Mittelschicht: Bedeutung in gesellschaftlicher Entwicklung

Allgemeine politikwissenschaftliche Diskussionen

Moderator: Barbarossa

Aneri

Ich möchte eine Diskussion um die Rolle der Mittelschicht in der gesellschaftlichen Entwicklung anstoßen. Eine der traurigen Entwicklungen in deutscher Gesellschaft hatte ich schon mal (weiß jetzt nicht in welchen Thread) berichtet. Es ging um das Schrumpfen der Mittelschicht von 1993 bis 2013 von 56% bis 48%. In dem vorliegendem Artikel wird detaillierter beschrieben. Die Studie wurde von Institut Arbeit und Qualifikation (IAQ) der Universität Duisburg-Essen gemacht. Es geht um die Haushälte mit mittleren Einkommen. Nach IAQ-Definition gehört zu Mittelschicht eine vierköpfige Familie mit Einkommen zwischen 2000-7000 brutto Einkommen in Monat. Es entspricht 60 bis 200 Prozent des Durchschnittseinkommens. Ähnliches habe ich auch auf die Wiki gefunden.

Einkommen ist definitiv ein wichtiger Faktor. Dennoch nach mein Verständnis ist es sekundäre Eigenschaft. Primär geht es um die Bildung, die sich in Einkommen widerspiegelt. Ich würde behaupten, dass der Siegerzug der Demokratie ist dem Bildungssystem zu verdanken , der zuerst Analphabetismus abgeschafft hat und höhere Ausbildung für niederen sozialen Schichten ermöglicht hat. Die Entstehung und Entwicklung des Nationalstaates und Demokratie ging mit der Entwicklung der Unternehmerklasse UND der breiten Schicht Intellektueller wie Künstler, Wissenschaftler, Anwälte, Lehrer, Ärzte etc., die nicht wie vorher den adeligen Hof unterhalten bzw. dem gedient haben, sondern wurden "befreit" und standen der Gesellschaft zu Verfügung. Also war die Gesellschaft so wirtschaftlich stark, dass ihre nicht produzierende Teil könnte erheblich anwachsen und die produzierende - durch wachsende Komplexität der Technologien - sich längere Ausbildungsphasen erlauben könnte. Dadurch wuchs die Mittelschicht. Die Technologien im Gegenzug ließen noch mehr aus der Produktion befreien und menschlichen Intellekt nicht für Roboter-Arbeit anwenden.
Ich finde dieses Schrumpfen der Mittelschicht viel bedrohlicher als in alle Münden die wachsende Schere zwischen Arm und Reich. Ich sehe dadurch die Demokratie bedroht. Wobei lasse ich mir hier noch etwas Freiraum, in dem ich die Definition bzw. Zuordnung zu s. g. Mittelschicht in Frage stellen kann. Vielleicht die Realität ist etwas andere, dass Mittelschicht mittlerweile so breit ist, dass sie sich nicht so elementar anordnen lässt. Z.B. dadurch, dass ein Teil der Intellektuelle sehr gut verdienen und somit in der genannten Spanne nicht auftauchen. So wäre die Mittelschicht viel differenzierter als man in Studie annahm. Was denkt ihr zu dieser Angelegenheit?

Ich war sehr beeindruckt, wann die Folgen der Sanktionen gegen Irak bekannt wurden. Für mich in diesem Zusammenhang das wichtigste Erkenntnis - die Mittelschicht war dadurch ausgerottet. So dass lange bevor der Irakischer Krieg begann, waren die Voraussetzungen für die weiteren Fehlentwicklungen geschafft. Obwohl offiziell Krieg gewonnen war, gab es keine Schicht, die für ein annäherend demokratisches Aufbau gesorgt hätte.

