Was folgte auf den Untergang Roms?

Das römische Reich war maßgebend für die weitere Entwicklung Europas: Republik, Kaiserreich, Caesar, Augustus

Moderator: Barbarossa

Dietrich
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Mit dem Untergang des Römischen Reichs im 5. Jh. verließen die meisten Römer - Beamte, Kaufleute, Gutsbesitzer, Soldaten - die Provinzen und kehrten in ihre Heimat zurück. Die Römerstädte an Rhein, Donau und Rhone verödeten, römische Gutshöfe verschwanden, Straßen und Brücken zerfielen. Der Untergang der römischen Zivilisation führte bei den germanischen Völkern zu einem Niedergang des Wissens und der Kultur und bewirkte einen Rückfall in barbarische Verhältnisse.

Dieser Verfallsprozes war so tiefgreifend, dass Karl der Große und seine Berater den Plan fassten, alle Bereiche des Wissens und der Kunst zu erneuern, was mit einem modernen Begriff als Karolingische Renaissance bekannt ist. In diesem Zusammenhang kam es u.a. zu einer Erneuerung des Gottesdienstes und der Liturgie und eine erneuerte Fassung der Bibel, da sich in die zahlreichen lateinischen Bibelabschriften Fehler eingeschlichen hatten, die manche Bibelstellen völlig entstellten.

Der bekannte Historiker Henri Pirenne betont:

"Obwohl die Kirche so tief gesunken war, blieb sie die einzige kulturelle Macht ihrer Zeit. Durch sie allein setzte sich die römische Tradition fort und dies verhinderte Europas Rückfall in völlige Barbarei. Die weltliche Macht wäre unfähig gewesen, die kostbare Erbschaft der Antike aus sich selbst heraus zu bewahren. Trotz des guten Willens der Könige war ihre rohe Verwaltung den Aufgaben nicht gewachsen ... Die Kirche blieb also inmitten der Anarchie ihrer Umgebung, und trotz der zersetzenden Wirkung, welche diese Anarchie auch auf sie selbst ausübte, unzerstört".
(Henri Pirenne, Geschichte Europas, Frankfurt 1961, S. 47)

Der Untergang des Imperium Romanum markiert auch das Erlöschen der Spätantike, wobei hier natürlich kein festes Datum zu nennen ist. Es gibt einen allmählichen Übergang von der Spätantike zum frühen Mittelalter, der von Historikern meist als breiter Grenzsaum gesehen wird, der von der Teilung des Römischen Reichs in einen Westen und Osten über das faktische Ende Westroms bis hin zur Expansion des Islam im 7. Jh. reicht. Manche sprechen dabei auch von einem "Transformationsprozess" der Antike.

Nach Auflösung der römischen Staats- und Ordnungsstrukturen erfolgte neben einem kulturellen Niedergang auch eine wirtschaftliche Verödung. Henri Pirenne berichtet vom Verschwinden der Städte und des Handels als Folge dieser Entwicklung:

"Vom sozialen Gesichtspunkt aus ist das bedeutendste Phänomen, das in die Zeit zwischen den muslimischen Eroberungen und der Herrschaft der Karolinger fiel, die schnelle Verminderung und nachher das fast völlige Verschwinden der städtischen Bevölkerung ... Die soziale und verwaltungsmäßige Struktur verlor nun ihren dem städtischen Charakter des römischen Staates entsprechenden Charakter: ein Phänomen, das in Westeuropa ganz neu und sehr erstaunlich war. Das Ende des städtischen Typus im frühen Mittelalter ergab sich zumindest für die Verwaltung daraus, dass die Eroberer des Römischen Reiches außerstande waren, dessen Institutionen in der alten Form weiterfunktionieren zu lassen; denn nur die Institutionen des römischen Staates hatten in den durch Barbaren eroberten Provinzen - in Gallien, Spanien, Italien, Afrika und Britannien - einst die Existenz der Städte gesichert. Nur noch einige Städte an den Küsten des Mittelmeers trieben auch noch nach den Völkerwanderungen einen mehr oder weniger bedeutenden Seehandel."
(Henri Pirenne, a.a.O., S. 81)

Pirenne beschreibt sehr eindringlich, dass Wirtschaft und Handel nach den Eroberungen des Islam im Mittelmeerraum völlig versandeten:

"Daraus aber musste sich ein fast vollkommener Stillstand des Handels ergeben; auch das Gewerbe verschwand fast ganz, wenn man von einigen lokalen Erscheinungen wie der in Flandern noch aufrechterhaltenen Tuchweberei absieht. Der Umlauf von Geld hörte beinahe auf. Seitdem verfielen in den fast entvölkerten Städten die verlassenen Viertel und dienten den wenigen Einwohnern, die sich auf einen Winkel des früheren Stadtinnern beschränkten und dort hausten, als Steinbrüche ... In Gallien erlosch das städtische Leben so völlig, dass die Herrscher nicht mehr in den Städten residierten, denn der vollkommenen Mangel eines Handelsverkehehrs ermöglichte es ihnen nicht mehr, dort genügend Lebensmittel für den Unterhalt des Hofes zu finden. Sie verbrachten das Jahr auf den Domänen und zogen von einer zur anderen."
(Henri Pirenne, a.a.O., S. 83)

Große Teile des einst von Römern beherrschten Europas verödeten zwischen dem 5. und 8. Jh., der Handel versiegte und man kehrte zur Naturalwirtschaft zurück. Es entstanden riesige Domänen, die nahezu autark waren, da der Fernhandel weithin zum Erliegen gekommen war. Es waren also "Dark Ages", die weite Teile Europas nach dem Untergang des römischen Imperiums erfassten, was auf eine Reihe von Faktoren zurückzuführen ist, die einander bedingen und immer neue Auswirkungen haben. Dieser Zustand beginnt sich erst mit den Karolingern und später den Ottonen und Kapetingern zu wandeln.

Henri Pirenne schrieb sein Werk vor vielen Jahrzehnten, doch sind seine Gedanken und Überlegungen auch heute noch diskussionswürdig und repräsentieren einen wichtigen Aspekt innerhalb vieler Hypothesen zur Kontinuität bzw. zum Kulturbruch nach dem Untergang Westroms.
Paul
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Kriegerische Ereignisse wirken sich meist negativ auf die Bevölkerungsentwicklung und Wirtschaft aus z.B. der Hunneneinfall und die Völkerwanderung insgesamt. Die Einwohnerzahl Kölns halbierte sich von 30000 auf 15000 Einwohner. Alle wirtschaftlichen Betätigungen litten, es gab aber keinen völligen Zusammenbruch von Wirtschaft und Kultur.
viele Grüße

Paul

aus dem mittelhessischen Tal der Loganaha
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Barbarossa
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So ganz kann ich deinen Ausführungen jetzt nicht folgen, Dietrich. Es mag in der Zeit der Völkerwanderung zu einer starken Entvölkerung einiger Städte gekommen sein - gerade dort, wo es eine Landnahme der Franken auf vormals römischem Gebiet kam, war das so. Aber im Zentrum Galliens sah das ganz anders aus. Die Merowinger, die sich nach Chlodwigs Tod das Reich teilten, hatten mit Paris, Orleans, Reims und Soissons im Gegensatz zu den später regierenden Karolingern sogar feste Residenzen. Die ständigen Fehden unter den Merowingern lähmten das Reich allerdings im 6. u. 7. Jh. und führten auch zum Niedergang der Merowinger selbst.

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Dietrich
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Barbarossa hat geschrieben:So ganz kann ich deinen Ausführungen jetzt nicht folgen, Dietrich. Es mag in der Zeit der Völkerwanderung zu einer starken Entvölkerung einiger Städte gekommen sein - gerade dort, wo es eine Landnahme der Franken auf vormals römischem Gebiet kam, war das so. Aber im Zentrum Galliens sah das ganz anders aus.
Wenn man Pirenne in seinen Ausführungen folgt, dann sagt er, dass gerade in Gallien die städtische Bevölkerung verschwand, die Verwaltungsstruktur weitgehend zusammenbrach und ihren stätdischen Charakter verlor, weil die Eroberer des Römischen Reiches außerstande waren, dessen Institutionen in der alten Form weiterfunktionieren zu lassen; denn nur die Institutionen des römischen Staates hatten in den durch Barbaren eroberten Provinzen - in Gallien, Spanien, Italien, Afrika und Britannien - einst die Existenz der Städte gesichert. Nur noch einige Städte an den Küsten des Mittelmeers trieben auch noch nach den Völkerwanderungen einen mehr oder weniger bedeutenden Seehandel.

