Finsteres Abendland - leuchtender Orient?

Die Kirche hatte eine machtvolle Stellung im Leben der Menschen des Mittelalters und bestimmte Politik und Gesellschaft auf einzigartige Weise.

Moderator: Barbarossa

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Agrippa
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Dem stimme ich zu.

Die germanischen Königreiche in Italien, Iberien und Nordafrika hatten sicher nicht die staatliche Struktur und den Zivilisationsgrad, der wenig später im Islam erreicht wurde.
Ebenso wenig waren Franken, Sachsen oder Thüringer Völker der Dichter und Denker.

Erst mit Karl dem Großen erlebte das europäische Mittelalter bekanntermaßen einen kulturellen und politischen Neuanfang (Karolingische Renaissance), der sich kontinuierlich bis ins Hoch- bzw. Spätmittelalter fortsetzte.

Spätestens Ende des 12. Jhs. standen sich mit dem Abendland und dem Morgenland zwei Hochkulturen gegenüber, so dass man nicht mehr von einem tatsächlichen Zivilisationsgefälle sprechen kann.

Die Zivilisation des Abendlandes kann sogar als nachhaltiger bezeichnet werden, da aus ihr der Humanismus der frühen Neuzeit erwuchs, der das Bild des Menschen und seiner Umwelt vollkommen neu definierte.
Dem Rinascimento wurde bereits durch Betrachtungen des Spätmittelalters, wie zum Beispiel von Francesco Petrarca, der Weg geebnet.
Diesen Schritt zur Weiterentwicklung hat das islamische Mittelalter nicht geschafft. Das soll aber keineswegs die wissenschaftlichen Leistungen der islamischen Gelehrten mindern.
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Agrippa
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Noch einmal zurück zum Kathedralbau, der bei dieser Betrachtung etwas in den Hintergrund geraten ist.

Es gibt sogar die These, dass der Kathedralbau erst durch die Eindrücke entstehen konnte, die die Kreuzfahrer aus dem Nahen Osten mitbrachten. In der Tat wird die Kathedrale als Sinnbild des „Himmlischen Jerusalem“ bezeichnet.

Allerdings findet sich im gesamten Orient kein einziges bauliches Vorbild, das den Kathedralbau inspiriert haben könnte.
Es war wahrscheinlich schlichtweg die religiöse Euphorie, die das Abendland zu dieser architektonischen Großleistung motivierte.

Das Besondere am Typus der Kathedrale war nicht nur die enorme Höhe, sondern insbesondere die Auflösung der Wand, so dass großflächige farbige Fenster eingebaut werden konnten, durch die das Licht das Innere erhellte.

Die Idee, die statische Last von der Fassade zu nehmen, um sie zu verglasen, ist erstaunlich modern und findet sich erst in den Bauten der Bauhaus-Architekten Walter Gropius und Mies van der Rohe Anfang des 20. Jhs. wieder.

Um die Last von der Außenwand zu nehmen, mussten Strebewerk, Strebepfeiler, Zugbänder und Ringanker erfunden werden.
Da die notwendigen statischen Berechnungen noch unbekannt waren, hieß das Prinzip: Versuch und Irrtum, also reine empirische Forschung.

Als man in der muslimischen Welt "den Mond noch mit der Stange wegschob", sich mit Ornamenten beschäftigte und Deckenhöhen von maximal 20 m erreichte, wurden in Europa schon Kathedralen mit einer Deckenhöhe von 50 m und mehr errichtet.

Trotz dieser ingenieurtechnischen Höchstleistung blieben die Baumeister im Hintergrund, denn das Werk zählte und nicht der Erbauer. Bekannt sind heute nur noch wenige Meister, wie Villard de Honnecourt, Wilhelm von Sens und Meister Gehard.

Besonders bemerkenswert ist dabei, dass diese Meister nicht nur das eigentliche Bauwerk, sondern auch die zum Bau notwenigen Maschinen, d.h. Kräne, Hebewerke und Gerüstkonstruktionen erfinden mussten . Diese waren reine Prototypen.

Außerdem mussten sie die Arbeit von etwa 150 Handwerkern und 200 Gehilfen organisieren und koordinieren.

Zwischen diesen Bauhütten gab es in Europa einen regen Wissensaustausch, der davon zeugt, dass es einen Willen zum stetigen Fortschritt und Erkenntnisgewinn gab.

Und all das geschah im angeblich rückständigen und finsteren europäischen Mittelalter.

Es ist gar nicht auszudenken, wie weit man sich heute verneigen würde, wenn diese Werke von Muslimen im Mittelalter gebaut worden wären.
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Agrippa
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Bis zum Kathedralbau wurde die Statik eines Bauwerks simpel durch Masse gelöst. Das erzeugte allerdings schwere, gedrungene Bauten.