Ähnlich ist in Syrien, der Appel der "Sachverständigen" für Nahe Osten (Peter-Scholl-Latour, Michael Lüders, Günter Meyer), dass Assad auch von „breiten“ sunnitischen Mittelschicht(!!!) unterstütz worden ist, fällt ins Leere. „Breite“ in Ausführungszeichen, weil sie in einem armen Land nur relativ breit, dennoch sie gibt. Ist es „blinder Fleck“ eigener Überzeugungen, nach dem Motto „es kann nicht sein, was nicht sein kann“ oder noch schlimmer, gezielte Manipulation der öffentlichen Meinung?!

M. e. kann nur intellektuelle Mittelschicht sein, die Fundamentalismus einer Religion (aber auch jeder anderen Ideologie) entgehen kann. Insofern ist es die Schicht, auf die wir setzen müssten, wenn wir gegen religiöse Fundamentalismus und Radikalismus kämpfen wollen. Bis jetzt alle politischen Schritte in Westen waren auf die Schwächung der Mittelschicht ausgerichtet. Es muss grundsätzlich überdacht werden.

Auch viele der Fluchtlinge gehören zu dieser Mittelschicht. Wir laden sie ein, von der Kriegszustände zu fliehen, die wir selbst angefädelt haben. Wir lassen die Zukunft der Krisenregion durch Abfluss intellektuelle Kräfte noch mehr schwächen. In diesem Zusammenhang muss vielleicht nicht so sehr auf Integration hierzulande setzen, sondern ihren Patriotismus erwecken bzw. Verbundenheit mit ihrer Heimat aufrechthalten. Mit dieser Zielsetzung müssen wir wirklich nur eine Zwischenstation werden, um sie nachher für die Aufbau ihrer Länder zurückschicken lassen.
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Balduin
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Ist diese sich öffnende Schere nicht auch ein Symptom des Schrumpfens der Mitte der Gesellschaft? Wenige schaffen den Aufstieg, viele steigen ab - dadurch wird die Gesellschaft geteilt.

Historisch-soziologisch hast du das sehr schön dargestellt.

Leider wird meistens Politik gegen die Mittelschicht gemacht - Steuererhöhungen treffen diese Schicht um ein Vielfaches stärker. Da müsste man ansetzen, um das Problem zu lösen. Nicht umsonst gehören viele Asylgegner der Mittelschicht an, weil sie ihren Lebensstandard bedroht sehen.

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He has called on the best that was in us. There was no such thing as half-trying. Whether it was running a race or catching a football, competing in school—we were to try. And we were to try harder than anyone else. We might not be the best, and none of us were, but we were to make the effort to be the best. "After you have done the best you can", he used to say, "the hell with it". Robert F. Kennedy - Tribute to his father
Aneri

Ralph hat geschrieben:Ist diese sich öffnende Schere nicht auch ein Symptom des Schrumpfens der Mitte der Gesellschaft?
Offen gesagt war ich immer skeptisch gegen diesen "Aufschrei", gerade aus der linken Ecke. Ich hatte es eher als Neid gedeutet als eine ernstzunehmende Entwicklung. Es könnte auch die Schrumpfung der Mittelschicht widerspiegeln, muss aber nicht. Die Schere bedeutet keinesfalls zwangsläufig die "Verdünstung" der Mittelschicht. Im Gegenteil sie müsste bzw. könnte gerade größer werden.

Gerade das interessiert mich. was nun: größer oder kleiner? Wie ich dargelegt haeb, es ist nicht so einfach. Was verstehen wir unter Mittelschicht? gehören die bekannte Schauspieler, Schriftsteller, renomierte Wissenschaftler, deren Gehalt bestimmt um viele größer als obere angenommene Grenze. Offen gesagt die Grenze von 3500 € nach oben zu überschreiten - da glaube ich, sehr viel Intelligenz "verloren" geht bzw. nicht zu Mittelschicht gezählt wird. da Gehalte 4 bis 5.000 e nicht selten sind. Sie aber zu reichen zu zählen, ist es nicht übertrieben?! Es sind bestimmt Leute, die müssen nicht auf jeden Cent achten, aber gerade die sind, die auf Bio-, Ökologie, soziale Herstellungsbedingungen achten. Ich denke nicht dass ein vierköpfige Familie mit 2.000 € einkommen auf das alle achten könnte, schon rein aus finanziellen Gründen.

