Reiseberichte
Verfasst: 23.05.2014, 12:44
Nachdem wir im Forum ja schon eine Rubrik über Heimatkunde haben und nun sogar auch eine über die Führungsebene eingeführt wurde, dachte ich mir, das man vielleicht auch eine einrichten könnte, in der jeder über seine Reiseerlebnisse erzählen kann. Bald ist Urlaubszeit und vielleicht hat noch nicht jeder eine Vorstellung davon, wo er hinfahren möchte und bekommt möglicherweise jetzt eine Anregung. Sicherlich hat schon jeder etwas erlebt und es wäre gut, wenn ein Zusammenhang mit Geschichte und Politik hergestellt werden könnte. Ich habe gestern in meinen Archiven gewühlt und viele alte Aufzeichnungen von mir gefunden. Ich fang einfach einmal an mit einem Bericht über Schweden.
Zwischen Malmö und Kopenhagen 1971
In Malmö herrschte ein Sauwetter. Es regnete in Strömen, dazu blies ein unangenehmer Wind von der Ostsee her. Aufhalten wollte ich mich in der Stadt aber ohnehin nicht, sondern gleich mit der Fähre nach Kopenhagen weiterfahren. Der Bahnhof lag direkt an einem Wasserarm, der mit der Ostsee verbunden war. Von dort war es dann kein allzu langer Fußmarsch mehr zu den Anlegestellen in dem Hafen, von denen auch die Fähren nach Dänemark ablegten.
Die Fähren nach Kopenhagen fuhren dreimal am Tag und ich musste nicht allzu lange warten. Ich hatte umgerechnet ungefähr 10,- DM bezahlen. Nicht gerade preiswert für die kleine Fahrt von nicht einmal einer Stunde, aber an die hohen Preise in Skandinavien musste man sich allmählich gewöhnen. Die Kontrollen waren ausgesprochen lax, die Beamten machten sich nicht die Mühe, die Pässe zu kontrollieren, sondern winkten die Reisenden nur durch.
Ich lief ein wenig in dem Schiff herum, das sich schnell mit ziemlich vielen Menschen füllte und bald reichlich voll war. Ich ließ mich in der Bar an einem Tisch nieder, an dem noch niemand saß. Das sollte allerdings nicht lange so bleiben.
Zwei leicht angetrunkene Schweden, ein schlanker Typ mit einem fetten Begleiter, vermutlich Ende Zwanzig, kamen zu meinem Tisch und fragten mich in einem tadellosen Deutsch:
„Hej, dürfen wir uns zu dir setzen?“
Nanu, gleich so ein vertrauliches Du? Kannten wir uns etwa? Dann fiel mir ein, dass die Schweden sich immer gegenseitig duzen und nicht so förmlich drauf sind wie bei uns.
„Na klar, die beiden Stühle sind frei“. Sie setzten sich. Der Fette hatte damit ein Problem, beinahe wäre er wieder vom Stuhl gefallen. Ja, ja, der Schnaps, der ist vom Teufel.
Dann fing er sich wieder und stellte sich vor:
„Ich heiße Larsen und das ist Frederik. Du kommst wohl aus Deutschland, oder?“
Woran sieht man das eigentlich immer? Tragen wir ein Schild um den Hals mit der Aufschrift: Ich bin deutsch? Gibt es doch so etwas wie ein deutsches Wesen, an dem zwar nicht die Welt genesen soll, das uns aber irgendwie einmalig macht? Ich jedenfalls spüre es im Ausland auch immer, wenn ich einen Landsmann treffe. Schon wenn ich einen von weitem sehe, klingelt es bei mir im Kopf und ich weiß: der kommt aus Deutschland und so ist dann auch immer. Wieso? Kein Mensch kann das sagen. Ist eben so.
„Ja, stimmt, ich komm aus Hamburg. Bin zu Besuch.“ Und dann stellte er die unvermeidliche Frage:
„Warum hast du denn so lange Haare? Gehörst du auch zu den Kiffern? Rauchst du dieses Scheißzeug?“
Immer diese dumme Anmache. Das kannte ich aus Deutschland. Null Toleranz, viele hatten eine politische Gesinnung irgendwo zwischen Heinrich Himmler und Dschingis Khan, jedenfalls dann, wenn es um lange Haare bei Männern ging. Also präsentierte ich meine Standardantwort.