Pirenne sagt ferner: "In Gallien erlosch das städtische Leben so völlig, dass die Herrscher nicht mehr in den Städten residierten, denn der vollkommenen Mangel eines Handelsverkehehrs ermöglichte es ihnen nicht mehr, dort genügend Lebensmittel für den Unterhalt des Hofes zu finden. Sie verbrachten das Jahr auf den Domänen und zogen von einer zur anderen." Die Residenzen der Merowinger - Soisson, Reims usw. - hellen das Gesamtbild nicht auf. Auch dort war eine funktionsfähige Verwaltung mit dem Fortgang der Römer nahezu erloschen.

Die Münzwirtschaft erlosch weitgehend, stattdessen kehrte man zur Naturalwirtschaft zurück. Da der Handel nur noch regional betrieben wurde, gab es autarke riesige Domänen.

Das Gesamtbild hellte sich erst allmählich auf, besonders ab der Regierungszeit der Karolinger. Doch ist festzustellen, dass der Zusammenbruch Roms sowohl Gallien als auch das römische Germanien kulturell und zivilisatorisch weit zurückwarfen.
Kohlhaas
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Dietrich hat geschrieben:Mit dem Untergang des Römischen Reichs im 5. Jh. verließen die meisten Römer - Beamte, Kaufleute, Gutsbesitzer, Soldaten - die Provinzen und kehrten in ihre Heimat zurück.
Welche Heimat denn? Die "meisten Römer - Beamte, Kaufleute, Gutsbesitzer, Soldaten (MIT GROßEM Fragezeichen) - waren in Gallien großgeworden. Es gab römische Senatoren und "Kaiser", die aus Gallien stammten. Wohin hätten die Leute "zurückkehren" sollen?

Hinzu kommt: Bevor die Franken die Grenze zum römisch-gallischem Territorium durchbrochen haben, waren auf römischer Seite längst "fränkische" Truppen für die Verteidigung der Grenze zuständig. Nachdem die fränkische Eroberung gallisch-römischen Territoriums dann stattgefunden hatte, waren die Eroberer in der Minderzahl. Es gibt keinen Hinweis darauf, dass die Eroberer ansässige Grundbesitzer in eine seit Jahrhunderten nicht mehr existierende "Heimat" "vertrieben" hätten.

Tatsächlich haben die Franken das linksrheinische Gebiet herrschaftlich überschichtet. Sie haben sich zu "Herren" über die gallo-römischen Gesellschaftsstrukturen erhoben. Und mit der "Überschichtung" haben sie wichtige Elemente der römischen Kultur übernommen. So kam es, dass links des Rheins letztlich ein stabiler zentralistisch regierter "Staat" (Frankenreich) enstanden ist, rechts des Rheins aber nicht in dieser Stabilität.

Die Verödung der Städte und das Wegbrechen der Geldwirtschaft hatte andere Ursachen. Die lagen in der Sozialstruktur der neuen "Herrscher".

Dietrich hat geschrieben:Wenn man Pirenne in seinen Ausführungen folgt, dann sagt er, dass gerade in Gallien die städtische Bevölkerung verschwand, die Verwaltungsstruktur weitgehend zusammenbrach und ihren stätdischen Charakter verlor, weil die Eroberer des Römischen Reiches außerstande waren, dessen Institutionen in der alten Form weiterfunktionieren zu lassen....
Die fränkischen Eroberer waren doch aber in der Minderzahl. Die Mehrheit der Bevölkerung blieb "gallisch". Oder gibt es Anzeichen für großflächige Abwanderungen?

Die Eroberer konnten die Institutionen des römischen Reichs nicht aufrecht erhalten, weil sie es gar nicht wollten. Aber wo ist der Beleg für "römische Abwanderungen" nach Süden? Hat sich die Gesellschaft im römischen Kerngebiet (Italien) wesentlich anders entwickelt als im ehemaligen Gallien?
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Barbarossa
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Ich glaube, der Autor überzieht möglicherweise etwas. Es war natürlich so, dass die Katholische Kirche während der Völkerwanderung und dem folgenden Zusammenbruch des Römischen Reiches einen Rest von Verwaltung aufrecht erhielt. Um sich diese Verwaltung zunutze machen zu können, ließ sich Chlodwig katholisch Taufen und gründete die Reichskirche. Ein geschickter Schachzug.
Ich denke daher, es waren vor allem die Römer selbst, die bei ihren ständigen Machtkämpfen untereinander in den letzten Jahrzehnten das Westreich im Chaos versinken ließen. Die Germanenreiche waren natürlich bei weitem nicht so fortschrittlich in verwaltungstechnischen Dingen, aber sie stellten immerhin eine gewisse Ordnung wieder her - auch eine Gesetzgebung, die sich z. T. auf das römische Recht stützte. Die Römer waren an ihrem Niedergang schon hauptsächlich selbst Schuld. Beispiel: Wie konnte man nur einen so fähigen Feldherren und Politiker wie Aetius einfach ermorden?
Siehe: https://de.m.wikipedia.org/wiki/Flavius ... es_Westens

Selbst Schuld.