Wenn Mittelschicht nur aus der Einkommenperspektive betrachten, dazu noch feste Rahmen setzen, dann scheint alles klar zu sein. Dennoch wenn Mittelschicht als intellektuelle Brennöffen einer Gesellschaft betrachtet, dann sieht nämlich etwas anders aus.
Renegat
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Die schlichte Definition der Mittelschicht nach Einkommen sagt zu ihrer Bedeutung für gesellschaftliche Entwicklungen wenig bis nichts aus.
Wenn man das Einkommen zugrundelegt, können wir nur wie Aneri feststellen,
Aneri hat geschrieben:Es sind bestimmt Leute, die müssen nicht auf jeden Cent achten, aber gerade die sind, die auf Bio-, Ökologie, soziale Herstellungsbedingungen achten.
Letzteres kann man vermuten. Ich kenne allerdings auch Menschen mit geringem Einkommen, die sich sehr bewußt ernähren und entsprechend einkaufen und die sich über vieles Gedanken machen.
Gleichzeitig gibt es viele Menschen mit guten Einkommen, die sehr sportlich bei Lidl, Aldi, kik und Co Preisvergleiche anstellen und ständig auf Schnäppchenjagd zu sein scheinen, was sie intellektuell derart beansprucht, dass sie zur Betrachtung von gesellschaftlichen Entwicklungen gar keine Zeit und Hirnkapazität mehr frei haben.

Dir ging es ja um die Mittelschicht als Motor von gesellschaftlichen Entwicklungen, Aneri. Vielleicht meinst du diese Schicht eher im Sinne von Intelligenzija, denn du erwähnst Künstler, Intellektuelle?

Ob man die nicht mehr existierende Mittelschicht in Syrien mit der schwindenden M. in Europa vergleichen kann, weiß ich nicht.
Der Mittelschicht wird manchmal ein konservierender Einfluss nachgesagt, theoretisch müsste das vor allem in Europa so sein, wo die Gesellschaftsschichtung stark von der Demographie beeinflusst wird.
In jungen Ländern wie der Türkei oder den Nahoststaaten ist es vor allem die gebildete Mittelschicht, die an gesellschaftlichen Veränderungen interessiert ist, die Generation Smart-Phone. Ob sich das über das Einkommen abbilden lässt, kann ich nicht sagen.

Ich denke, die Schichtenaufteilung anhand des Einkommens ist nur für wirtschaftliche Betrachtungen interessant. Da geht es um Kaufkraft, Sparquote und Nachfragegruppen.
Wallenstein

Ich haben einmal an anderer Stelle etwas über die neuen Einteilungen der Gesellschaft geschrieben, so wie sie heute von Ökonomen und Soziologen vorgenommen wird.. Forscher aus Wirtschaft und Soziologie benutzen mittlerweile Ansätze, die von dem Sinus Institut entwickelt wurden. Ursprünglich für Marketingzwecke entwickelt, eignet sich diese Methode auch für gesamtgesellschaftliche Analysen. Die Unterscheidung der gesellschaftlichen Gruppen geht nicht mehr nur von soziokulturellen Merkmalen wie Besitz, Einkommen, Ausbildung oder Beruf aus, sondern berücksichtigt auch Wertvorstellungen und Lebensstile. Das Ergebnis ist eine Aufteilung der Deutschen in Milieus oder Lebenswelten. Diese sind nicht zwangsläufig identisch mit den soziokulturellen Merkmalen. Bisher kennt man 10 Milieus.

Bild

Quelle: http://www.netzstrategen.com/media/Web- ... 60x646.jpg

Konservativ-etabliertes Milieu: Klassisches Establishment mit Exklusivitäts- und Führungsanspruch, zeigt aber auch Tendenz zum Rückzug.

Liberal-Intellektuelles Milieu: Aufgeklärte Bildungselite mit liberaler Grundhaltung und postmateriellen Wurzeln, hat starken Wunsch nach Selbstbestimmung.