„Nee, nee, tue ich nicht. Mir ist immer am Kopf so kalt, deshalb. Spar ich mir die Mütze.“
„Ah, ja, klar, verstehe.“ Frederik grinste. Dann fuhr er fort:
„Wir beide machen Urlaub in Malmö. Aber das Beste in Malmö ist die Fähre nach Kopenhagen. Hier kannst du mal so richtig saufen. Bei uns zu Hause in Stockholm geht das ja nicht. Wir fahren den ganzen Tag immer zwischen Kopenhagen und Malmö, immer hin und her, solange bis wir voll sind. Nach der letzten Fähre ab ins Hotel und am nächsten Morgen geht es wieder los. Eine Woche lang. Alle hier machen das. Guck mal an die Bar. Die Typen hängen hier jeden Tag rum. Nach einiger Zeit kennst du die alle.“
„Das ist ja ein toller Urlaub. Und sonst macht ihr nichts?“
Der Schlanke, Larsen, mischte sich jetzt aufgeregt ein:
„Wieso, was dagegen? Besser als kiffen und monatelang gammeln.“
Ich fühlte mich nicht getroffen:
„Ich hab zwar lange Haare, aber ich kiffe nicht, gammeln tu ich auch nicht. Alles ganz normal.“
Er beruhigte sich wieder:
„Ich schon gut, okay. Manchen gefällt das nicht, was wir so machen, dieses Saufen, weißt du. Viele regen sich darüber auf. Aber heimlich schlucken sie doch alle, alle Schweden saufen.“
Ich hatte davon gehört und wusste das aus eigener Erfahrung. Hamburg wurde regelmäßig überschwemmt mit betrunkenen Skandinaviern. Kaum hatten sie die deutsche Grenze überschritten, fielen alle Hemmungen. Auf der Reeperbahn in St. Pauli torkelten sie herum und grölten in ihrem harten, unverständlichen Idiom. Die meisten Leute hören mit dem Saufen auf, wenn sie ihren Durst gestillt haben, die Schweden fangen aber dann erst an.
Die Schweden hatten allerdings schon seit Jahrhunderten ein Alkoholproblem. Im 19. Jahrhundert hätte sich die Bevölkerung beinahe totgesoffen. Ein Herr Bratt führte daher 1917 das nach ihm benannte Bratt-System ein, eine strenge Rationierung des Alkohols. 3 Liter Schnaps pro Monat waren Männern und unverheirateten Frauen erlaubt, was ich gar nicht einmal so wenig finde. 1955 wurde die Rationierung abgeschafft, aber um den Leuten das Saufen zu verleiden, wurde Alkohol extrem hoch besteuert, konnte nur in bestimmten Läden gekauft werden, die lediglich einige Stunden am Tag geöffnet waren und vor denen sich dann ständig lange Käuferschlangen bildeten, so wie in den Ostblock-Staaten, nur dass die Leute dort ja wegen jedem Kleinkram anstehen müssen. (Ab 1995, seit dem Beitritt Schwedens zur EU, wurde der Handel mit Alkohol etwas liberalisiert).
Larsen fuhr fort und präsentierte mir unverlangt einen kleinkarierten Geschichtsunterricht:
„Die Schweden waren bis vor kurzem alle Bauern und die meisten sind das auch heute noch, jedenfalls im Kopf, haben nichts dazugelernt.“
Ich stellte sie mir gerade vor, diese beiden Typen. Angekleidet mit einem langen, gestreiften Schnürhemd und Schnürbundhose, barfuß oder mit Schnabelschuhen. Ein Holzpflug mit einem Pferd davor gespannt, sich abplagend und ständig Flüche von sich geben. Bauerntrampel oder kräftige Naturburschen? Keins von beidem. Sie arbeiteten wahrscheinlich in einem Büro. Ich schielte zu ihren Händen. Keine Hände von Arbeitern, vermutlich stemmten sie allenfalls Kugelschreiber in irgendeinem Office.
Larsen plauderte munter weiter:
„In den Dörfern hielten sich alle für furchtbar wichtig. Jeder glaubte, er hätte was zu sagen, alle quatschten durcheinander und nervten damit die Nachbarn. Demokratie nennt man das wohl, wenn alle quatschen und sich wichtig nehmen, oder?“
„Möglich.“ Jetzt nur keine politischen Grundsatzdiskussionen.
