Friedrich Engels und die „geschichtslosen Völker“

Allgemeine politikwissenschaftliche Diskussionen

Moderator: Barbarossa

Wallenstein

Inzwischen wird im Forum praktisch nur noch über Tagespolitik diskutiert und kaum noch historische Themen behandelt. Hier zur Abwechslung einmal ein Randthema, welches vielleicht auch einige interessieren könnte.

Friedrich Engels und die „geschichtslosen Völker“

In den Schriften von Engels findet sich ein seltsames theoretisches Konzept, die Doktrin der „geschichtslosen Völker“. Hier findet sich kein Pendant bei Karl Marx, anscheinend ist dies seine ureigene Kreation.

In seiner Analyse des Scheiterns der demokratischen Revolution in Mitteleuropa 1848/49 schrieb Engels diese Niederlage der konterrevolutionären Rolle zu, die die slawischen Völker (Tschechen, Slowaken, Mähren, Kroaten, Serben, Slowenen, Dalmatier etc.) gespielt hätten, die en masse in die kaiserlich-ungarisch-österreichisch und russische Armee eingetreten und von den Mächten der Reaktion dazu benutzt worden waren, die liberalen Revolutionen in Ungarn, Polen, Österreich und Italien zu zerschlagen.

Statt die näheren Ursachen zu erforschen, versucht er dieses Problem mit einer metaphysischen Ideologie zu erklären, – der Theorie der quasi von Natur aus konterrevolutionären „geschichtslosen Völker“, einer Kategorie, der er kurzerhand die Südslawen, Bretonen, Schotten und Basken zuschlug.

„Es ist kein Land in Europa, das nicht in irgendeinem Winkel eine oder mehrere Völkerruinen besitzt, Überbleibsel einer früheren Bewohnerschaft, zurückgedrängt und unterjocht von der Nation, welche später Trägerin der geschichtlichen Entwicklung wurde. Diese Reste einer von dem Gang der Geschichte, wie Hegel sagt, unbarmherzig zertretenen Nation, diese Völkerabfälle werden jedesmal und bleiben bis zu ihrer gänzlichen Vertilgung oder Entnationalisierung die fanatischen Träger der Kontrerevolution, wie ihre ganze Existenz überhaupt schon ein Protest gegen eine große geschichtliche Revolution ist.“

Engels unterscheidet nun zwischen revolutionären und konterrevolutionären Völkern:

„Resumieren wir:

In Österreich, abgesehen von Polen und Italien, haben die Deutschen und die Magyaren im Jahre 1848, wie seit tausend Jahren schon, die geschichtliche Initiative übernommen. Sie vertreten die Revolution.

Die Südslawen, seit tausend Jahren von Deutschen und Magyaren ins Schlepptau genommen, haben sich 1848 nur darum zur Herstellung ihrer nationalen Selbständigkeit erhoben, um dadurch zugleich die deutsch-magyarische Revolution zu unterdrücken. Sie vertreten die Kontrerevolution. Ihnen haben sich zwei ebenfalls längst verkommene Nationen ohne alle geschichtliche Aktionskraft angeschlossen: die Sachsen und Rumänen Siebenbürgens.“

Und er prophezeit:
„Der nächste Weltkrieg wird nicht nur reaktionäre Klassen und Dynastien, er wird auch ganze reaktionäre Völker vom Erdboden verschwinden machen. Und das ist auch ein Fortschritt.“

Alle Zitate aus: Karl Marx - Friedrich Engels - Werke, Engels, Der magyarische Kampf, Band 6, S. 165-173
Dietz Verlag, Berlin/DDR 1959

Diese merkwürdige Theorie wird von ihm später in der Auseinandersetzung mit dem Panslawismus weiter geführt.

„Wir wiederholen es: Außer den Polen, den Russen und höchstens den Slawen der Türkei hat kein slawisches Volk eine Zukunft, aus dem einfachen Grunde, weil allen übrigen Slawen die ersten historischen, geographischen, politischen und industriellen Bedingungen der Selbständigkeit und Lebensfähigkeit fehlen.

Völker, die nie eine eigene Geschichte gehabt haben, die von dem Augenblick an, wo sie die erste, roheste Zivilisationsstufe ersteigen, schon unter fremde Botmäßigkeit kommen oder die erst durch ein fremdes Joch in die erste Stufe der Zivilisation hineingezwungen werden, haben keine Lebensfähigkeit, werden nie zu irgendeiner Selbständigkeit kommen können.