Milieu der Performer: Effizienz-orientierte Leistungselite, denkt global, hohe IT-Kompetenz, sieht sich als stilistische Avantgarde.

Expeditives Milieu: Unkonventionelle, kreative Avantgarde, individualistisch, sehr mobil, digital vernetzt, sucht nach Grenzen.

Bürgerliche Mitte: Der leistungs- und anpassungsbereite Mainstream, bejaht die gesellschaftliche Ordnung, strebt nach beruflicher und sozialer Etablierung sowie nach Sicherheit und Harmonie.

Adaptiv-pragmatisches Milieu: Zielstrebige, junge Mitte der Gesellschaft mit ausgeprägtem Lebenspragmatismus und Nutzenkalkül.

Sozialökologisches Milieu: Idealistisch, konsumkritisch, globalisierungsskeptisch, besitzt ausgeprägtes ökologisches und soziales Gewissen.

Traditionelles Milieu: Ordnungsliebende Kriegs- und Nachkriegsgeneration, kleinbürgerlich oder der Arbeiterwelt verhaftet

Prekäres Milieu: Um Teilhabe bemühte Unterschicht, Zukunftsangst und Ressentiments.

Hedonistisches Milieu: Spaß- und erlebnisorientiert, verweigert sich den Konventionen und Leistungserwartungen der Gesellschaft.
Süddeutsche Zeitung, 27.September 2010

Unsere Gesellschaft hat sich also stark ausdifferenziert. Die Analyse nach Milieus ist nicht nur für die Wirtschaft von Bedeutung, sondern auch für die Politik, will man Wählergruppen gezielt ansprechen. Städte und Landstriche werden von den entsprechenden Instituten untersucht und die Bevölkerung in diese verschiedenen Lebenswelten eingeteilt.
Aneri

Wallenstein. es ist sehr interessant, was Du da geschrieben hast. Ich finde aber, dass wenn man über Gesellschaft im Ganzen redet, kann durch solche Differenzierungen leicht Überblick verlieren.

Jede Gesellschaft bzw. gesellschaftliche Schicht - wie auch immer sie definiert wird - ist vielseitig. Ich erinnere, früher hatte ich sehr beleidigend empfand, wenn man etwas verallgemeinernd über Frauen sagte. Na ja, ihr kennt es bestimmt auch, etwa "alle Männer sind Schweine". Nur nach und nach habe ich verstanden, wie solche Verallgemeinerungen funktionieren. So etwa die Aussage " Die Frauen haben räumliche Vorstellung nicht so ausgeprägt wie Männer". Warum aber in meiner Umfeld traf immer die Männer, deren ich definitiv in dieser Hinsicht überlegen war?! Man darf niemals von einer Veralgemeinerung einen Rückschluss auf ein Teil dieser "Allgemeinheit" ziehen. Es ist genauso mit statistischen Mittelwerten und ähnl. Ein Mittelwert mag gelten, dennoch die Realität ist breit zerstreut. Im Grunde ähnelt es sehr den natürlichen Prozess der radioaktiven Zerfalls. man kann definitiv behaupten, dass Hälfte einer Menge eines bestimmten Stoffen nach eine bestimmte Zeit zerfallen wird. Man kann aber nie voraussagen, welche Atome in der nächste Zeit zerfallen werden. Die Aussage über ganze Menge ist aber uns sehr hilfreich in der Erkenntnis der Welt.