„In einer Diktatur quatscht nur einer und die anderen müssen die Fresse halten. Eigentlich gar nicht so schlecht.“
Eines war klar, mit dem dämlichen Gesabbel würde Larsen von jedem deutschen Stammtisch begeistert aufgenommen werden.
„Ihr hattet doch auch einmal so einen gehabt. Mit einem Schnauzbart. Wie hieß der doch gleich?“
„Adolf Hitler?“
„Genau, den mein ich. Was macht der jetzt eigentlich?“
Die Frage war mehr als verblüffend. Was sollte man darauf antworten? Ich druckste ein wenig herum:
„Ja, ich glaube, der ist tot. Die Leiche wurde aber nie gefunden.“
„Ach so? Ist nicht schade um den. Ihr hattet doch auch noch so einen Alten. Den habe ich immer im Fernsehen gesehen. Der regierte doch ewig.“
„Konrad Adenauer?“
„Richtig. So hieß der alte Knabe. Und wo ist der geblieben?“
„Der ist auch tot. Wir haben jetzt einen Neuen, Willy Brandt, der war lange in Norwegen.“
„Ihr habt jetzt einen Norweger als Kanzler? Junge, wer hätte das gedacht.“
Ich hatte keine Lust mehr auf diesen Blödsinn. Die beiden waren nicht nur besoffener als ich dachte, sondern auch noch völlig hirnfrei und so dumm, dass sie die Schweine beißen. Außerdem hatten sie von nichts eine Ahnung, redeten nur dusseliges Zeug.
Der dicke Frederik quälte sich aus seinem Stuhl und sagte: „Ich hole mal ein paar Biere. Willst du auch eins?“ Ich schüttelte mit dem Kopf.
Larsen fing wieder an zu dozieren:
„Um noch einmal auf die Bauern zu kommen. In den Dörfern gönnte keiner dem anderen etwas. Hattest du ein bisschen mehr als der Nachbar, schon gab es Gerede, Neid, Missgunst. Du musstest alles verstecken, nur nicht auffallen.“
Frederik war zurückgekommen und stellte das Bier auf den Tisch. Den Schluss von Larsens Rede hatte er noch mitbekommen und mischte sich jetzt ein:
„Ja, und deshalb glaubt alle Welt, wir Schweden seien so sozial und demokratisch, ein Vorbild für die Welt. Sozial sind sie nur aus Neid und weil alle mitquatschen wollen, hält man das für Demokratie. Blödsinn. Gleich sind die Schweden nur, wenn sie nackt am Strand von Schonen herumlaufen, sonst haben sie alle ihre Kronen zu Hause, zeigen sie nur nicht, weil sie Angst haben. Angst vor Neidern.“
„Genau“, nun trumpfte auch Larsen auf, „aber selbst da am Strand sind sie nicht alle gleich. Erinnerst du dich an die beiden hässlichen Weiber im letzten Urlaub? Die sollten da gar nicht hin dürfen. Ein Bürgermeister hat neulich gefordert, das nur schöne Menschen nackt am Strand herumlaufen sollen, die Hässlichen aber nicht. Aber wer will das entscheiden, wer ist schön, wer nicht?“
„Na, wer schon, ich natürlich!“ Frederik fing an zu prusten und verschüttete ein klein wenig von seinem Bier.
„Ich melde mich freiwillig. Alle Frauen müssen erst einmal zu mir kommen und ich entscheide das dann.“ Vor Lachen konnte er sich kaum noch halten. Dann begann er sich umzusehen.
„Ich hau mal wieder ab. Mal sehen, ob ich irgendwo noch eine Alte aufreißen kann. Wenn ich Glück habe, krieg ich sie ins Bett. Und wenn ich dann ganz viel Glück habe, ist sie vor dem Frühstück schon wieder verschwunden.“
Ich hatte die Schnauze voll von diesen Dumpfbacken. Es gelang mir unter Vorwänden, die Bar zu verlassen und ich stromerte weiter durchs Schiff. Viel zu sehen gab es nicht. Etliche Passagiere hatten zu viel von dem billigen Schnaps konsumiert, für die meisten war das ja auch der wichtigste Grund, um die Fähre zu benutzen. Vor dem Duty Free Shop standen lange Schlangen und die kaufwillige Meute blickte nervös auf die Uhr.
