischen Landadels. Die waren konservativ, hielten das Dreiklassenwahlrecht für die natürliche Ordnung der Dinge und glaubten im Frühjahr 1918 immer noch, den Krieg mit einem Siegfrieden abschließen zu können. Denn der Krieg war 'auf Pump' finanziert und selbst im Falle eines Sieges wäre Deutschland in wirtschaftliche Schwierigkeiten geraten – wie später die Siegermächte des Ersten Weltkrieges. Da lag natürlich der Gedanke nahe, dass ein Annexionsfriede zuerst einmal die „Gemüter beruhigt“, weil man die eroberten Gebiete hätte ausbeuten können.

Süddeutsche Offiziere hatten mit einer Parlamentarisierung des Reiches weniger Schwierigkeiten. Das lag sicher auch daran, dass die süddeutsche Sozialdemokratie zu den Hochburgen des Revisionismus gehörte.

Die Sozialdemokraten hatten in Bayern erstmals einem Haushalt der Regierung zugestimmt und vertraten die Ansicht, man solle im Rahmen der bestehenden Gesellschaftsordnung für soziale Verbesserungen eintreten.

Die württembergische SPD nahm ebenfalls einen pragmatischen Standpunkt ein. Von daher überrascht es nicht, dass der württembergische General Groener im November 1918 mit dem Sozialdemokraten Ebert ein „Bündnis“ schloss. Hindenburg, formal immer noch Chef des Generalstabes, der im Krieg die Führung aller Truppen des Reiches übernahm, hielt sich da fein raus.

Zurück zum Frühjahr 1918: Ludendorff setzte voll auf Sieg (zumindest nach außen hin), und es gab im Reich keine geschlossene Opposition gegen ihn.

Der Kaiser war nicht mehr als ein Frühstücksdirektor; der Kronprinz kümmerte sich um seine Liebschaften und träumte von einem 'Großdeutschland' im Sinne der Alldeutschen, und die Mehrheit, die im Reichstag der Friedensresolution zugestimmt hatte, war kein homogener Block.

Die Mehrheitssozialdemokraten hatten sich allmählich dem Standpunkt der bayerischen Sozialdemokratie angenähert und wären wohl bereit gewesen, eine parlamentarische Monarchie zu akzeptieren. Das Zentrum, die wahrscheinlich einzigste Volkspartei im Kaiserreich (vom schlesischen Magnaten über das katholische Bürgertum bis hin zur katholischen Arbeiterschaft reichte die Spannbreite) hatte keinen einheitlichen Standpunkt und nur der linke Flügel der linksliberalen Fortschrittlichen Volkspartei trat für den Parlamentarismus ein.

Vielleicht hofften Teile des Zentrums und der Linksliberalen zusammen mit den Nationalliberalen und Konservativen doch auf einen Siegfrieden, weil sie glaubten, dass dadurch die Notwendigkeit innenpolitischer Reformen entfiele.
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dieter
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Dietrich hat geschrieben:
dieter hat geschrieben:Ja lieber Dietrich, ohne Hindenburg und Ludendorff lief ab 1916 in Deutschland Garnichts. Es war ein Irrtum des Generalstabs, dass man einen Krieg einfach beenden kann, wenn man keine Lust mehr dazu hatte. :roll:
Als dann um Friedensverhandlungen ersucht werden musste, war vom Generalstab und der OHL plötzlich nichts mehr zu hören. Zivilisten mussten die Kohlen aus dem Feuer holen und sich dann noch beschimpfen lassen, sie seien "Vaterlanfdsverräter". Diese Verleumdung diente nationalistischen und antidemikratischen Kräften zur Diffamierung der Weimarer Republik. Antisemiten trugen ihren Teil dazu bei, indem sie sogenannte innere und äußere Feinde des Reichs miteinander verbanden und das Zerrbild vom "internationalen Judentum" in die Welt setzten, das nationalistische Kräfte nur allzu gern glaubten. Hitler baute darauf einen Großteil seiner Propaganda auf.

Die OHL setzte schließlich die "Dolchstoßlegende" in die Welt, eine Verschwörungstheorie, nach der nicht das Militär und die kaiserliche Führung für Deutschlands Niederlage verantwortlich seien, sondern Sozialisten und demokratische Politiker. So wälzten die Militärs - an erster Stelle Ludendorff und Hindenburg - ihre Verantwortung bequem ab und schoben sie den "Zivilisten" zu.
Ja lieber Dietrich,
so war es. Es war ein Irrtum der Demokraten nicht genug darauf hinzuweisen, dass die Generalität die Sache versiebt hat und dass die Gegenseite, wenn um Friedensverhandlungen ersucht wird, vor allem Frankreich alles versuchen, um Deutschland zu schädigen. :wink:
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