Das Wilhelminische Zeitalter

Versailles, 1871, Bismarck, Deutsches Reich, Wilhelm I

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Marianne E.
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Das Wilhelminische Zeitalter (1890-1914)

Der Zeitabschnitt von 1890, dem Jahr der Entlassung Bismarcks, bis zum Ende des Ersten Weltkrieges 1918 wird in den Geschichtsbüchern das "Zeitalter des Imperialismus" genannt. Daneben findet sich auch die Bezeichnung "Wilhelminisches  Zeitalter". Welche Formulierung man für zutreffender hält, hängt allein vom Standpunkt des Betrachters ab.

Aus weltgeschichtlicher Sicht erscheint der  Imperialismusbegriff  zweifellos angebrachter. Er deutet auf das diese Epoche charakterisierende Streben der europäischen und der neuen außereuropäischen Großmächte USA und Japan hin, sich durch den Erwerb überseeischer Kolonien eine Weltmachtposition aufzubauen. Aus deutscher Sicht ist auch die mit dem Namen des Kaisers verbundene Bezeichnung gerechtfertigt.

Kaiser Wilhelm II. (Friedrich Wilhelm Viktor Albert von Preußen, aus dem Hause Hohenzollern) war sicher nicht die überragende Persönlichkeit wie der souverän die politische Szene beherrschende Kanzler Bismarck. Aber der Lebensstil, den der Kaiser in seiner romantisch-altmodischen Auffassung vom Amt des Herrschers entwickelte und in seinem Auftreten, seinen Gebaren und seinen Äußerungen, war zugleich der Lebensstil der Gesellschaft in dem kaiserlichen Deutschland um die Jahrhundertwende erkennbar.

Die Gesellschaft, das waren die alten und die neuen Machteliten, die Großagrarier, Bankiers und Großindustriellen, natürlich das Offizierkorps und die höhere Beamtenschaft sowie die Mehrzahl der Hochschulprofessoren. Dazu gehörte auch die überwiegende Mehrheit des durch Wirtschaftswachstum und  industrielle Entwicklung zu Wohlstand gelangten Bürgertums.
Allerdings wurde das Leben in Deutschland beherrscht durch das vom Kaiser bevorzugte Militär. In der Gesellschaft war ein Mann erst dann angesehen, wenn er "gedient" hatte. Diese Haltung, eine durch die Uniform verliehene Autorität, war in diesem Preußen-Deutschland des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert so ausgeprägt wie niemals zuvor.

Der Kaiser selbst, der gern sein eigener Kanzler sein wollte, war nicht die Persönlichkeit, um die Lücke auszufüllen, die mit dem Abgang Bismarcks von der politischen Bühne der Reichsführung entstanden war. Er war oberflächlich und sprunghaft in seinen Entscheidungen. Im Grunde unsicher, ließ er sich oft von Meinungen seiner Berater und Freunde beeinflussen und zu plötzlichen und unausgereiften Entschlüssen hinreißen.
Das "persönliche Regiment" des Kaisers war in Wirklichkeit eine Herrschaftsform, in der verschiedene, oft miteinander rivalisierende Mächtegruppen und Kräfte auf den Kaiser einwirkten und den Kurs der Politik bestimmten; Vertreter einflussreicher Interessenverbände oder auch einzelne Persönlichkeiten wie der Marinestaatssekretär Alfred von Tirpitz oder später im Kriege der Generalstabschef Erich Ludendorff.
Am Anfang sah es so aus, als könnte der Kaiser in der Innenpolitik mit dem propagierten "Neuen Kurs" tatsächlich neue Akzente setzen, indem er das ungelöste Problem der Zeit, die soziale Frage, aufgriff. Als sich aber zeigte, dass die Arbeiterschaft nicht so einfach für die Regierung zu gewinnen und von  der Sozialdemokratischen Partei zu trennen war, ließ er rasch seine Reformpläne fallen. Das böse Wort von den "vaterlandslosen Gesellen" fiel, und es machte seine wahre Einstellung zur Arbeiterfrage offenkundig. Er besaß in Wirklichkeit kein Gespür für die drängenden sozialen Probleme der Arbeiterschaft.
Als "Neuer Kurs" sollte auch die Außenpolitik gelten. Das Reich war entschlossen, neue Wege zu gehen. Der Ausbau der Flotte wurde forciert, vehement von Wirtschaft, Industrie und nationalen Verbänden gefordert "zur Absicherung des überseeischen Besitzes". Und Wilhelm II. formulierte diesen "Neuen Kurs" mit seiner Feststellung:  "Weltpolitik als Aufgabe, Weltmacht als Ziel, Flotte als Instrument." Dabei wird der Kollisionskurs gegenüber Großbritannien in Kauf genommen und jede spätere Annäherung unterbleibt, ebenso wie es an diplomatischem Geschick mangelt.