Für die 27 km brauchte die Fähre nicht einmal eine Stunde, also war Eile geboten. Whiskey gab es im Angebot, Johnnie Walker zum Beispiel oder Jack Daniel’s. Nichts für mich. Ich trank nur Soft Drinks, Bier oder Wein, keine harten Sachen. Und es gab natürlich jede Menge Zigaretten. Saufen und Qualmen, ist das Leben nicht schön? Die Skandinavier nutzten jede Möglichkeit, um der staatlichen Bevormundung ein Schnippchen zu schlagen, denn die hohen Moralvorstellungen der Politiker, die sich ein Volk von Abstinenzlern wünschten, stießen bei der einfachen Bevölkerung nur auf begrenzte Zustimmung.
Aber es gab natürlich auch jede Menge Touristen an Bord und Schweden, die in Kopenhagen arbeiteten. (Seit dem Jahr 2000 gibt es die Öresundbrücke, eine gute Alternative für Pendler. Die Fähren gehören jetzt nahezu ausschließlich den Touristen und Säufern).
Übrigens, die eigenwillige Geschichtsinterpretation der beiden schwedischen Kollegen auf dem Schiff hatte mich neugierig gemacht. Ich stöberte später in Geschichtsbüchern und fand folgendes heraus:
In Schweden hatte es zwar auch eine Aristokratie gegeben und das Land ist ja auch noch immer eine Monarchie, auch wenn der König heute nicht viel zu sagen hat. Aber ein großer Teil der Bauern war frei und unabhängig gewesen. In ihren Dörfern entschied die Dorfversammlung über die wichtigsten Gemeinschaftsangelegenheiten und es existierte, anders als bei uns, kein Feudalherr, der alles entschied und von dem sie abhängig waren. Auch gab es zwischen den Bauern keine allzu großen Vermögensunterschiede. Diese beiden Faktoren, freie Bauern und weitgehende Vermögensgleichheit bildeten die Grundlagen für die Demokratie und die egalitäre Gesellschaftsstruktur, die allerdings nur in der Theorie existiert, denn Arm und Reich gibt es in Schweden auch. Nur zeigt man den Reichtum nicht so gerne, damit machte man sich keine Freunde.
Die Fähre landete endlich in Kopenhagen und hier lernte ich schon bald neue, merkwürdige Zeitgenossen kennen. Das ist aber ein anderes Thema.
Zwischen Malmö und Kopenhagen 1971
In Malmö herrschte ein Sauwetter. Es regnete in Strömen, dazu blies ein unangenehmer Wind von der Ostsee her. Aufhalten wollte ich mich in der Stadt aber ohnehin nicht, sondern gleich mit der Fähre nach Kopenhagen weiterfahren. Der Bahnhof lag direkt an einem Wasserarm, der mit der Ostsee verbunden war. Von dort war es dann kein allzu langer Fußmarsch mehr zu den Anlegestellen in dem Hafen, von denen auch die Fähren nach Dänemark ablegten.
Die Fähren nach Kopenhagen fuhren dreimal am Tag und ich musste nicht allzu lange warten. Ich hatte umgerechnet ungefähr 10,- DM bezahlen. Nicht gerade preiswert für die kleine Fahrt von nicht einmal einer Stunde, aber an die hohen Preise in Skandinavien musste man sich allmählich gewöhnen. Die Kontrollen waren ausgesprochen lax, die Beamten machten sich nicht die Mühe, die Pässe zu kontrollieren, sondern winkten die Reisenden nur durch.
Ich lief ein wenig in dem Schiff herum, das sich schnell mit ziemlich vielen Menschen füllte und bald reichlich voll war. Ich ließ mich in der Bar an einem Tisch nieder, an dem noch niemand saß. Das sollte allerdings nicht lange so bleiben.
Zwei leicht angetrunkene Schweden, ein schlanker Typ mit einem fetten Begleiter, vermutlich Ende Zwanzig, kamen zu meinem Tisch und fragten mich in einem tadellosen Deutsch:
„Hej, dürfen wir uns zu dir setzen?“
Nanu, gleich so ein vertrauliches Du? Kannten wir uns etwa? Dann fiel mir ein, dass die Schweden sich immer gegenseitig duzen und nicht so förmlich drauf sind wie bei uns.