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dieter
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Beweis, dass die gallische Struktur nicht völlig zusammenbrach ist doch, dass die Bevölkerung von Frankreich schon nach wenigen hundert Jahren eine romanische Sprache sprach und nicht eine germanische.
Die Verträge von Verdun, Meersen und Ribemont, in denen die Reichsteilungen des Fränkischen Reiches festgelegt wurden zeigen das deutlich. :wink:
Was Du nicht willst, dass man Dir tu, das füg auch keinem Andern zu.
Ruaidhri
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Henri Pirenne gehört zwar zur Standard-Literatur, jedoch widersprechen andere Historiker in Teilen der Absolutheit seiner Aussagen.
Ganz sicher herrschte, verglichen mit der straffen römischen Verwaltung, der Kultur und Zivilisation, lange Zeit Chaos, lagen Stadt und ddamit der Handel nach römischer Art brach.
Sicherlich gab es einen Kulturbruch, legt man Rom als Maßstab an, dennoch überlebten Strukturen- oder wurden reanimiert, auch mit Hilfe der Kirche, der einzig über viele Gebiete greifende Organisation. Und nicht alle Römer zogen zurück nach Rom, sondern blieben- und damit auch so etwas wie Kulturtransfer.
Das Imperium zerbrach, doch es hinterließ deutliche Spuren, die später wieder aufgenommen und mit neuen, oder besser anderen, Vorstellungen verbunden wurden.
Siehe Barbarossa:
Aber im Zentrum Galliens sah das ganz anders aus. Die Merowinger, die sich nach Chlodwigs Tod das Reich teilten, hatten mit Paris, Orleans, Reims und Soissons im Gegensatz zu den später regierenden Karolingern sogar feste Residenzen.
Auch in den alten Colonia blieben "Römer" und römisches Gedankengut, das tradiert wurde, insofern ist auch dieses eine Zutat der Neu-Entstehungsphase.
Kohlhaas hat geschrieben:Tatsächlich haben die Franken das linksrheinische Gebiet herrschaftlich überschichtet. Sie haben sich zu "Herren" über die gallo-römischen Gesellschaftsstrukturen erhoben. Und mit der "Überschichtung" haben sie wichtige Elemente der römischen Kultur übernommen.
Stimmt, dennoch, im Vergleich zur Blütezeit Roms war es natürlich zunächst ein Verfall.
So kam es, dass links des Rheins letztlich ein stabiler zentralistisch regierter "Staat" (Frankenreich) enstanden ist, rechts des Rheins aber nicht in dieser Stabilität.
Das sollte allerdings noch so einige Jahrhunderte dauern, bis Frankreich wirklich zentralistisch wurde- Joachim Ehlers u.a. haben dazu Interessantes geschrieben, weiters ergibt sich aus der Kenntnis der französischen Geschichte des Mittelalters.
Dieter hat geschrieben:Beweis, dass die gallische Struktur nicht völlig zusammenbrach ist doch, dass die Bevölkerung von Frankreich schon nach wenigen hundert Jahren eine romanische Sprache sprach und nicht eine germanische.
Die Verträge von Verdun, Meersen und Ribemont, in denen die Reichsteilungen des Fränkischen Reiches festgelegt wurden zeigen das deutlich. :wink:
Hm, sagen wir eher, gallo-römische Kultur-Reste blieben erhalten, denn gallisch/ keltisch ist nicht nunmal keine romanische Sprache. Dass die romanisierten Gallier und verblieben Römer, bzw. deren Nachfahren,- Latein oder so etwas Ähnliches- sprachen, das dann zum frühen Altfranzösisch wurde, ist klar.
Die Eroberer, ob das kleine Volk oder Herrschaftsschichten, nahmen teilweise Sitten Gebräuche und eben auch die Umgangssprache an, wobei die fränkische Oberschicht oft zweisprachig war.
Ob Verdun schon als Reichsteilung gedacht war oder nur Herrschaftsteilung, wie sich dort germanische Vorstellungen und römische Ansichten begegnen, mit welchen Auswirkungen, führt schon fast zu weit weg von Dietrichs Frage.
Die Frage der Sprachentwicklung ist weitaus diffiziler und regionaler ist als man es gemeinhin sagt.
Muttersprache: Deutsch Vaterland: Keins. Heimat: Europa
LG Ruaidhri
Dietrich
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Barbarossa hat geschrieben:Ich glaube, der Autor überzieht möglicherweise etwas.
Ja, das sehen andere Historiker auch so. :wink:

Pirenne hat sicher seine Meriten, aber über einige seiner Vorstellungen zur Epoche zwischen Spätantike und frühem Mittelalter ist die Zeit ein wenig hinweggegangen. Ich habe ihn hier zitiert, um eine Diskussion in Gang zu bringen über die Phase zwischen dem Untergang Roms und dem Aufstieg der Karolinger und Ottonen. Da gibt es dann einige extreme Ansichten, wie man sich diese Phase besonders in Gallien, Spanien und dem ehemaligen römischen Germanien vorzustellen hat.

Sicher ist auf jeden Fall, dass Verwaltungsstrukturen zusammenbrachen, Römerstädte wie Köln, Mainz oder Regensburg weitgehend verödeten, denn die nachrückenden Germanen siedelten sich vorwiegend am Rande der alten Römerstädte an, deren Zentren verfielen. Es gab zwar eine gewisse Kontinuität, doch die war lückenhaft und brüchig. Das Münzwesen brach zusammen und man ging zur Naturalwirtschaft über.

Dieser Rückfall in teilweise barbarische Verhältnisse erfolgte allerdings nicht überall. So blieb in Italien das kulturelle und zivilisatorische Niveau hoch, was eingeschränkt auch für Spanien gilt. In Südgallien war auch nach dem Übergang der Herrschaft auf die Merowinger der gallo-römische Senatorenadel eine bestimmende Kraft, die von alten römischen Tugenden zehrte, und die staatlichen Strukturen zu bewahren suchte. Dieser mächtige senatorische Adel mit Großgrundbesitz verband sich bald mit der merowingischen Elite und nahm wichtige Positionen in der Verwaltung und in der Kirche ein. Zahlreiche Bischöfe jener Zeit gingen aus der gallo-römischen Aristokratie hervor.

Nicht zu vergessen sind die Klöster, die einiges vom römischen Erbe bewahrten. Ihnen ist es zu verdanken, dass viele literarische Werke der Antike nicht vernichtet wurden, sondern der Nachwelt erhalten blieben. In den Klöstern und allgemein in der katholischen Kirche überlebte ferner die Schriftlichkeit, die vielfach nördlich der Alpen verschwand.
Zuletzt geändert von Dietrich am 16.07.2015, 13:44, insgesamt 1-mal geändert.
Dietrich
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Ruaidhri hat geschrieben:Henri Pirenne gehört zwar zur Standard-Literatur, jedoch widersprechen andere Historiker in Teilen der Absolutheit seiner Aussagen.
Wie ich oben schon sagte: Henri Pirenne hat unzweifelhaft seine Meriten, aber der Bruch zwischen Spätantike und frühem Mittelalter wird von heutigen Historikern nicht mehr derart krass gesehen. Gegenwärtig betont man vielfach Elemente der Kontinuität, wenn es um das Erbe der Spärantike in West- und Mitteleuropa geht.
Ruaidhri hat geschrieben:Auch in den alten Colonia blieben "Römer" und römisches Gedankengut, das tradiert wurde, insofern ist auch dieses eine Zutat der Neu-Entstehungsphase.
In alten Römerstädten wie Köln saß oftmals nur noch ein Bischof, der kulturelles Niveau repräsentierte. Die Franken hatten Köln mehrfach gestürmt und geplündert und dabei gewaltige Zerstörungen hinterlassen. Im Jahr 455 erfolgte die endgültige Eroberung und Köln wurde Mittelpunkt eines fränkischen Kleinkönigtums. Insofern gewann es Bedeutung zurück, auch wenn das zivilisatorische Niveau der römischen Epoche natürlich unerreicht blieb.

