Türkei nach Atatürk: Kampf Fortschritt gegen Rückschritt

Diskussionen über die Nicht-Mitgliedstaaten der EU

Moderator: Barbarossa

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Marek1964
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Diskussion von hier http://geschichte-wissen.de/forum/viewt ... 535#p37535, Klausurarbeit Dt. Südwestafrika (System Leutwein),

wird hier weitergeführt:
Jan H. hat geschrieben: Aber ein interessanter historischer Aufsatz liegt nach wie vor auf meinem Schreibtisch, worin es auch um den Einfluss von Sekten und Freimaurerlogen auf den Verlauf der türkisch-osmanischen Geschichte geht. Das würde ich hier gerne diskutieren, weil das auch in so gut wie keinem Geschichtsbuch drankommt und sich nur sehr wenige Menschen mit diesen Perspektiven bisher beschäftigt haben (zumindest in schriftl. Form).

Atatürk verehrt? Unter dem Gesichtspunkt ISIS (Islamischer Staat) wurde gestern der Artikel "Sie kennen nur einen Souverän" von Wolfgang G. Lerch in der F.A.Z. veröffentlicht, ad hoc zu diesem Thread. ;-)
Darin schreibt er, dass sich Atatürk unter vielen Islamisten und Dschihadisten zu einer "Hassfigur" entwickelt hat, da er schließlich als Gründervater des säkularisierten Nationalstaats Türkei gilt - an die höchste Stelle Gottes tritt der Staat ("schirk", die "Beigesellung" anderer Wesen neben Gott). Wer im Nahen/Mittleren Osten aktuell ein Kalifat errichten will, steht wohl außer Frage...
Sehr bedenkliche Entwicklung. Aber es scheint halt einfach unvermeidlich zu sein: Beim Islam gibt es keinen noch so alten Fortschritt, dass er nicht von den Fundamentalisten in Frage gestellt wird. Es gibt hier ja so einige Islamthreads, auch "Koran - Lesererfahrungen" http://geschichte-wissen.de/forum/viewt ... ilit=Koran, auch andere.
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Triton
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Atatürk war kein Islam-Gegner, das wäre absurd. Er hat nur erkannt, dass Staat und Religion getrennt werden müssen, wenn die Türkei den Anschluß an moderne Staaten nicht verlieren soll. Der Staat ersetzt bei Atatürk nicht Gott, die Gesetze der Türkei werden auf dem islamischen Wertesystem aufbauen so wie die Gesetze westlicher Demokratien auf den zehn Geboten basieren.
"Tatsachen schafft man nicht dadurch aus der Welt, in dem man sie ignoriert." (Aldous Huxley)
Jan H.
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Säkularismus ist ja eigentlich eine "gesunde Mittelstufe" zwischen Laizismus, Klerikalismus und Theokratie - aber für manche Fundamentalisten reicht selbst diese Brücke nicht aus... ich finde "Rückschritt" in der Thread-Überschrift daher auch sehr passend, denn eine dergleich fundamentalistische Ansicht zeugt nicht von sonderlich viel Offenheit und Toleranz... (zumal wenn sie mit solcher Brutalität durchgesetzt wird)
Hinweis: Nicht zu verwechseln mit dem User "Jan".
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Marek1964
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Jan H. hat geschrieben:Säkularismus ist ja eigentlich eine "gesunde Mittelstufe" zwischen Laizismus, Klerikalismus und Theokratie - aber für manche Fundamentalisten reicht selbst diese Brücke nicht aus... ich finde "Rückschritt" in der Thread-Überschrift daher auch sehr passend, denn eine solch fundamentalistische Ansicht zeugt nicht von sonderlich viel Offenheit und Toleranz...
Genauso etwas wollte ich eigentlich auch posten, aber Du hast es in perfekte Worte gefasst!