Wenn wir über Gesellschaft sprechen, wollen wir so etwa aussagekräftiges herausfinden, wie es mit Halbwertzeit der Fall ist. Und das ist so schwierig, weil unsre Blickperspektive ist nicht außerhalb, sondern wir sind die Atome, die etwas gesetzmäßiges über den Stoff, deren Inhalt sie sind, herausfinden wollen. Vorausgesetzt so etwas gesetzmäßiges überhaupt gibt.
Renegat hat geschrieben:Dir ging es ja um die Mittelschicht als Motor von gesellschaftlichen Entwicklungen, Aneri. Vielleicht meinst du diese Schicht eher im Sinne von Intelligenzija, denn du erwähnst Künstler, Intellektuelle?
Genau. Ich sehe auch eine Tendenz in gesellschaftlichen Entwicklung, indem immer mehr die intellektuelle Kräfte beansprucht werden, die vorher s. z. "konserviert" wurden. Z.B. die Frauengleichstellung ist die signifikanteste. Eine Hälfte der Gesellschaft, die vorher in kleinen gesellschaftlichen Zellen - der Familien - eingeschlossen war, wird befreit und nimmt aktiv an gesellschaftlichen Leben teil. Die "intellektualisierung" der Handwerker-berufe gehören auch dazu. Die Digitalisierung unseres Alltags, die besondere Kenntnisse bzw. Ausbildung erfordert gehört auch dazu.

Ich sehe die ständige Forderung und Nutzung des Intellekts als markantes Zeichen unserer modernen Gesellschaft.
Es werden alle Potentiale, die vorher versteckt wurden, gefordert. Wenn ich rückblickend die Geschichte betrachte, dann wird klar, dass diese intellektuelle Schicht hat immer schon die wesentliche Rolle in gesellschaftlichen Entwicklung gespielt. Es passierte schon mit der Seßhaftigkeit und Domestizierung, wenn eine Schicht von der Produktion, die auf Handarbeit beruhte und keine besondere intellektuelle Fähigkeiten erforderte, befreit wurde. Es war das "intellektualisierte" Priestertum und Verwaltung, deren weitere Entwicklung zu stark zentralisierten "autoritären" Strukturen ging. Die Polarisierung ist immer instabil, wenn es nicht von der Mittelschicht stabilisiert wird. daher eine Polarisierung schafft auch eine "Mittelschicht" in Form von Kleriken, Verwaltern etc. Diese "Mittelschicht" positioniert sich zunächst definitiv nicht in der Mitte. Dennoch weitere Entwicklung ist dadurch gekennszeichnet, dass die "Mitte" bewegt sich tatsächlich zur Mitte und trägt seitdem diese Name zurecht.

PS: das Thema ist für mich auch aus der Hinsicht interessant, dass wie man sieht mit der o. e. Studie kann man weitreichend Schlüsse ziehen. Stellt man in Frage, wie Mittelschicht dort definiert wurde, sieht nämlich anders aus. Auch Schauspieler, die mit gelegentlichen Jobs unter der Grenze für Mittelschicht sich über Wasser halten, gehören auch zu Mittelschicht. Eine Putzfrau, die in Freizeit Gedichte schreibt, kann auch zu Intellektuellen gezählt werden u. s. w.
Wallenstein

Die Stärke von dem Modell der Sinus-Welten liegt darin, das hier nicht 10 verschiedene Milieus streng voneinander abgeschottet sind, sondern, wie das Schaubild deutlich macht, gibt es zahlreiche Überlappungen. Bei den Prekären gibt es beispielsweise Überschneidungen mit den Hedonisten, mit der bürgerlichen Mitte, aber auch mit den Traditionellen.

Und, außerdem, das sind keine willkürlichen Einteilungen, sondern das Ergebnis vieler Jahre Forschungstätigkeit von Wissenschaftlern aus zahlreichen Instituten und Universitäten. Überall wird heute damit gearbeitet, in der Politik, in der Verkehrsplanung, Stadtteilplanung, in der Verwaltungswissenschaft, vor allem im Marketing und dort schon seit langer Zeit.
Die moderne Wahlforschung operiert mit diesen Modellen, teilt Wohnviertel und Gebiet entsprechend ein. Die letzten Wahlergebnisse in Bremen und Hamburg wurden mit diesem Modell ausgewertet und die Ergebnisse wurden auch veröffentlicht. Auch im Internet. Man kann hiermit statistische Berechnungen anstellen, Gesellschaft also zumindest teilweise mathematisierbar machen.