Und das ist das Geschick der östreichischen Slawen gewesen. Die Tschechen, zu denen wir selbst die Mähren und Slowaken rechnen wollen, obwohl sie sprachlich und geschichtlich verschieden sind, hatten nie eine Geschichte. Seit Karl dem Großen ist Böhmen an Deutschland gekettet. Einen Augenblick emanzipiert sich die tschechische Nation und bildet das großmährische Reich, um sofort wieder unterjocht und während fünfhundert Jahren als Spielball zwischen Deutschland, Ungarn und Polen hin- und hergeworfen zu werden. Dann kommt Böhmen und Mähren definitiv zu Deutschland, und die slowakischen Gegenden bleiben bei Ungarn. Und diese geschichtlich gar nicht existierende "Nation" macht Ansprüche auf Unabhängigkeit?

Ebenso die eigentlich sogenannten Südslawen. Wo ist die Geschichte der illyrischen Slowenen, der Dalmatiner, Kroaten und Schokazen? Seit dem 11. Jahrhundert haben sie den letzten Schein politischer Unabhängigkeit verloren und teils unter deutscher, teils unter venetianischer, teils unter magyarischer Herrschaft gestanden. Und aus diesem zerrissenen Fetzen will man eine kräftige, unabhängige, lebensfähige Nation zusammenstümpern?“

Die Slawen waren seiner Meinung nach nie revolutionär gewesen:

„Hätten die Slawen zu irgendeiner Epoche innerhalb ihrer Unterdrückung eine neue revolutionäre Geschichte begonnen, so bewiesen sie schon dadurch ihre Lebensfähigkeit. Die Revolution hatte von dem Augenblick an ein Interesse an ihrer Befreiung, und das besondre Interesse der Deutschen und Magyaren verschwand vor dem größeren Interesse der europäischen Revolution.

Aber das war gerade nie der Fall. Die Slawen - wir erinnern nochmals daran, daß wir hier stets die Polen ausschließen - waren immer gerade die Hauptwerkzeuge der Kontrerevolutionäre. Unterdrückt zu Hause, waren sie in der Fremde die Unterdrücker aller revolutionären Nationen, soweit der slawische Einfluß reichte.“

Alle Zitate aus: Karl Marx - Friedrich Engels - Werke, Engels, Der demokratische Panslawismus, Band 6, S. 270-286
Dietz Verlag, Berlin/DDR 1959

In seinen weiteren Artikeln zur Polenfrage 1866 unterscheidet er zwischen den großen definierten historischen Nationen in Europa (Italien, Polen, Ungarn, Deutschland) und den „geschichtslosen Völkern“, die von diesen aufgesogen werden sollten (siehe hierzu das Werk von Roman Rosdolsky, Friedrich Engels und das Problem der geschichtslosen Völker).

Dieses merkwürdige Konstrukt der konterrevolutionären geschichtslosen Völker hat überhaupt keine Basis im historischen Materialismus und steht den Ideen von Bismarck näher, der auch glaubte, die großen Nationen hätten das Recht, kleinere Völker zu assimilieren als den Vorstellungen von Marx, der in Klassenkämpfen dachte, der fortschrittliche und reaktionäre Klassen zu erkennen glaubte, aber nicht fortschrittliche und reaktionäre Völker.

Man könnte Engels höchstens zu Gute halten, das es sich hier um Briefe handelte, nicht um wissenschaftliche Untersuchungen. Ob er in späteren Jahren anders dachte, weiß ich nicht. Meines Wissens hat er diese seltsame Theorie nie widerrufen.

In der sozialistischen Bewegung spielte diese merkwürdige Theorie später keine bedeutende Rolle mehr. Doch im Stalinismus feierte sie dann eine traurige Wiederauferstehung, denn Stalin ließ ganze Völker für konterrevolutionär erklären und verschleppte und vertrieb sie aus ihren Gebieten.
Ruaidhri
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Wieder etwas dazu gelernt! Danke für für den sonntäglichen Denkanstoß!
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LG Ruaidhri
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Barbarossa
Mitglied
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Wohnort: Mark Brandenburg

Ja, du hast recht, Wallenstein, historische Themen kommen im Forum etwas kurz - und das, wo wir uns "geschichte-wissen.de" nennen. :wink:
Andererseits erleben wir z. Z. ja auch aktuell eine interessante Zeit des Umbruchs, den man genau mitverfolgen sollte.
Aber historische Themen anzuschneiden, ist natürlich nicht verkehrt. Unsere Magazine sollen ja auch historische Themen hochhalten. Also danke dafür.

Nach dem Lesen kommt es mir so vor, als ob diese Theorie auch schon in Richtung Nationslismus/Chauvinismus geht. Kann das sein?
Die Diskussion ist eröffnet!

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