Im Kathedralbau der Gotik wurde in den Bauhütten durch das Urmaß der Bauplan bzw. Bauriss festgelegt, durch den immer höhere und filigranere Konstruktionen möglich wurden.
Natürlich gab es auch Unglücke, bei denen die statisch möglichen Grenzen überschritten wurden. Dennoch forschte man weiter.
Die Bauhütten gaben, wie jede Zunft, ihr Wissen nur ihresgleichen und an diese bevorzugt mündlich weiter.

Aus den Bauhütten, um die sich aufgrund ihrer Wundertaten viele Geheimnisse rankten, entwickelte sich später der Geheimbund der Freimaurer.
Paul
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Verstrebung, Stützprinzip und Lastverteilung kannte man schon aus den Holzbauwerken. Burgen- und Brückenbau ging dem Kathedralenbau voran.
viele Grüße

Paul

aus dem mittelhessischen Tal der Loganaha
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Agrippa
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Paul hat geschrieben:Verstrebung, Stützprinzip und Lastverteilung kannte man schon aus den Holzbauwerken. Burgen- und Brückenbau ging dem Kathedralenbau voran.
Nein, das ist etwas vollkommen anderes. Bei Burgen und Brücken wurden die Querkräfte durch massige Pfeiler abgefangen, wie schon in der Romanik. Beim Kathedralbau ging es nicht um Masse, sondern um Reduktion ebendieser; es ging es um das Erreichen einer großen Höhe, bei gleichzeitiger Auflösung der Wand. Dafür gab es keine architektonischen Vorbilder. Und deshalb hatten Burgen in der Regel keine großen, farbigen Glasfenster.

Um nicht missverstanden zu werden: Die Freimaurerlogen haben sich Anfang des 18.Jhs. als Gruppen von Freidenkern nur ideell auf die Bräuche der Steinmetzgilden bezogen, Mit dem Kathedralbau selbst hatten sie natürlich nichts mehr zu tun.
Dietrich
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Agrippa hat geschrieben: Spätestens Ende des 12. Jhs. standen sich mit dem Abendland und dem Morgenland zwei Hochkulturen gegenüber, so dass man nicht mehr von einem tatsächlichen Zivilisationsgefälle sprechen kann.
Das 12. Jh. war in Europa noch ein halbbarisches, seine Kultur nicht vergleichbar mit der des Morgenlandes. Es gab weder Universitäten - sieht man einmal von Bologna ab - noch eigene Erkenntnisse in der Astronomie, Medizin und den Naturwissenschaften. Zeitgenössische Berichte von Kreuzfahrern zeigen, dass sie die Welt des Islam als eine "Wunderwelt" empfanden, deren verfeinerte Kultur im abendländischen Europa nicht ihresgleichen fand.

Eine kulturelle Wende erfolgte erst mit dem Aufblühen der Renaissance und den geistesgeschichtlichen Strömungen des Humanismus. Es kam in Europa zu einem ganz neuen Denken, das den Menschen in den Mittelpunkt stellte, die Bildung verbreiterte und vor allem die Theologie von der Wissenschaft trennte. In der Malerei, Bildhauerei und Architektur wurde außergewöhnliches geleistet.

Das alles ist jedoch erst eine Erscheinung des 15. und 16. Jhs., wodurch die abendländische Kultur mit der islamischen gleichzog, sie auf einigen Gebieten sogar noch übertraf. Ich halte es für unsinnig, nun Preise zu verleihen, welche Kultur die "bessere" war. Sowohl die abendländische als auch die islamische Kultur haben in der Menschheitsgeschichte einen vorderen Platz und irgendwelche "Preisvergaben" werden der Sachlage nicht gerecht.
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Agrippa
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Dietrich hat geschrieben:
Agrippa hat geschrieben: Spätestens Ende des 12. Jhs. standen sich mit dem Abendland und dem Morgenland zwei Hochkulturen gegenüber, so dass man nicht mehr von einem tatsächlichen Zivilisationsgefälle sprechen kann.
Das 12. Jh. war in Europa noch ein halbbarbarisches,....

Lies Dir doch bitte einmal durch, was ich über den gotischen Kathedralbau des 12. Jhs. geschrieben habe. Dann wird sich dein Bild über das europäische Mittelalter sicher ändern.
Dietrich
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Agrippa hat geschrieben: Lies Dir doch bitte einmal durch, was ich über den gotischen Kathedralbau des 12. Jhs. geschrieben habe. Dann wird sich dein Bild über das europäische Mittelalter sicher ändern.
Die Kunst der französischen Kathedralgotik ändert nicht das Gesamtbild, das man stets vor Augen haben muss.
Paul
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Die Dome im gotischen Stil wurden im 12. Jh. überall in Deutschland gebaut. Da wurde auch unser Dom in Wetzlar begonnen. Wetzlar war zwar im Mittelalter mit 6000 Einwohnern keine kleine Stadt, der Dom und die Stadtmauer erscheinem einem heute aber überdimensional. Mal sehen, ob ich herausfinden kann, wann unsere alte Brücke mit ihren Ständern und Bögen gebaut wurde. Da ging es ja wie bei den alter Überlandwasserleitungen um Lastverteilung im Steinbau.
viele Grüße