Für die Fundamentalisten gilt eben, wer nicht für uns ist, ist gegen uns. Aber Basis ist eben, auch wenn das viele politisch korrekte Europäer nicht wahrhaben wollen, der Koran, der Intoleranz lehrt, und der "islam", der eigentlich "der rechte Glaube" bedeutet. Dadurch ist nie Platz für irgendetwas anderes - nicht für Nächstenliebe und nicht für den "Sauerteig der Gerechten", den das Judentum kennt.

Einzig aus Pragmatismus ist der Islam bereit Konzessionen zu machen - das hat aber eben keine theoretische Grundlage und kann deshalb jederzeit wieder rückgängig gemacht werden - wie, so scheint es leider, selbst die Türkei, eigentlich der modernste Staat mit islamischer Mehrheit, zu zeigen scheint.
RedScorpion

Immer wenn's um den Islam geht, hab ich den Eindruck, dann gehen die Pferde mit der Phantasie nicht weniger User durch, um's gelinde auszudrücken.

:wtf:


:?:



LG
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Orianne
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Triton hat geschrieben:Atatürk war kein Islam-Gegner, das wäre absurd. Er hat nur erkannt, dass Staat und Religion getrennt werden müssen, wenn die Türkei den Anschluß an moderne Staaten nicht verlieren soll. Der Staat ersetzt bei Atatürk nicht Gott, die Gesetze der Türkei werden auf dem islamischen Wertesystem aufbauen so wie die Gesetze westlicher Demokratien auf den zehn Geboten basieren.
Das sehe ich auch so, ich weiss, dass Atatürk viel über Napoleon las.
Grant stood by me when I was crazy, and I stood by him when he was drunk, and now we stand by each other.

General William Tecumseh Sherman
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Triton
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RedScorpion hat geschrieben:Immer wenn's um den Islam geht, hab ich den Eindruck, dann gehen die Pferde mit der Phantasie nicht weniger User durch, um's gelinde auszudrücken.
Hier wird doch recht sachlich und ohne allzu viele Allgemeinplätze gepostet, keine Ahnung, was der Einwurf hier soll. Es ist doch hochinteressant, dass der Gründer der modernen Türkei heute zunehmend Geringschätzung in seiner Heimat erfährt. In anderen (Nachbarstaaten) war er übrigens schon länger verachtet, aber hauptsächlich wegen seiner Erfolge in der Stabilisierung der Türkei und dessen Zuwendung zu Europa. "Der kranke Mann am Bosporus" ist seit Atatürk einer der wenigen, wirklich verlässlichen Staaten der Region. Wobei das in den letzten Jahren stark nachgelassen hat.

Der Hinweis auf Napoleon (code civil) ist gut.
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dieter
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lieber Joerg,
ganz Deiner Meinung. Hoffentlich war die Arbeit von Kemal Pascha in der Türkei nicht umsonst. :roll:
Was Du nicht willst, dass man Dir tu, das füg auch keinem Andern zu.
RedScorpion

Triton hat geschrieben:
RedScorpion hat geschrieben:Immer wenn's um den Islam geht, hab ich den Eindruck, dann gehen die Pferde mit der Phantasie nicht weniger User durch, um's gelinde auszudrücken.
Hier wird doch recht sachlich und ohne allzu viele Allgemeinplätze gepostet, keine Ahnung, was der Einwurf hier soll.
...
Bezog sich diesmal auf den Vorposter, der ja gemeinhin für eine ausgewogene Haltung bekannt ist. Interessanterweise schliesst er sich bei dem Thema "Islam" aber eher Dieter an.


Zum Thema: Ich denke nicht, dass es haltbar ist zu behaupten (wie Atatürk, aber das waren eben andere Zeiten), dass der Islam nicht mit Laizität/Laizismus/Säkularismus bzw. der Moderne zu vereinbaren ist.
Sicherlich zieht sich der politische Islam, entstanden aus der (unterdrückten) Opposition gegen Kolonialismus und meist pro-westliche Einparteiendespotie, vielfach so an (wie war das doch gleich mit Al-Baghdadis Rolex da am Handgelenk? :wink: ). Aber das ist meist mehr Schein als Sein, und gilt schon gar nicht allgemeingültig für "den Islam".



