Tupamaros in Uruguay, von der Guerilla zur Regierungspartei

Die Geschichte der Indianer: Apachen, Comanchen, Black Feet, Eroberung durch europäische Siedler

Moderator: Barbarossa

Wallenstein

Uruguay ist ein kleines Land in Südamerika am Rio de la Plata von der Größe Englands, hat aber nur 3, 5 Millionen Einwohner, fast alles Nachkommen europäischer Einwanderer, zumeist aus Italien oder Spanien. 1975 hatte ich als junger Geologe dort beruflich zu tun. Das Land sieht ungefähr so aus wie Schleswig-Holstein, überall riesige Weideflächen, auf denen große Herden von Rindern und Schafen weiden. Die Ländereien gehören überwiegend Großgrundbesitzern. Fast alle Bewohner leben in den Städten, 92%, davon über 1,5 alleine in der Hauptstadt Montevideo. Diese fast urbane Struktur unterscheidet das Land von anderen Staaten in Südamerika.

Erste Impressionen


1973 hatten die Militärs die Macht übernommen und seitdem herrschte dort ein eisiges Klima. Auf der Fahrt vom Flughafen in die Stadt las ich auf einer Hauswand, „Nieder mit der Diktatur!“. Jemand hatte das durchgestrichen und geschrieben: „Die Tupamaros sind Hurensöhne!“

1973 hatte es einen Showdown in Montevideo gegeben zwischen den etwa 5.000 Tupamaros, zumeist junge Angehörige aus der städtischen Mittelschicht und den Militärs, welches sich überwiegend aus der Landbevölkerung zusammensetzte, kräftige Bauernjungen, die für ihre Brutalität bekannt waren und denen man lieber aus dem Weg ging. Die Soldaten räumten in wenigen Wochen mit der Guerilla auf und seitdem herrschte Ruhe. Schluss mit den Schießereien, den Banküberfällen und den Entführungen von ausländischen Diplomaten und Geschäftsleuten gegen Lösegeld. Die waren inzwischen wieder zurückgekehrt und fühlten sich hier sicherer als im benachbarten Buenos Aires, welches man schnell mit der Fähre erreichen kann.

In den nächsten Wochen unterhielt ich mich häufiger mit einheimischen Kollegen über die Tupamaros. Was waren das für Leute gewesen, die ihre Organisation nach dem peruanischen Rebellenführer Túpac Amaru II. (1738–1781) genannt hatten? Doch mit den verzweifelten Indios in den Anden hatten diese Nachkommen von Europäern allenfalls den Namen gemeinsam.

„Die Tupamaros“, so erfuhr ich, „waren die Kinder von Beamten, was in Uruguay nicht viel bedeutet, denn in diesem Land ist jeder vierte ein Beamter. Das waren Intellektuelle, oft noch Studenten. Ziemlich auffällig, James Dean Typen, die mit ihren Autos durch die Gegend kutschierten. Eingebildet und arrogant, ständig Zigaretten rauchend, sehr auffällig und oft stadtbekannt. Deshalb hat man sie ja auch sofort zerschlagen können.“
Eine interessante Einschätzung, die ich noch häufiger hörte.

Eine Stadt, in der Zeit erstarrt.

Uruguay gehörte lange Zeit zu den reichsten Ländern der Welt und erwirtschafte hohe Überschüsse durch Wolle und Fleisch. Doch der Boom wurde durch die Weltwirtschaftskrise 1929 jäh unterbrochen, dann kam es nach dem Zweiten Weltkrieg noch einmal zu einem großen Aufschwung, doch Ende der fünfziger Jahre ging es nach dem Preisverfall für die Rohstoffe bergab. Seitdem verharrte das Land im Stillstand, obwohl man dies nicht sofort bemerkte. Montevideo ist eine wunderschöne Stadt, voll mit Palästen und Statuen, doch überall bröckelte der Putz. Es wird schon lange nichts mehr richtig renoviert oder neu gebaut. Die Stadt liegt an einem wunderschönen langen Sandstrand, genau wie Rio, und eine Villa liegt neben der anderen, doch überall ist der Verfall sichtbar.