Paul

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Dietrich
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Paul hat geschrieben:Die Dome im gotischen Stil wurden im 12. Jh. überall in Deutschland gebaut.
Ausgangsland der Gotik war allerdings Frankreich, wo in der Ile-de-France die ersten gotischen Kirchen entstanden. Erst von dort aus breitete sich die Gotik auch nach Deutschland, Spanien, England und in andere Länder aus.Viele unserer deutschen Kirchen blieben der Romanik verhaftet und fügten im Kern romanischen Kirchen gotische Elemente bei, wie z.B. Einbau gotischer Kreuzgratgewölbe statt der romanischen Flachdecken oder Tonnengewölbe.
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Agrippa
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Hallo Dietrich,

beschäftige Dich mal mit dem gotischen Kathedralbau. Schau dir die faszinierenden Bauwerke in Sens, in Chartres, Rouen, Paris, Canterbury und Köln an.

Dann wirst Du sicher nicht mehr das europäische Hochmittelalter als „halbbarbarisch“ bezeichnen.

Diese Werke können nur von einer Hochkultur geschaffen worden sein. In ihrer Zeit waren sie der Maßstab der Baukunst weltweit.
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Agrippa
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Anbei ein Zitat aus der Schlussbetrachtung der Diplomarbeit
„Das Bauhandwerk im Mittelalter – Planung und Errichtung der Klosteranlage Neuberg an der Mürz“
von Mag. Barbara Taubinger

Studienrichtung Geschichte, Betreuerin: Univ. Prof. Dr. Meta Niederkorn
Universität Wien, 2012

„Der seit der Gotik grundlegend umstrukturierte Baubetrieb brachte eine Blüte der europäischen Baukunst hervor, die ihre Vollendung im Kirchenbau fand.(...)
Die mittelalterliche Bautechnik und Bauplanung war hoch entwickelt, sehr innovativ und durchdacht. Ohne den Fortschritt wären die hohen gotischen Kirchenbauten der Zeit nicht möglich gewesen. Die Entwicklung dieser Bau- und Konstruktionstechniken verlangte viel Erfahrung und Fingerspitzengefühl und war Vorreiter für den heutigen Ingenieursberuf.“
Dietrich
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Agrippa hat geschrieben:
beschäftige Dich mal mit dem gotischen Kathedralbau. Schau dir die faszinierenden Bauwerke in Sens, in Chartres, Rouen, Paris, Canterbury und Köln an.
Die gotischen Kathedralen standen in Regionen, die gegenüber der islamischen Welt zivilisatorisch und kulturell weit hinterherhinkten. Warum das so war, habe ich weiter oben ausführlich beschrieben. An dieser Tatsache ändern auch architektonisch anspruchsvolle Kathedralen nichts.
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Agrippa
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Dietrich hat geschrieben: Die gotischen Kathedralen standen in Regionen, die gegenüber der islamischen Welt zivilisatorisch und kulturell weit hinterherhinkten.
Die Kathedralen „standen“ nicht dort, sozusagen von einer vorherigen Kultur geerbt, sondern sie wurden in diesen Regionen (übrigens ganz Europa) im Hochmittelalter erdacht, geplant, konstruiert und, was das wichtigste ist, auch realisiert.
Und das von einer Gesellschaft, die deiner Meinung nach "halbbarbarisch" und kulturell rückständig war.

Die Baukunst ist seit jeher ein Gradmesser für den Entwicklungsstand einer Zivilisation.
Dietrich
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Agrippa hat geschrieben: Und das von einer Gesellschaft, die deiner Meinung nach halbbarbarisch und kulturell rückständig war.
Ich habe gerade einen neuen Thread aufgemacht:

"Untergang Roms - Kulturbruch in Europa" http://geschichte-wissen.de/forum/viewt ... =56&t=5115

Lies dir das mal sorgfältig durch, dann weißt du, warum Europa einen totalen kulturellen und wirtschaftlichen Niedergang erlebte.
Agrippa hat geschrieben: Die Baukunst ist seit jeher ein Gradmesser für den Entwicklungsstand einer Zivilisation.
Wie überlegen die islamische Kultur der abendländischen zur Zeit des Hochmittelalters war, kannst du in unzähligen Publikationen mit eingehenden Begründungen und Analysen der Fachwissenschaft nachlesen. Es ist mir unverständlich, warum du so sehr auf einer kulturellen Ebenbürtigkeit zu dieser Zeit beharrst - entgegen aller fachwissenschaftlichen Erkenntnisse.
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