Beginn des 1. Weltkrieges

Die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts

Moderator: Barbarossa

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Barbarossa
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Mannerheim hat geschrieben:...
Meiner Meinung nach bringt höchstens der Terminus "entscheidende Schuld" was produktives. Wer hat die entscheidenden, unumkehrbaren Schritte gemacht? Österreich mit der Annexion von Bosnien? MIt seiner Slawenpolitik? Alle mit der Rüstung? Serbien, mit der Lieferung von Pistolen an Gavrilo Princip? Deutschlands Nibelungentreue, genannt auch Blankoscheck? Österreich mit dem Ultimatum? Serbien mit der Antwort? Pointcarées Besuch in Russland? Österreich mit der Kriegserklärung? Russlands Mobilisierung? Die Kriegserklärungen der Mittelmächte an Russland und Frankreich? Die Verletzung der (auch durch GB garantierten) Neutralität Belgiens?

Man kommt nicht umhin, dass man die entscheidenden und nicht mehr rückgängig machbaren Schritte der Seite der MIttelmächte zuordnet...
Mag sein.
Aber dazu noch ein Gedanke:

Die Schuldfrage war ja von Beginn an heftigst umstritten. Letztlich mußte Deutschland den Versailler Vertrag unterschreiben, weil man die Abgesandten dazu ultimativ erpresste. Und auch heute scheint das Thema noch eine gewisse Brisanz zu haben.
Vielleicht sollte man bei diesem Thema aber nicht ausschließlich darauf schauen, wer hat was gemacht - sondern als zusätzlichen Aspekt auch die Frage aufwerfen: Wer hat was nicht gemacht?
Und da fällt dann auch auf, daß kein einziges Land der späteren Kriegsparteien auch nur die geringsten Anstalten unternommen hat, den drohenden Krieg noch irgendwie zu verhindern - so ähnlich wird es Eingangs ja auch in den Interview geschildert. Als einziger hat sich meines Wissens der deutsche Kaiser noch an den russischen Zaren gewandt, um den Ausbruch des Krieges zu verhindern, wobei das eher auf die Wankelmütigkeit von Wilhelm II. zurückzuführen und damit nicht gut einzuordnen ist.
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ehemaliger Autor K.

Barbarossa:
Vielleicht sollte man bei diesem Thema aber nicht ausschließlich darauf schauen, wer hat was gemacht - sondern als zusätzlichen Aspekt auch die Frage aufwerfen: Wer hat was nicht gemacht?
Ausführlich beschäftigt sich die Amerikanerin Barbara Tuchmann mit diesem Thema in ihrem Buch „August 1914“, für das sie 1962 den Pulitzer Preis bekam. Sie sieht auch einen Großteil der Schuld bei den deutschen Akteuren, jedoch längst nicht so radikal wie Fischer. Sie beschreibt all die Fehleinschätzungen und Verblendungen, mit denen die Staatsmänner und Generäle aller Länder in den Ersten Weltkrieg marschierten und kommt zu der Feststellung: Wer sich auf den Krieg als politisches Mittel einlässt, kommt darin um.

Ich habe dieses opulente Werk vor vielen Jahren einmal gelesen, kann mich aber nicht mehr genau daran erinnern. Sie beschreibt jedoch sehr genau und präzise die Wunschvorstellungen und falschen Einschätzungen der politischen Wirklichkeit auf allen Seiten.

Dieses Werk war das Lieblingsbuch von J.F. Kennedy. Angeblich hätte er daraus gelernt, wie schnell aus Fehleinschätzungen der Handlungen des Gegners ein Krieg entstehen kann. Sein Verhalten während der Kuba-Krise, so sagte er später, verdanke er der Lektüre dieses Buches. Vielleicht sollte ich es noch einmal wieder lesen.
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dieter
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Wilhelm Zwo hat mit der Überschätzung von seiner Person und der des Zaren geglaubt, einen Krieg verhindern zu können. Realitätsverlust auf beiden Seiten. :wink:
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Mannerheim
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Mir fällt es schwer, jemandem etwas vorzuwerfen, dass er "nichts" gemacht habe, also die Alliierten, die ja auch nicht einfach eine homogene Einheit waren, aber schon auch irgendwie abgewartet haben.

Die Pläne des deutschen Generalstabes wie auch die Österreichische Kriegserklärung an Serbien waren es, die den Zeitdruck schafften nachdem sie aber nach dem Attentat fast vier Wochen gewartet haben. Dann aber wurde Zeitdruck gemacht, mit dem die anderen in der Sommerzeit wohl nicht gerechnet hatten. Dabei wurde aber eine Situation hervorgerufen, die , vor allem auch durch den Angriff auf das neutrale Belgien, die anderen nur dann hätten sich zurückhalten können, wenn sie den Angriffen der Mittelmächte tatenlos zugesehen hätten. Es war die Va Banque Strategie der Mittelmächte die diese Situation herbeiführte und auch England auf den Plan rief.