„Na klar, die beiden Stühle sind frei“. Sie setzten sich. Der Fette hatte damit ein Problem, beinahe wäre er wieder vom Stuhl gefallen. Ja, ja, der Schnaps, der ist vom Teufel.
Dann fing er sich wieder und stellte sich vor:
„Ich heiße Larsen und das ist Frederik. Du kommst wohl aus Deutschland, oder?“
Woran sieht man das eigentlich immer? Tragen wir ein Schild um den Hals mit der Aufschrift: Ich bin deutsch? Gibt es doch so etwas wie ein deutsches Wesen, an dem zwar nicht die Welt genesen soll, das uns aber irgendwie einmalig macht? Ich jedenfalls spüre es im Ausland auch immer, wenn ich einen Landsmann treffe. Schon wenn ich einen von weitem sehe, klingelt es bei mir im Kopf und ich weiß: der kommt aus Deutschland und so ist dann auch immer. Wieso? Kein Mensch kann das sagen. Ist eben so.
„Ja, stimmt, ich komm aus Hamburg. Bin zu Besuch.“ Und dann stellte er die unvermeidliche Frage:
„Warum hast du denn so lange Haare? Gehörst du auch zu den Kiffern? Rauchst du dieses Scheißzeug?“
Immer diese dumme Anmache. Das kannte ich aus Deutschland. Null Toleranz, viele hatten eine politische Gesinnung irgendwo zwischen Heinrich Himmler und Dschingis Khan, jedenfalls dann, wenn es um lange Haare bei Männern ging. Also präsentierte ich meine Standardantwort.
„Nee, nee, tue ich nicht. Mir ist immer am Kopf so kalt, deshalb. Spar ich mir die Mütze.“
„Ah, ja, klar, verstehe.“ Frederik grinste. Dann fuhr er fort:
„Wir beide machen Urlaub in Malmö. Aber das Beste in Malmö ist die Fähre nach Kopenhagen. Hier kannst du mal so richtig saufen. Bei uns zu Hause in Stockholm geht das ja nicht. Wir fahren den ganzen Tag immer zwischen Kopenhagen und Malmö, immer hin und her, solange bis wir voll sind. Nach der letzten Fähre ab ins Hotel und am nächsten Morgen geht es wieder los. Eine Woche lang. Alle hier machen das. Guck mal an die Bar. Die Typen hängen hier jeden Tag rum. Nach einiger Zeit kennst du die alle.“
„Das ist ja ein toller Urlaub. Und sonst macht ihr nichts?“
Der Schlanke, Larsen, mischte sich jetzt aufgeregt ein:
„Wieso, was dagegen? Besser als kiffen und monatelang gammeln.“
Ich fühlte mich nicht getroffen:
„Ich hab zwar lange Haare, aber ich kiffe nicht, gammeln tu ich auch nicht. Alles ganz normal.“
Er beruhigte sich wieder:
„Ich schon gut, okay. Manchen gefällt das nicht, was wir so machen, dieses Saufen, weißt du. Viele regen sich darüber auf. Aber heimlich schlucken sie doch alle, alle Schweden saufen.“
Ich hatte davon gehört und wusste das aus eigener Erfahrung. Hamburg wurde regelmäßig überschwemmt mit betrunkenen Skandinaviern. Kaum hatten sie die deutsche Grenze überschritten, fielen alle Hemmungen. Auf der Reeperbahn in St. Pauli torkelten sie herum und grölten in ihrem harten, unverständlichen Idiom. Die meisten Leute hören mit dem Saufen auf, wenn sie ihren Durst gestillt haben, die Schweden fangen aber dann erst an.
