Bayern, Deutschland und Mitteleuropa nach 1866

Versailles, 1871, Bismarck, Deutsches Reich, Wilhelm I

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Orianne
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Das Kriegsende 1866 brachte doch einige Veränderungen, die auch das einfache Volk in Bayern teilweise positiv zu spüren bekam. Ein Teil dieser Gesetze wurden später auch in der Schweiz übernommen.

Die vergleichsweise milde Behandlung Bayerns und der übrigen süddeutschen Staaten war das Werk Bismarcks. Während der Norden Deutschlands ganz unter preußische Vorherrschaft geriet, sollten Bayern, Baden, Württemberg und das südliche Hessen zu Preußens Alliierten werden. Hierzu schuf Bismarck Schutz- und Trutzbündnisse mit jedem dieser Staaten. Diese Abkommen waren Bedingung für den Friedensschluss gewesen und schränkten die Souveränität der süddeutschen Staaten erheblich ein. Denn im Verteidigungsfall, so sahen Geheimklauseln in allen Verträgen vor, überließen die süddeutschen Staaten Preußen den Oberbefehl. Als Klammer gab es weiterhin den Zollverein, in dem ebenfalls Preußen das Übergewicht besaß.

Das Königreich Preußen besaß seit 1866 den Norddeutschen Bund als engeren sowie die süddeutschen Staaten als weiteren Kreis von Alliierten – ein abgestuftes System von Macht- und Einflusssphären. Diese Konstruktion ging auf Bismarck zurück, und nur auf ihn. Sie reagierte nicht zuletzt auf die viel weiter ausgreifenden Annexionswünsche König Wilhelms von Preußen und des Kronprinzen Friedrich (1831–1888). Die Hohenzollern hätten ein noch stärker vergrößertes Königreich Preußen lieber gesehen, als einen kleindeutschen Staatenbund unter ihrer Führung.

Der preußisch-österreichische Dualismus, die jahrzehntelange Konkurrenz der beiden Großmächte um die Vorherrschaft in Deutschland und Mitteleuropa, wurde mit dem „deutschen Bruderkrieg“ und der Auflösung des Deutschen Bundes 1866 zugunsten Preußens entschieden. Die Habsburgermonarchie nahm ein Jahr später den Ausgleich mit dem ungarischen Reichsteil vor und bestand seither als „österreichisch-ungarische Monarchie“ (kaiserliche und königliche Monarchie Österreich-Ungarn). Ihr gelang es nicht mehr, auf Süddeutschland und die Deutsche Frage wirksamen Einfluss auszuüben. Eine Zusammenfassung der süddeutschen Staaten zu einem eigenen Bund lehnten die Betroffenen ihrerseits ab. Immer mehr schien nach 1866 darauf hinzudeuten, dass diese Staaten dem Norddeutschen Bund beitreten und einen kleindeutschen Nationalstaat gründen würden.

Das Ministerium Chlodwig zu Hohenlohe-Schillingsfürst (1866–1870)

Zu den Kriegsverlierern gehörte auch Bayerns Außenminister von der Pfordten. Er erklärte im Dezember 1866 seinen Rücktritt. Ludwig II. ernannte, unter anderem auf Anraten Richard Wagners (1813–1883), Fürst Chlodwig zu Hohenlohe-Schillingsfürst (1819–1901) zum neuen Aussenminister und Vorsitzenden des Ministerrats.

Hohenlohe, Angehöriger eines mediatisierten Reichsfürstengeschlechts aus Franken, stand der liberalen „Deutschen Fortschrittspartei in Bayern“ nahe. Sie war 1863 von Karl Brater (1819–1869) gegründet worden. Brater, Redakteur der „Augsburger Abendzeitung“ und von 1848 bis 1851 Bürgermeister von Nördlingen, verschaffte seiner Partei großen Einfluss auf die öffentliche Meinung. Die enge Abstimmung des Ministeriums Hohenlohe mit der Fortschrittspartei, die die Mehrheit in der Abgeordnetenkammer des Landtags stellte, führte zwischen 1867 und 1869 zu bedeutenden Reformen im Innern.

Reformen in Bayern: Die neue Gewerbeordnung (1868)

Die bayerische Gewerbeordnung von 1868 hob das Zunftwesen endgültig auf. Künftig galt in Bayern die allgemeine Gewerbefreiheit, ein Schritt, den alle übrigen deutschen Staaten schon zuvor vollzogen hatten. Konzessionen für ein Gewerbe mussten nur noch in Ausnahmefällen von staatlichen Stellen eingeholt werden. Ein Jahr später schloss sich Bayern der Gewerbeordnung des Norddeutschen Bundes an, die aber erst 1873 im Königreich wirksam wurde.

Das neue Heimat-, Ehe- und Aufenthaltsrecht (1868)

Ebenfalls 1868 wurde ein neues Heimat-, Ehe- und Aufenthaltsgesetz verabschiedet. Alle Staatsangehörigen genossen seither volle Freizügigkeit. Das Heimatrecht zu erlangen war nun viel einfacher. Mit ihm verband sich der Anspruch auf etwaige Armenversorgung durch die Gemeinde, die Heiratserlaubnis und die Möglichkeit, ein Gewerbe anzumelden.

Die meisten Beschränkungen zur Eheschließung entfielen. In der Folge gab es immer weniger uneheliche Geburten und immer mehr Kinder, denen Schutz-, Versorgungs- und Erbrechte garantiert wurden. Das Gesetz blieb auch nach der Reichsgründung von 1871 bestehen, als in Bayern die Verfassung für das Deutsche Reich in Geltung kam.