LG
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Marek1964
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RedScorpion hat geschrieben:
Triton hat geschrieben:
RedScorpion hat geschrieben:Immer wenn's um den Islam geht, hab ich den Eindruck, dann gehen die Pferde mit der Phantasie nicht weniger User durch, um's gelinde auszudrücken.
Hier wird doch recht sachlich und ohne allzu viele Allgemeinplätze gepostet, keine Ahnung, was der Einwurf hier soll.
...
Bezog sich diesmal auf den Vorposter, der ja gemeinhin für eine ausgewogene Haltung bekannt ist. Interessanterweise schliesst er sich bei dem Thema "Islam" aber eher Dieter an.

LG
Beim Thema Islam befinden sich nicht nur Dieter, sondern auch Titus Feuerfuchs mit mir auf einer Linie. Und so mancher andere, der mit diesen Leuten auch in Europa seine eigenen Erfahrungen gemacht hat.

Ja, ausgewogene Haltung habe ich dort, wo sie angemessen ist. Kompromisslos, dort wo Kompromisslosigikeit notwendig ist. Political Correctness hat leider oft (aber nicht immer) die Schwäche, eine Art Neuauflage des Appeasements zu sein. Und dass ich kein Freund des Appeasements bin, ergibt sich aus dem hier

http://geschichte-wissen.de/zeitgeschic ... ommen.html und meine Bewunderung für Winston Churchill, der sich "Herr Hitler" kompromisslos gezeigt hat hier
http://geschichte-wissen.de/forum/viewt ... 546#p37523 zum Ausdruck gebracht .

In einem Teil der Political Correctness Interpretation meint man, durch Nachsicht irgendwelche Vorteile zu gewinnen - genauso wie beim Appeasement. Aber es sind immer nur Nachteile.
RedScorpion

Siehste, Triton, da hasses. :wink:

Findste das noch rational irgendwo?

Ich nicht, ehrlich gesacht,

denn abgesehen davon, dass auch Teile des Christentums zum heutigen Tage teilweise alles andere als aufgeklärt dahertraben, mit z.T. auch gravierenden politischen Folgen, s. Neocons und protestantischer Fundamentalismus z.B.,
ist doch die Gleichsetzung Islam oder überhaupt Glaube - Verschliessung vor der Moderne/Fundamentalismus/Gewaltbereitschaft sicherlich nicht immer ganz falsch, meist aber meilenweit daneben,

wie halt eben auch die Gleichung Mensch - Verschliessung vor der Moderne/Fundamentalismus/Gewaltbereitschaft
oder Skateboardfahrer - Verschliessung vor der Moderne/Fundamentalismus/Gewaltbereitschaft oder was auch immer.

Sicherlich spielt dem Islam nicht gerade in die Hände, dass er keine Kirche ist, nicht mit einer Stimme spricht bzw.Würdenträger keine administrativen und eigentlich auch keine politische Macht haben. Macht ihn aber streng genommen sympathischer.


P.S. Den Parallelismus NS-Islam ham mer amoal grosszügig überlesen.
:wink:

Und: Titus wer? :mrgreen:


LG
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Titus Feuerfuchs
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Marek1964 hat geschrieben:[.. Political Correctness hat leider oft (aber nicht immer) die Schwäche, eine Art Neuauflage des Appeasements zu sein. Und dass ich kein Freund des Appeasements bin, ergibt sich aus dem hier

[...]

In einem Teil der Political Correctness Interpretation meint man, durch Nachsicht irgendwelche Vorteile zu gewinnen - genauso wie beim Appeasement. Aber es sind immer nur Nachteile.

Auf den (radikalen) Islam bezogen ist das zwar korrekt, im Allgemeinen teile ich diese Einschätzung der PC aber in dieser Form nicht.

