Wer war zuerst in Siebenbürgen - Ungarn oder Rumänen?

Heraldik, Jagd, Pest, Kriegsführung, Ritter, Feuerwaffen, Burgen, Könige, Königreiche

Moderator: Barbarossa

Dietrich
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Es existiert seit langem ein kontrovers diskutiertes Problem zur rumänische Ethnogenese: Gab es es eine dako-romanische Kontinuität? Damit verbunden ist die entscheidende Frage, ob die Entstehung des Volks im Raum des heutigen Rumänien auf der Basis der romanisierten Daker erfolgte, oder ob Balkanromanen erst nach dem 10. Jh. von außen zuwanderten.

Eine dako-romanische Kontinuität verfocht besonders die Forschung des sozialistischen Rumäniens und auch heute vertreten rumänische Historiker wohl mehrheitlich diese Hypothese. Aber auch die Migrations-Hypothese hat ihre Verfechter, besonders außerhalb Rumäniens. Angesichts der dünnen und unbefriedegenden archäologischen und schriftlichen Quellenlage kann jedoch keine Seite einen abgesicherten wissenschaftlichen Beweis für die eine oder andere Theorie für sich beanspruchen.

Die beiden Ansätze lauten - ganz kurz gefasst - wie folgt:

1. Abgelehnt wird von der einen Fraktion eine dakisch-romanische Kontinuität mit dem Hinweis, dass eine Romanisierung der Daker in nur 170 Jahren - so lange währte die römische Präsenz in der Provinz Dakien - nicht erfolgt sein könnte. In einer so kurzen Zeitspanne sei auch anderswo keine Bevölkerung romanisiert worden, in Britannien hätten nicht einmal über 300 Jahre dazu ausgereicht. Ferner wird darauf verwiesen, dass es in der Provinz Dakien keinerlei archäologisch nachweisbare romanische Kontinuität gibt und die archäologische Überlieferung am Ende des 4. Jh. abreißt. Auch sind kaum dakische oder romanische Ortsnamen in Siebenbürgen - der Raum der römischen Provinz Dakien - überliefert, wie überhaupt die rumänische Sprache nur ein ganz geringes dakisches Substrat aufweist.

Als Folge vertreten die Verfechter der Migrationstheorie die Hypothese, dass der Raum des heutigen Rumänien durch Kriege, durchziehende Völker und Verwüstungen stark entvölkert war und erst nach dem 10. Jh. Balkanromanen von außerhalb in Rumänien einsickerten. Sie hatten sich vor den seit dem 6. Jh. eindringenden Slawen in Gebirgsgegenden zurückgezogen und waren als als Wanderhirten zur Transhumanz übergegangen. Ihr Siedlungsgebiet wird südlich der Donau angenommen, besonders im Balkangebirge, den Rhodopen und Thessalien. Diese Bevölkerungsschicht ist urkundlich seit dem 10. Jh. als Vlachen oder Walachen bekannt, was auch später der Name ihres hochmittelalterlichen Herrschaftsgebietes nördlich der Donau war: Fürstentum Walachei, Vorläufer des heutigen Rumäniens.

2. Die dako-romanische Kontinuitätstheorie geht davon aus, dass die Daker weder bei der Eroberung Dakiens durch die Römer noch durch die ab dem 5. Jh. durchziehenden Gepiden, Awaren, Ungarn und Petschenegen vernichtet wurden. Nach dieser Hypothese zog sich die dakisch-romanische Mischbevölkerung aus der Ebene in die Karpaten zurück, überdauerte als halbnomadische Viehzüchter, bewahrte dabei ihr Balkanlatein und wird ab dem 10. Jh. als Vlachen in den Quellen genannt. Es wird zudem darauf hingewisen, dass immerhin rund 100 dakische Wörter als Substrat im Rumänischen zu finden sind (was allerdings umstritten ist).

Angesichts der dürftigen Quellenlage fällt es schwer, sich für die eine oder andere Hypothese zu entscheiden, denn beide Varianten liegen im bereich des möglichen. Es gibt inzwischen auch schon Theorien, die beide Hypothesen miteinander zu verbinden suchen, doch bleibt die rumänische Ethnogenese bis heute in vielen Bereichen unklar.