Aber der dt Generalstab rechnete, wie mir ein Historiker sagte, eigentlich gar nicht damit, dass England würde eingreifen können. Bis dahin wäre man durch Belgien durchmarschiert und Frankreich besiegt. Russland hätte mal gerade mobilisiert. Aber dann kam alles anders. Serbien widerstand sehr viel länger als gedacht. Russland mobilisierte schneller als man dachte. Belgien wehrte sich mehr als man dachte. Frankreich widerstand und England war schneller da als man meinte.

Ursrpünglich glaubte man also auf Deutscher Seite wohl, dass man rasch würde vollendete Tatsachen schaffen können. Und das war halt die fatale Fehleinschätzung. Dass Russland, Frankreich und England dies nicht einfach hinnehmen wollten, kann man eigentlich nicht kritisieren. Es war Bündnistreue, mit der die Gegenseite zumindest rechnen musste.
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dieter
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Lieber Mannerheim,
in der deutschen Diplomatie waren Diletanten am Werk. Der Generalstab war auch nicht besser. Die Armee des Kronprinzen stieß zu schnell vor und stand dann, einer französischen Übermacht gegenüber und mußte an der Marne den Rückzug antreten. :roll:
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Barbarossa
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Gestern gab es eine Diskussionssendung über das Thema.
Der Historiker Sönke Neitzel betonte in dieser Diskussionssendung, dass das Militär in Deutschland nicht mehr Einfluss auf die Politik hatte, als etwa in Russland. Ein anderer Historiker brachte jedoch zum Ausdruck, dass er hier eine andere Meinung vertritt. Anscheinend ist dieser Punkt auch unter Historikern noch heute umstritten.
Im Fall Frankreichs gilt dagegen eher das Gegenteil. Hier war nicht das Militär die Partei, die eher auf einen Krieg spekulierte und zw. 1912-14 Szenarien durchspielte, wie ein solcher möglicherweise einmal beginnen könnte, sondern die Zivilregierung. Anscheinend waren die Verhältnisse auf dem Balkan schon hier als möglicher Auslöser eines großen Krieges in Europa voraussehbar. Frankreich baute dabei stark auf Russland als Bündnispartner, um in einem möglichen Krieg bestehen zu können.
Der australische Historiker Christopher Clark, der über das Thema gerade ein Buch herausgebracht hat (siehe Startbeitrag), möchte nicht mehr von Kriegsschuld irgendeines Staates im eigentlichen Sinne sprechen. Er bezeichnet den 1.Weltkrieg als eine gesamteuropäische Krise bzw. Katastrophe.
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Scipio
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Meiner Meinung nach kann man auch weniger davon sprechen, dass eine bestimmte Fraktion dominiert hat. Ich finde, dass gerade die Vielfalt an Fraktionen dazu führte, dass es keine klare Linie im Deutschen Reich gab.
RedScorpion

Barbarossa hat geschrieben:Gestern gab es eine Diskussionssendung über das Thema.
Der Historiker Sönke Neitzel betonte in dieser Diskussionssendung, dass das Militär in Deutschland nicht mehr Einfluss auf die Politik hatte, als etwa in Russland. Ein anderer Historiker brachte jedoch zum Ausdruck, dass er hier eine andere Meinung vertritt. Anscheinend ist dieser Punkt auch unter Historikern noch heute umstritten.
...
Vielleicht. Die Frage ist aber nicht so sehr, ab wann genau denn das Militär die Macht übernommen hat bzw. inwiefern es letztere schon zuvor in den Händen hatte,
nichtmal, ob denn eine militärische Regierung oder ein militärisches Kommando wirklich das kriegslüsternere oder "menschenverheizendere" ist (im Vergleich zu einer "zivilen" Regierung),
oder gar, warum denn das D.R. eine solch depperte Aussenpolitik gefahren hatte, und zwar eigentlich seit spätestens 1866 (schlimmer noch: Man weiss gar nicht genau, ob's Aussen- oder Innenpolitik ist, denn die ungeklärte Reichsfrage und das mehr als seltsame Verhältnis zu Oesterreich war das Grundübel),

sondern viel eher, und da liegt auch nach Neitzel der Hund begraben, warum denn nix unternommen wurde (und zwar jahrelang nicht), als das Kind schon in den Brunnen gefallen war und man noch Verhandlungsspielraum hatte.

Barbarossa hat geschrieben: ...
Der australische Historiker Christopher Clark, der über das Thema gerade ein Buch herausgebracht hat (siehe Startbeitrag), möchte nicht mehr von Kriegsschuld irgendeines Staates im eigentlichen Sinne sprechen. Er bezeichnet den 1.Weltkrieg als eine gesamteuropäische Krise bzw. Katastrophe.
"Krise" ja, "Katastrophe" auch, aber eben nicht vom Himmel gefallen.

Gerade Clark selbst ist es ja am Anfang seines Buchs über Wilhelm II, der herausstellt, dass das Problem der Reichsregierung nicht so sehr "die Vielfalt" war und der Föderalimus, sondern Unerfahrenheit, Unklarheit und v.a. nicht demokratisch legitimierte Institutionen in Preussen.