Die PC ist eine neomarxistische Erfindung, um ein möglichst hohes Maß an gesellschaftlicher Egalität zu erreichen und die tradierten bürgerlichen Werte der westlichen Gesellschaft zu dekonstruieren. Es werden alle möglichen gesellschaftlichen Gruppen, die in das entsprechende Raster passen, für diese Ideologie instrumentalisiert, die die nicht hineinpassen diskreditiert.

Im anderen Forum gibt's einen langen Thread mit diesem Thema.
MfG,
Titus Feuerfuchs
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Marek1964
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Hier ein interessantes Interview mit Günther Walraff über die Situation in der Türkei. Der Auszug:

"Welt Online : Ditib hängt vom staatlichen türkischen Religionsdirektorat Diyanet ab und wird um Weisung nachgefragt haben. Wie sehen Sie die politische Situation in der Türkei?

Wallraff : Ich bezweifle, dass Akhanli ohne die große Öffentlichkeit und ohne diplomatische Bemühungen freigekommen wäre. Es gibt noch zahlreiche Gesinnungsprozesse in der Türkei. Da putzen Richter die Anwälte wie Mitangeklagte herunter. Heute, vor der Weltöffentlichkeit, war es ja rührend anzusehen, wie zuvorkommend so ein Richter sein kann.

Welt Online : Dann ist die europäische Kritik an der Türkei gerechtfertigt?

Wallraff : Gerade als Freund der Türkei kann man die Türkei gar nicht genug kritisieren. Die schleichende Islamisierung wagt bei uns in Deutschland kaum ein Politiker anzusprechen. Da gibt es Säuberungswellen, da werden laizistische Lehrer an den Schulen gegen islamische oder gar islamistische ausgewechselt, und um Erdogan herum gibt es Positionen, die mit dem Iran kokettieren. Es gibt auch Anerkennenswertes: Es wird nicht mehr systematisch in Gefängnissen gefoltert. Grundsätzlich muss man der Türkei die EU-Mitgliedschaft in Aussicht stellen, aber ihr nicht nur wirtschaftliche Mindeststandards abverlangen, sondern vor allem die Einhaltung der Menschenrechte. "

http://www.welt.de/kultur/literarischew ... Moral.html
Jan H.
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Interessant.
Hinweis: Nicht zu verwechseln mit dem User "Jan".
Spartaner
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Erdogan will am 10. August Präsident werden, wenn das Staatsoberhaupt erstmals direkt vom Volk und nicht mehr vom Parlament bestimmt wird.
Der Gaza - Krieg kam zynisch gesagt für Erdogan zum richtigen Zeitpunkt. Seine Israel -Rhetorik ist auch glechzeitig Wahlpropaganda. Seine Botschaft ist zugleich simpel wie simpel: " Wenn ihr mich jetzt ncht wählt, dann hat Israel, hat das Böse gewonnen." Frankfurter Rnundschau 29/30. Juni
Auch die Stimmen der Kurden in Ostanatolien versucht sich Erdogan zu sichern. Den Unabhängigkeitsbestrebungen der Kurden im Irak hat Erdogan aus gutem Grunde nur tatenlos zugesehen. Auch deshalb liegt er in den kurdischen Gebieten der Türkei vorn.
Zwar hat Erdogan mehr, als jeder andere türkische Ministerpräsident vor ihn, für die Kurden getan, z.B. Anerkennung der kurdischen Sprache, kurdischer Unterricht in Schulen, kurdische Radio- und Fernsehsender, aber die Kurden haben sich das auch hart erkämpfen müssen. Es waren keine Geschenke von Erdogans Gnaden.
Auch auf die Stimmen aus Deutschland kann sich Erdogan freuen, sind es doch die armen Bewohner aus Anatolien mit irher konservativen Sichtweise gewesen, die nach Deutschland in der Mehrzahl ausgewandert sind und nicht die reicheren Stadtbewohner mit ihren modernern Ansichten über Demokratie.
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