Ein zentraler Streitpunkt ist das Thema bis heute zwischen rumänischen und ungarischen Historikern und Nationalisten. Jede Seite behauptet, sie hätte als erste Transsylvanien/Siebenbürgen besiedelt und leitet daraus einen territorialen Anspruch ab - zumindest einen moralischen.
Zuletzt geändert von Dietrich am 21.11.2014, 18:49, insgesamt 1-mal geändert.
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Marek1964
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Sehr interessanter Post. Hat man denn irgendeine belastbare Schätzung, wieviele EInwohner die Provinz Dacia hatte? Erstreckte sie sich auf die Fläche des heutigen Rumänien? War sie nicht überwiegend am der Küste bewohnt und romanisiert?
Lia

Die Frage ist natürlich akademisch zu eruieren. Dennoch sollte sie in der Politik keine Rolle mehr spielen- sind beide da- und man kann eigentlich auch miteinander statt gegeneinander leben.
Paul
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Da heute Rumänen, also Romanen, in Rumänien leben, ist eine Kontinuität eigentlich logisch. Es hat nie eine vollständige Vertreibung der ursprünglichen Dako-Romanen gegeben. Eine vollständige germanische oder dann slawische Assimilation ist auch unwahrscheinlich.
Die Vertreter der Einwanderungshypothese müßten ihre Vermutung beweisen, das keine Dakoromanen mehr in Dakien gelebt hätten. Gewisse Einwanderungen wird es natürlich auch immer gegeben haben.
viele Grüße

Paul

aus dem mittelhessischen Tal der Loganaha
Dietrich
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Paul hat geschrieben:Da heute Rumänen, also Romanen, in Rumänien leben, ist eine Kontinuität eigentlich logisch. Es hat nie eine vollständige Vertreibung der ursprünglichen Dako-Romanen gegeben. Eine vollständige germanische oder dann slawische Assimilation ist auch unwahrscheinlich.
Da würden dir die Vertreter der Migrationstheorie aber sehr widersprechen. Die Gründe habe ich oben angeführt: Im Jahr 271 erfolgte die Räumung der Provinz Dakien durch Kaiser Aurelian und der totale Abzug des Militärs, der Verwaltung und der gesamten zivilen römischen Bewohner. Zurück blieb eine autochthone dakische Bevölkerung, die nach Meinung vieler Historiker im Verlauf von nur 170 Jahren nicht oder nur ganz oberflächlich romanisiert war. Auf jeden Fall brechen alle archäologischen Belege für eine romanische Kontinuität in Dakien Endes 4. Jh. ab. In den nächsten Jahrhunderten besetzten oder durchzogen Westgoten, Gepiden, Kumanen, Petschenegen, Awaren, Slawen und Ungarn das Land. Nach Ansicht der meisten nichtrumänischen Historiker ist eine fortdauernde Kontinuität dakischer Bevölkerungsreste äußerst unwahrscheinlich.

Die Exstenz romanischer Walachen im Raum des heutigen Rumänien ist erst seit dem 10./11. Jh. in historischen Quellen belegt. Insofern ist eine Mehrheit der Forschung heute der Ansicht, dass die Walachen erst in diesem Zeitraum von Süden her - aus Bulgarien, dem Balkan-Gebirge und Thessalien - zuwanderten. In diesen Gebieten gibt es bis heute Siedlungsenklaven der Aromunen , die einen rumänischen Dialekt sprechen. Sie sind nach dieser Hypothese die balkanromanische Restbevölkerung, die im 10./11. Jh. mehrheitlich in den Raum des heutigen Rumäniens abwanderte.

Der Historiker Gottfried Schramm hat die Fakten, die für die Migrationstheorie sprechen, sehr schön in einer Publikation zusammengefasst, die mir hier vorliegt:

Gottfried Schramm, Ein Damm bricht. Die römische Donaugrenze und die Invasionen des 5.-7. Jh., München 1997, S. 275 ff. (Oldenbourg Verlag)
Harald
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Ich stimme dir voll und ganz zu.
Speziell Siebenbürgen war nach der Völkerwanderung menschenlee und wurde zunächst nur von Ungarn (Szekler) und Deutschen (Siebenbürger Sachsen) besiedelt. Erst später kamen Walachen dazu und es dauerte sehr lange bis sie die Mehrheit hatten.

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