Die Schweden hatten allerdings schon seit Jahrhunderten ein Alkoholproblem. Im 19. Jahrhundert hätte sich die Bevölkerung beinahe totgesoffen. Ein Herr Bratt führte daher 1917 das nach ihm benannte Bratt-System ein, eine strenge Rationierung des Alkohols. 3 Liter Schnaps pro Monat waren Männern und unverheirateten Frauen erlaubt, was ich gar nicht einmal so wenig finde. 1955 wurde die Rationierung abgeschafft, aber um den Leuten das Saufen zu verleiden, wurde Alkohol extrem hoch besteuert, konnte nur in bestimmten Läden gekauft werden, die lediglich einige Stunden am Tag geöffnet waren und vor denen sich dann ständig lange Käuferschlangen bildeten, so wie in den Ostblock-Staaten, nur dass die Leute dort ja wegen jedem Kleinkram anstehen müssen. (Ab 1995, seit dem Beitritt Schwedens zur EU, wurde der Handel mit Alkohol etwas liberalisiert).
Larsen fuhr fort und präsentierte mir unverlangt einen kleinkarierten Geschichtsunterricht:
„Die Schweden waren bis vor kurzem alle Bauern und die meisten sind das auch heute noch, jedenfalls im Kopf, haben nichts dazugelernt.“
Ich stellte sie mir gerade vor, diese beiden Typen. Angekleidet mit einem langen, gestreiften Schnürhemd und Schnürbundhose, barfuß oder mit Schnabelschuhen. Ein Holzpflug mit einem Pferd davor gespannt, sich abplagend und ständig Flüche von sich geben. Bauerntrampel oder kräftige Naturburschen? Keins von beidem. Sie arbeiteten wahrscheinlich in einem Büro. Ich schielte zu ihren Händen. Keine Hände von Arbeitern, vermutlich stemmten sie allenfalls Kugelschreiber in irgendeinem Office.
Larsen plauderte munter weiter:
„In den Dörfern hielten sich alle für furchtbar wichtig. Jeder glaubte, er hätte was zu sagen, alle quatschten durcheinander und nervten damit die Nachbarn. Demokratie nennt man das wohl, wenn alle quatschen und sich wichtig nehmen, oder?“
„Möglich.“ Jetzt nur keine politischen Grundsatzdiskussionen.
„In einer Diktatur quatscht nur einer und die anderen müssen die Fresse halten. Eigentlich gar nicht so schlecht.“
Eines war klar, mit dem dämlichen Gesabbel würde Larsen von jedem deutschen Stammtisch begeistert aufgenommen werden.
„Ihr hattet doch auch einmal so einen gehabt. Mit einem Schnauzbart. Wie hieß der doch gleich?“
„Adolf Hitler?“
„Genau, den mein ich. Was macht der jetzt eigentlich?“
Die Frage war mehr als verblüffend. Was sollte man darauf antworten? Ich druckste ein wenig herum:
„Ja, ich glaube, der ist tot. Die Leiche wurde aber nie gefunden.“
„Ach so? Ist nicht schade um den. Ihr hattet doch auch noch so einen Alten. Den habe ich immer im Fernsehen gesehen. Der regierte doch ewig.“
„Konrad Adenauer?“
„Richtig. So hieß der alte Knabe. Und wo ist der geblieben?“
„Der ist auch tot. Wir haben jetzt einen Neuen, Willy Brandt, der war lange in Norwegen.“
„Ihr habt jetzt einen Norweger als Kanzler? Junge, wer hätte das gedacht.“
Ich hatte keine Lust mehr auf diesen Blödsinn. Die beiden waren nicht nur besoffener als ich dachte, sondern auch noch völlig hirnfrei und so dumm, dass sie die Schweine beißen. Außerdem hatten sie von nichts eine Ahnung, redeten nur dusseliges Zeug.
Der dicke Frederik quälte sich aus seinem Stuhl und sagte: „Ich hole mal ein paar Biere. Willst du auch eins?“ Ich schüttelte mit dem Kopf.