Armutsviertel gab es hier auch, die Cantegrilas, mit etwa 100.000 Bewohnern. Doch die machten äußerlich nicht so einen schlechten Eindruck wie etwa die riesigen Barriadas von Lima oder Caracas, diesen gigantischen Müllhalden und Kloaken. Der Unterschied war augenfällig. Das Land war viel reicher gewesen und selbst die Armen lebten auf einem höheren Niveau als in den Nachbarländern.

In der Stadt war es ruhig, seit dem Putsch hatten mehr als eine halbe Million Menschen das Land verlassen, eine Katastrophe für einen Staat mit so wenigen Bewohnern.

Und auf den Straßen fuhren nur einige Oldtimer, Jaguar, Hupmobile, Dodge Brothers, Hudson, Whillys-Overland Whippet. Ein richtiges Museum. Warum war dieses Land, welches man früher die Schweiz Südamerikas genannt, hatte, so heruntergekommen?

Vom Wohlfahrtsstaat zum Armenhaus

Alles fing an, so liest man, mit dem Politiker Batlle, der in den vierziger und fünfziger Jahren wichtige Positionen innehatte, zeitweilig auch Präsident war.

Pensionen, alle möglichen Sozialleistungen für die Arbeiterschaft, Frauenrechte, Monat für Monat überschüttete er das Land mit immer neuen Wohltaten. Uruguay hatte den höchsten Bildungsstand, die liberalsten Gesetze, ein Musterland mit einem sehr hohen Lebensstand. Doch man vergaß den Aufbau einer produktiven Wirtschaft und konsumierte nur. Die gesamte Infrastruktur war zwischen 1850 und 1930 auf Basis englischer Investitionen entstanden. Danach wurde nichts mehr gebaut. 1945 kam noch ein Kraftwerk hinzu, das war es dann, keine neuen Brücken, keinen neuen Straßen, das Land lebte wie ein Pensionär.

Und es entstand eine gigantische Bürokratie. Von den 1 Million Arbeitskräften beschäftigte der Staat alleine 250.000 Personen. Ein riesiger, unproduktiver Verwaltungsapparat mit grotesken Zügen. Auf 6 Beamte kam jeweils ein Bote, es gab in einigen Gebäuden mehr Angestellte als Stühle. Doch die meisten arbeiteten ohnehin nur wenige Stunden. Dann gingen sie wieder nach Hause oder hatten Zweitjobs. Die Arbeit ging quälend langsam voran, doch wer zur Behörde ging, hatte meist viel Zeit. Sie waren in der Regel selber Beamte.

Eine Art von Idealzustand: staatliche Behörden, die wie Klubs wirkten, in denen sich Publikum und Personal die Zeit vertrieben, eine ganze Nation im halben Ruhestand, Arbeit und Müßiggang im trauten Verein. Die meisten Behörden arbeiteten nur von sieben bis eins. Dann ging man zum riesigen Strand und amüsierte sich, oder man trat den Zweitjob an. Diese Wohlfahrts- und Freizeitgesellschaft basierte aber auf dem Export von Wolle und Rindfleisch, und als Ende der fünfziger Jahre die Preise fielen, war diese schöne Zeit jäh zu Ende.

Ende mit Schrecken

In den sechziger Jahren wurde deutlich: Dieser Staat war so nicht mehr lebensfähig. Der riesige Beamtenapparat und die Sozialleistungen konnten nicht mehr länger finanziert werden. Das Land brauchte eine Rosskur, eine völlig Umkrempelung der veralteten Strukturen. Doch niemand wollte oder konnte diese Veränderungen durchführen. Die „Lösung“ war: Das fehlende Geld wurde vom Staat gedruckt. Eine verheerende Inflation zerrüttete die Wirtschaft und senkte den Lebensstandard der Bewohner.