Die Reform des Militärwesens (1868/69)

Als Folge der Niederlage von 1866 wurde das bayerische Militärwesen reformiert. Die Friedensabkommen von Berlin mit den süddeutschen Staaten hatten Schutz- und Trutzbündnisse mit Preußen zur Bedingung gemacht, daher musste auch die bayerische Armee an die preußische Heeresorganisation angeglichen werden.

Das Gesetz über die Wehrverfassung von 1868 verschaffte dem Verfassungsgrundsatz der allgemeinen Wehrpflicht in Bayern stärkere Geltung. Während die Möglichkeiten der Befreiung vom Wehrdienst eingeschränkt wurden, reduzierte das Gesetz die aktive Dienstzeit von bis zu sechs (!) auf drei Jahre. Auch wurde das preußische Modell des „Einjährig-Freiwilligen“ übernommen, wonach ein Schulabgänger ab der Mittleren Reife nur ein Jahr Dienst leisten musste, wenn er für Kleidung und Verköstigung selbst aufkam. Ein Gesetz des Jahres 1869 regelte erstmals auch das Strafverfahren und den Strafvollzug von Militärgerichten.

Die neue Gemeindeordnung in Bayern (1869)

1869 trat eine neue Ordnung für Bayerns Gemeinden in Kraft. Den Kommunen wurde das Recht zur Selbstverwaltung gewährt. Eingeschränkt blieb die Selbstverwaltung nur durch die staatliche Rechtsaufsicht sowie die Staatsaufsicht über polizeiliche Aufgaben, die den Gemeinden übertragen waren. Auch das kommunale Wahlrecht wurde verbessert.

Die beiden Gesetze – je eines für das rechts- und linksrheinische Bayern – brachten eine lange Entwicklung zum Abschluss. Die Verwaltungsreform Montgelas’ von 1802 hatte das Selbstverwaltungsrecht der Gemeinden zunächst völlig beseitigt. Die „staatliche Kuratel“ war bald darauf schrittweise zurückgenommen worden, zumal mit dem Gemeindeedikt von 1818. Doch erst jetzt wurden die Gemeinden als Körperschaften des öffentlichen Rechts anerkannt. Zudem galt für die Kommunen im rechtsrheinischen Bayern ebenso wie in der Rheinpfalz endlich die gleiche Rechtslage.

Die neue Zivilprozessordnung und die versuchte Wahlrechtsreform (1869)

1869 wurde eine neue Zivilprozessordnung für das Königreich Bayern wirksam. Sie sah die Öffentlichkeit und Mündlichkeit des Gerichtsverfahrens vor – ein rechtsstaatlicher Standard, der in der Rheinpfalz schon seit Napoleon geherrscht hatte; nun galt er für ganz Bayern. Eine Reform des Wahlrechts, die eine Direktwahl der Abgeordneten mit sich gebracht hätte, scheiterte dagegen am Nein der Liberalen, die um ihre Stimmenanteile fürchteten.

Das Gesetz über die öffentliche Armen- und Krankenpflege (1869)

Das weitreichendste Gesetz, das der Landtag von 1869 verabschiedete, betraf die öffentliche Armen- und Krankenpflege. Es wies den Gemeinden, Distrikten und Kreisen Aufgaben zur Versorgung der Armen und Kranken, zur Bestattung verstorbener mittelloser Personen und zur Erziehung und Ausbildung von armen Kindern zu.

Für die Armenpflege auf Gemeindeebene sollten Armenkassen eingerichtet werden. Sie speisten sich aus den bisherigen „Lokalarmenfonds“, aus Stiftungen, gesetzlichen Einnahmen, Abgaben aus Anlass öffentlicher Veranstaltungen, öffentlichen Sammlungen, Schenkungen, Vermächtnissen und Benefizaktionen sowie nötigenfalls aus Zuschüssen aus dem kommunalen Etat. Ein Armenpflegschaftsrat der Gemeinde hatte über die Verwendung der Mittel zu wachen. Für die Krankenpflege konnten die Gemeinden Krankenkassen einrichten. Es stand den Kommunen frei, die Beiträge selbst zu bemessen, sofern sie nicht eine bestimmte Höhe überschritten. Unternehmer von Industrie- und Gewerbebetrieben mit großer Belegschaft konnten zur Zahlung der Beiträge ihrer Beschäftigten verpflichtet werden.

In den Distrikten (die etwa den heutigen Landkreisen entsprechen) sollten Armenhäuser, Armensiedlungen, Krankenhäuser und Erziehungsanstalten für arme und verwahrloste Kinder entstehen. Ein „Distriktsarmenfonds“, der nötigenfalls staatliche Zuschüsse erhielt, sollte für diese Leistungen aufkommen.

Dieses neue System kommunaler Armen- und Krankenfürsorge mutet wie ein Vorgriff auf die Bismarck’sche Sozialgesetzgebung an, die im späteren Deutschen Reich in den 1880er-Jahren eingeführt wurde. Das Gesetz in Bayern nahm Gemeinden, Bezirke und Kreise, aber auch Arbeitgeber als Sozialträger in die Pflicht. Die Kirchen als traditionelle Hilfs- und Erziehungsorganisationen spielten in diesem Sozialsystem keine eigenständige Rolle mehr. Die Gemeinden konnten immerhin Aufgaben an Dritte, damit auch an kirchliche Einrichtungen, delegieren. Auch waren die Pfarrvorstände aller Religionsgemeinschaften an den kommunalen Armenpflegschaftsräten zu beteiligen.

Quellen: Eigene Aufzeichnungen, NZZ Zürich
Grant stood by me when I was crazy, and I stood by him when he was drunk, and now we stand by each other.

General William Tecumseh Sherman
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