Die Folge war ein ungebremster Rüstungswettlauf mit einem aufwendigen Propagandafeldzug, der in der Bevölkerung beider Nationen eine emotional aufgeladene Feindstimmung hervorrief. Außerdem ließ das Verhalten der deutschen Delegation auf der Haager Friedenskonferenz erkennen, dass der Kaiser nicht bereit war, für die Sache des Friedens und der Verständigung in seiner Flottenausrüstung Konzessionen zu machen.

Die erste Haager Friedenskonferenz (18. Mai - 29. Juli 1900) kam auf Initiative des russischen Zaren Nikolaus II. zustande, an der 26 Staaten teilnahmen. Denn auch in den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg gab es bereits eine internationale Friedensbewegung, die besonders in den westlichen Ländern eine breite Anhängerschaft besaß. Aber gemessen an den hohen Erwartungen waren die Ergebnisse enttäuschend.
Man einigte sich lediglich auf drei Abkommen:
1. Abkommen zur friedlichen Erledigung internationaler Streitfälle.
2. Abkommen über die Gesetze und Gebräuche des Landkrieges.
3. Abkommen über die Anwendung der Grundsätze der Genfer Konvention vom 22.8.1864 auf den Seekrieg.

Unbequem für die europäischen Großmächte war das Streben der Balkanländer hin zu eigenständigen Nationalstaaten, da diese Bemühungen mit den wirtschaftlichen und bündnispolitischen Interessen kollidierten. Die damit einhergehenden Schwierigkeiten drohten zum "Pulverfass Europa" zu werden.
Und als am 28. Juni 1914 der österreichische Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand mit seiner Frau von einem serbischen Nationalisten in Sarajewo ermordet wird, explodiert das Pulverfass.
Österreich will nun die serbische Frage in seinem Sinne lösen und sucht die Rückendeckung mit Deutschland. Um einen großen Krieg aber doch noch zu vermeiden, ist man zunächst bemüht, mit diplomatischen Bemühungen den Konflikt innerhalb der verschiedenen Bündnisgruppierungen zu lösen. Jedoch fällt mit der russischen Mobilmachung am 31. Juli 1914 in Berlin eine andere Entscheidung und am 1. bzw. 3. August 1914 kam es zur deutschen Kriegserklärung an Russland und Frankreich.

Mit Begeisterung war der Krieg in allen beteiligten Völkern begrüßt worden, erlosch jedoch sehr bald im Grauen der Materialschlachten. Als ein Beispiel dafür soll die Schlacht von Februar bis Dezember 1916 um Verdun herangezogen werden. Unabhängig von den Materialkosten wurden auch die Opfer gezählt; sie betrugen auf deutscher Seite 338.000 und auf französischer 364.000 Tote.
Für Deutsche und Franzosen blieb und bleibt der Name Verdun als Symbol für entsetzliches Geschehen, für das unaussprechliche Grauen und Leid der Menschen auf ewig bestehen. Aber Verdun wurde im Verlauf der Geschichte auch zu einem Symbol der Hoffnung und im Zeichen der heutigen deutsch-französischen Freundschaft zu einem Mahnmal für die Sinnlosigkeit eines jeden Krieges und für die Notwendigkeit der Verständigung unter den Völkern.

Während des Ersten Weltkrieges trat der Kaiser immer mehr in den Hintergrund, besonders seit 1916 die Oberste Heeresleitung von Paul von Hindenburg und Erich Ludendorff übernommen worden war.
Am 9. November 1918 ging der Kaiser nach Holland ins Exil, in Berlin wurde die Republik ausgerufen und die Sozialdemokratie übernahm die Regierungsverantwortung.
In Compiègne unterschrieb der deutsche Delegationsführer, der Zentrumspolitiker Matthias Erzberger, am 11. November 1918 den Waffenstillstandsvertrag. Dieser Vertrag kam einer politischen und militärischen Kapitulation gleich und gab im Laufe der nächsten Jahrzehnte immer wieder zu Konflikten Anlass. Außerdem wurde es zu einem Problem für die junge Republik, dass ausgerechnet ein Politiker der Parteienkoalition, die den neuen Staat zu tragen bereit waren, seinen Namen unter diesen Waffenstillstandsvertrag gesetzt hatte.


Quellen:
Deutscher Bundestag (Hrsg.) (1988): Fragen an die deutsche Geschichte. Ideen, Kräfte, Entscheidungen. Von 1800 bis zur Gegenwart, Bonn.
Fuchs, Konrad / Raab, Heribert (1996): Wörterbuch zur Geschichte. 10. Aufl., München.
Müller, Helmut M. (2007): Schlaglichter der deutschen Geschichte.2. Aufl., Bonn.
Nipperdey, Thomas (1998): Deutsche Geschichte 1800-1866. Bürgerwelt und starker Staat, München.   
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