Eine Radikalisierung des gesellschaftlichen Klimas war die Folge. Dies wurde vor allem an den Universitäten spürbar. Die Kinder der Beamten sahen für sich keine Zukunft mehr. Überall wurden heftige politische Diskussionen geführt. Imperialismus Theorien, Marxismus-Leninismus, Maoismus, die gesamte Palette der linksradikalen Theorien tauchte auf und wurde bis in die höchsten Kreise salonfähig. Doch wirkliche Alternativen wurden nicht erkennbar. Auch die Tupamaros, die sich jetzt im Dunstkreis der Universitäten entwickelten, hatten kein wirkliches politisches Programm. Ihre Slogans drückten das klassische Versorgungsdenken des Wohlfahrts Staates aus: Frieden, Löhne, Freiheit. Im Grunde wollten sie nur den alten Wohlfahrts- und Versorgungsstaat wieder herstellen. Aber wie sollte das gehen? Das wussten sie auch nicht. Die Tupamaros waren vor allem die großen Zerstörer. Das alte System sollte vernichtet werden, dann würde man weiter sehen.

Das Konzept Stadtguerilla

Uruguay ist eine urbane Gesellschaft. Eine Landguerilla war nicht praktikabel. Die Tupamaros übertrugen die Fokustheorie, die eigentlich für den Kampf auf dem Lande vorgesehen war, auf die Stadt. Der Brasilianer Carlos Marighella hatte in den sechziger Jahren dieses Konzept entwickelt. Eine Gruppe von Revolutionären sollte in der Stadt Zellen bilden, durch Anschläge und Entführungen das System destabilisieren und zerschlagen. Die Bevölkerung würde sich den Revolutionären dann anschließen.

Also überzogen die Tupamaros das Land mit einer Welle von Terroranschlägen und verwickelten sich immer mehr in einen Kampf mit den Militärs. Eine Revolution entstand daraus aber nicht. Stattdessen putschten die Generäle, zerschlugen die Guerilla und errichteten ein beispielloses Schreckensregime.

Die neue Ordnung

Unter Anleitung amerikanischer Ökonomen aus Chicago, Anhängern des Monetarismus, führten die Militärs einen brutalen neoliberalistischen Wirtschaftskurs durch. Umfangreiche Privatisierungen, Abbau des Wohlfahrtstaates, Errichtung eines brutalen Manchesterkapitalismus. Erst nach vielen Jahren zeigten sich bescheidene Erfolge, inzwischen hat sich die Wirtschaft etwas erholt.

Und die Tupamaros sind wieder da! 1985 wurde Uruguay wieder eine Demokratie und sie gründeten eine eigene Partei. Und seit 2004 regieren sie sogar das Land! Wer hätte das gedacht. Der Präsident, José Mujica (von 2010 bis 2015) saß unter den Militärs 14 Jahre im Gefängnis. Die Guerillakämpfer von einst versuchen Marktwirtschaft und Sozialstaat wieder zu verbinden. Eine interessante Karriere des Präsidenten. Sie erinnert mich an seine Kollegin in Brasilien Dilma Rousseff, die in den siebziger Jahren auch als Stadtguerilla aktiv war.
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Danke Wallenstein. Ein interessanter Beitrag. Ich schlage ihn zusammen mit weiteren für einen Artikel vor.

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Wallenstein

Barbarossa hat geschrieben:Danke Wallenstein. Ein interessanter Beitrag. Ich schlage ihn zusammen mit weiteren für einen Artikel vor.

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Ja, vielen Dank. Wenn ihr das macht, müßte ich ihn noch etwas überarbeiten. Dieser ist in Kladde geschrieben worden.
Wallenstein

Es gibt einen ausgezeichneten Spielfilm über die Tupamaros von Gavras „Der unsichtbare Aufstand“.
Wie alles von Gavras sehr sehenswert.

Seit 2004 regieren die Tupamaros in Uruguay. Ihr letzter Präsident Mujica, der im Februar mit 79 Jahren aus Altersgründen abtrat, galt als der ärmste Präsident der Welt. Er verzichtete auf 90% seines Gehaltes und spendete dieses für wohltätige Zwecke. Er wohnte auch nicht im Präsidentenpalast, sondern in einer Gartenlaube und fuhr einen uralten Käfer.

2013 legalisierte er den Haschischkonsum. Seitdem gibt es überall Geschäfte, wo man diese Drogen kaufen kann. Und in Montevideo grünt und blüht jetzt überall die Hanfpflanze, auf Balkons, in den Wohnstuben und in den Kleingärten.
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