Interessant sind einige Schriftquellen die belegen, dass auch nach der fränkischen Eroberung noch eine römische Bevölkerungsschicht existierte, die bis ins 8. Jh. parallel zu den Franken lebte, und vermutlich weitgehend in Knechtschaft geriet. Mn kann vermuten, dass es in anderen Römerstädten ähnlich aussah und romanisierte Bevölkerungsreste noch eine gewisse Zeit überlebten, bis sie schließlich von den germanischen Eroberern aufgesogen wurden.

Erstaunlich ist schließlich die Tatsache, dass im Moselraum eine romanische Sprachinsel bis ins 11. Jh. (!) überdauerte, deren Bewohner ihre eigene Sprache, nämlich Moselromanisch, sprachen. https://de.wikipedia.org/wiki/Moselromanische_Sprache
Ruaidhri
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Erstaunlich ist schließlich die Tatsache, dass im Moselraum eine romanische Sprachinsel bis ins 11. Jh. (!) überdauerte, deren Bewohner ihre eigene Sprache, nämlich Moselromanisch, sprachen.
Hm, und bis in unsere Zeit hinein gibt es in der Region Trier verstärkt einen Phänotyp von Menschen, der einem unwillkürlich " römisch-italisch" in den Sinn kommen lässt. Nein, nicht nur in Eisdielen und Pizzerien, :) sind auch keine neuzeitlichen Zuwanderer, sondern alteingessene Familien.
Hätte das Imperium Romanum trotz seines Zerfalls und Untergangs nicht doch in vieler Hinsicht tiefe Spuren hinterlassen, so wäre nicht am Ende so viel in eine neu entstehende Form eingeflossen.
Der Handel, zumindest der an Städte gebundene, kam zwar fast zum Erliegen, aber nie völlig, und dass es, auf welchem Wege auch immer, Austausch zwischen Nord und Süd weiterhin gab, ist sicher. Ein bisschen Rom überlebte lang genug, oder, wie ein Prof es mal ausdrückte, "der Knochen römischer Zivilisation war tief vergraben, aber nicht tief genug, als dass spätere Generationen ihn nicht wieder in Fragmenten ausgraben konnten."
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LG Ruaidhri
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Der "Kulturverfall" nach dem Ende des Römischen Reiches im Westen, ist ein extrem spannendes Kapitel der Weltgeschichte.

Meine Vermutung ist nicht das da irgendwelche großangelegten Abzüge der Grund waren. Wohin wären die Leute gezogen?
Ich denke eher das sich die Kultur im Laufe der Zeit verändert hat. Rom konnte im 5. Jahrhundert den Schutz der Grenzen nicht mehr gewährleisten. Und auch im "Zentrum des Reiches" gab es immer wieder Auseinandersetzungen. Die Städte in den Provinzen haben sich dadurch mit der Zeit verändert. Investitionen in Dinge wie z.B. die berühmten Römischen Thermen ginge stark zurück, da nutze man lieber das Geld das man über hatte für den Schutz der jeweiligen Stadt. Als dann lokale Germanenherrscher das Gebiet des einstigen Rom beherrschten war Straßenbau für diese auch nicht mehr wirklich interessant. Und so verfiel etliches. Viele der Städter zogen sich im Lauf der Zeit in besser Geschützte Lagen usw. zurück.
Das ist für mich der Grund warum sich damals vieles aufhörte. Und in stürmischen Zeiten wie damals wurden große Denker usw. wohl auch weniger Gefördert. So fand man den Weg ins "Mittelalter". 

Wie hoch man die Maßnahmen Karls des Großen einschätzen konnte ist für mich schwer zu sagen.

Interessant ist auch immer die Überlegenheit der Araber gegenüber der Kultur Europas im frühen Mittelalter. Hier gibt's wohl 2 Dinge zu beachten. Erstens: der Kulturaustausch durch ein damals bestehendes Arabischen Großreich (Omijadenreich) und zweitens das sich auf dem Boden des Omijadenreichs, schon vorher, relativ weit Entwickelte Gebiete befanden. Darunter das Reich der Sassaniden (Persien), die Syrischen Gebiete von Byzanz und Nordafrika (das zuvor Byzanz gehörte und ja schon in der Zeit vor den Wandalen zum "Zentrum Roms") gehört hatte.
Romolus
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Coole Zusammenfassung ;) Danke für Übersicht. Die speicher ich mir auf jeden Fall ab. 
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