LG
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Barbarossa
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RedScorpion hat geschrieben:...
Gerade Clark selbst ist es ja am Anfang seines Buchs über Wilhelm II, der herausstellt, dass das Problem der Reichsregierung nicht so sehr "die Vielfalt" war und der Föderalimus, sondern Unerfahrenheit, Unklarheit und v.a. nicht demokratisch legitimierte Institutionen in Preussen...
Nicht "demokratisch legitimiert" - richtig. Aber das ist ja einer der Widersprüche, die in der Weimarer Republik noch weitertobten. Es stand im Kaiserreich das althergebrachte "Gottesgnadentum" gegen die noch relativ junge demokratische Bewegung.
Nur kamen in der WR dann noch die Kommunisten und die Nationalsozialisten dazu.
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RedScorpion

Barbarossa hat geschrieben: ...
Aber das ist ja einer der Widersprüche, die in der Weimarer Republik noch weitertobten.
...
Wieso?

Barbarossa hat geschrieben: ...
Nur kamen in der WR dann noch die Kommunisten und die Nationalsozialisten dazu.
Aber auch nicht von Beginn an, und schon gar nicht durchgehend stark.

Das Problem Weimars lag nicht in fehlenden demokratischen Strukturen.



LG
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Barbarossa
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RedScorpion hat geschrieben:
Barbarossa hat geschrieben: ...
Aber das ist ja einer der Widersprüche, die in der Weimarer Republik noch weitertobten.
...
Wieso?
Bei Demokraten und Monarchisten haben wir es mit zwei unterschiedlichen Weltanschauungen zu tun, die in dieser Zeit nicht immer miteinander vereinbar waren. Die Demokraten leiten die Legitimation vom Willen des Volkes ab - also das Volk als der Souverän (so steht es ja noch heute im Grundesetz).
Die Monarchisten - und vor allem die Monarchen - leiteten ihre Herrschaft und ihre Macht von je her vom Willen und der Gnade Gottes ab. Dieses Gottesgnadentum begründete ihre Legitimation. Damit wird klar, daß diese beiden Weltanschauungen miteinander kollidieren mußten und sich die Legitimation gegenseitig absprachen.

Denn einerseits aus der Sicht des Monarchen:
Wie kann sich jemand, der sich von einer "höheren Macht" (also Gott) in seine Position eingesetzt sieht, einer in seinen Augen untergeordneten Kraft (das Volk) unterwerfen?

Und andererseits aus der Sicht der Demokraten, für die das Volk der Souverän ist:
Wie kann ein Monarch in einer Demokratie regieren, der seine Macht auf eine "höhere Macht" (Gott) aufbaut, nicht aber durch eine demokratische Legitimation. Moderne Monarchien lösen diesen Widerspruch, in dem sie Ihre Monarchen auf ausschließlich repräsentative Funktionen reduzieren, während eine demokratische Regierung die eigentliche Macht ausübt. Dazu bedarf es aber auch der Einsicht des Monarchen, sich auf diese Rolle zu beschränken.
Findet sich ein solcher Monarch nicht, können die Demokraten nur durch einen Wechsel der Staatsform zu ihrem Recht kommen - die Monarchie wird zugunsten einer Republik abgeschafft.
RedScorpion hat geschrieben:... Das Problem Weimars lag nicht in fehlenden demokratischen Strukturen.
Stimmt schon. Das Problem war die Schwäche der Demokraten bei den Wahlen ab 1930.
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RedScorpion

Gottesgnadentum in Weimar? :shock:



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Barbarossa
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RedScorpion hat geschrieben:Gottesgnadentum in Weimar? :shock:



LG
Es gab noch genug Leute, die darauf pochten. Die DNVP als Partei, Anfangs auch noch die DVP (Gustav Stresemann), ein von Papen und allen voran ein von Hindenburg - um nur die wichtigsten zu nennen. Siehe dazu hier:
Die wichtigsten Parteien in der Weimarer Republik

Wobei ich davon ausgehe, daß die Anhänger der Monarchie /des Kaisers gleichzeitig auch Befürworter des Gottesgnadentums waren - auch in Weimar noch.
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Scipio
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Naja, Monarchie muss nicht zwangsläufig immer auf Gottesgnadentum basieren, bestes Beispiel ist ja Friedrich der Große mit seinem aufgeklärten Absolutismus.
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Barbarossa
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Scipio hat geschrieben:Naja, Monarchie muss nicht zwangsläufig immer auf Gottesgnadentum basieren, bestes Beispiel ist ja Friedrich der Große mit seinem aufgeklärten Absolutismus.
Friedrich der Große mag diese Vorstellung abgelehnt haben, damit hast du wohl recht, aber er war wohl die große Ausnahme. Kaiser Wilhelm II. verstand sich sehr wohl als "Kaiser von Gottes Gnaden", so wie alle übrigen Monarchen auch.
Ist ja eigentlich auch klar: Mit welchem Recht könnten sie sonst ein Staatsamt einfach an einen Nachkommen weitervererben?
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