Larsen fing wieder an zu dozieren:
„Um noch einmal auf die Bauern zu kommen. In den Dörfern gönnte keiner dem anderen etwas. Hattest du ein bisschen mehr als der Nachbar, schon gab es Gerede, Neid, Missgunst. Du musstest alles verstecken, nur nicht auffallen.“
Frederik war zurückgekommen und stellte das Bier auf den Tisch. Den Schluss von Larsens Rede hatte er noch mitbekommen und mischte sich jetzt ein:
„Ja, und deshalb glaubt alle Welt, wir Schweden seien so sozial und demokratisch, ein Vorbild für die Welt. Sozial sind sie nur aus Neid und weil alle mitquatschen wollen, hält man das für Demokratie. Blödsinn. Gleich sind die Schweden nur, wenn sie nackt am Strand von Schonen herumlaufen, sonst haben sie alle ihre Kronen zu Hause, zeigen sie nur nicht, weil sie Angst haben. Angst vor Neidern.“
„Genau“, nun trumpfte auch Larsen auf, „aber selbst da am Strand sind sie nicht alle gleich. Erinnerst du dich an die beiden hässlichen Weiber im letzten Urlaub? Die sollten da gar nicht hin dürfen. Ein Bürgermeister hat neulich gefordert, das nur schöne Menschen nackt am Strand herumlaufen sollen, die Hässlichen aber nicht. Aber wer will das entscheiden, wer ist schön, wer nicht?“
„Na, wer schon, ich natürlich!“ Frederik fing an zu prusten und verschüttete ein klein wenig von seinem Bier.
„Ich melde mich freiwillig. Alle Frauen müssen erst einmal zu mir kommen und ich entscheide das dann.“ Vor Lachen konnte er sich kaum noch halten. Dann begann er sich umzusehen.
„Ich hau mal wieder ab. Mal sehen, ob ich irgendwo noch eine Alte aufreißen kann. Wenn ich Glück habe, krieg ich sie ins Bett. Und wenn ich dann ganz viel Glück habe, ist sie vor dem Frühstück schon wieder verschwunden.“
Ich hatte die Schnauze voll von diesen Dumpfbacken. Es gelang mir unter Vorwänden, die Bar zu verlassen und ich stromerte weiter durchs Schiff. Viel zu sehen gab es nicht. Etliche Passagiere hatten zu viel von dem billigen Schnaps konsumiert, für die meisten war das ja auch der wichtigste Grund, um die Fähre zu benutzen. Vor dem Duty Free Shop standen lange Schlangen und die kaufwillige Meute blickte nervös auf die Uhr.
Für die 27 km brauchte die Fähre nicht einmal eine Stunde, also war Eile geboten. Whiskey gab es im Angebot, Johnnie Walker zum Beispiel oder Jack Daniel’s. Nichts für mich. Ich trank nur Soft Drinks, Bier oder Wein, keine harten Sachen. Und es gab natürlich jede Menge Zigaretten. Saufen und Qualmen, ist das Leben nicht schön? Die Skandinavier nutzten jede Möglichkeit, um der staatlichen Bevormundung ein Schnippchen zu schlagen, denn die hohen Moralvorstellungen der Politiker, die sich ein Volk von Abstinenzlern wünschten, stießen bei der einfachen Bevölkerung nur auf begrenzte Zustimmung.
Aber es gab natürlich auch jede Menge Touristen an Bord und Schweden, die in Kopenhagen arbeiteten. (Seit dem Jahr 2000 gibt es die Öresundbrücke, eine gute Alternative für Pendler. Die Fähren gehören jetzt nahezu ausschließlich den Touristen und Säufern).
Übrigens, die eigenwillige Geschichtsinterpretation der beiden schwedischen Kollegen auf dem Schiff hatte mich neugierig gemacht. Ich stöberte später in Geschichtsbüchern und fand folgendes heraus:
In Schweden hatte es zwar auch eine Aristokratie gegeben und das Land ist ja auch noch immer eine Monarchie, auch wenn der König heute nicht viel zu sagen hat. Aber ein großer Teil der Bauern war frei und unabhängig gewesen. In ihren Dörfern entschied die Dorfversammlung über die wichtigsten Gemeinschaftsangelegenheiten und es existierte, anders als bei uns, kein Feudalherr, der alles entschied und von dem sie abhängig waren. Auch gab es zwischen den Bauern keine allzu großen Vermögensunterschiede. Diese beiden Faktoren, freie Bauern und weitgehende Vermögensgleichheit bildeten die Grundlagen für die Demokratie und die egalitäre Gesellschaftsstruktur, die allerdings nur in der Theorie existiert, denn Arm und Reich gibt es in Schweden auch. Nur zeigt man den Reichtum nicht so gerne, damit machte man sich keine Freunde.
Die Fähre landete endlich in Kopenhagen und hier lernte ich schon bald neue, merkwürdige Zeitgenossen kennen. Das ist aber ein anderes Thema.