Hier hat man etwas in der Hand, was durch empirische Forschung nachgewiesen wurde, keine theoretische Konstruktion.
Aneri

Wallenstein hat geschrieben:Die Stärke von dem Modell der Sinus-Welten liegt darin, das hier nicht 10 verschiedene Milieus streng voneinander abgeschottet sind, sondern, wie das Schaubild deutlich macht, gibt es zahlreiche Überlappungen. Bei den Prekären gibt es beispielsweise Überschneidungen mit den Hedonisten, mit der bürgerlichen Mitte, aber auch mit den Traditionellen.
Das stelle ich nicht in Frage. Obwohl auch das ist ein vereinfachter Bild, da zum einem ist es eine Momentaufnahme, zu anderem die Verknüpfungen einer Präferenz (z.B. Hedonist) mit bestimmten Gegebenheiten in Gesellschaft - mindestens tendenziell, absolute Aussagen auch hier nicht möglich - werden hier nicht gezeigt. Um ihren Lusten nachzukommen, muss man mindestens genug finanziell unterpolstert zu sein. Es muss auch gewisse Akzeptanz in Gesellschaft bzw. näheren Umfeld vorhanden sein etc. So werden die Präferenzen - abhängig von der Gegebenheiten nach "oben schwimmen" oder unterdrückt durch andere Präferenzen. Wir sind alle "bunt". Welche Farben wir nach außen zeigen, wird oft von der (gesellschaftlichen) Umwelt bestimmt. Ich z.B. hatte mich lange konservativ rechts angesehen, bei bestimmten Themen, die aber sich später herauskristallisiert haben (z.B. Ukraine-Konflikt), sehe ich mich definitiv links.
Und, außerdem, das sind keine willkürlichen Einteilungen, sondern das Ergebnis vieler Jahre Forschungstätigkeit von Wissenschaftlern aus zahlreichen Instituten und Universitäten. Überall wird heute damit gearbeitet, in der Politik, in der Verkehrsplanung, Stadtteilplanung, in der Verwaltungswissenschaft, vor allem im Marketing und dort schon seit langer Zeit.
Es mag alles richtig sein, die Frage ist, wie kann es uns helfen die gesellschaftliche Entwicklungen im Ganzen zu verstehen. Hat diese Analyse allgemein Gültigkeit für verschieden Kulturen und verschieden Epochen? Wenn nicht, dann mag es verwaltungs- und marketingstechnisch (da sie brauchen eben Momentaufnahem bzw. relativ gesicherten Prognosen)ein wesentliche Informationsquelle sein, dennoch hilft es uns in Komplexität der Gesellschaft sich orientieren etc.?

Ich würde hier eher verneinen. In unserem Weltbild ist für uns essentiell wichtig die kategoriale Unterschiede zu erkennen. In dem Sinne: gibt es eine gesellschaftliche Mitte oder nicht? Wenn ja, dann weniger wichtig - in diesem Zusammenhang - wie sie differenziert ist, sondern in welchen Merkmalen unterscheidet sie sich von anderen gesellschaftlichen Schichten?
Es ist mir absolut klar ist, dass auch hier gibt es eine Überlappung, ein unscharfer Übergang. Dennoch mit dieser Erkenntnis muss trotzdem ein bestimmte Merkmal bzw. der Satz von Merkmalen, die für die Anordnung für diese gesellschaftliche Schicht sprechen. Dann könnten wir sehen, wir in der Geschichte diese unscharfe Übergang auf Skala bewegte, wie ein Riegel auf altmodische Waage. Obwohl der Übergang war immer unscharf, könnte wir evtl. eine Tendenz entdecken. M. E. es wäre ein wesentlicher Erkenntnis.

Die Frage, wo man setz diese Übergang zu anderem Schicht, und was sind die andere Schichten. Unten könnte man Ungebildete sehen und die, die veränderten Anforderungen der Gesellschaft nicht klar kommen. Habt ihr noch Vorschläge?
Wenn ich die Mittelschicht als die Menschen definiere, die mit ihrem Kopf ihren Geld verdienen, also intellektuellen, dann wäre es der Schicht, die intellektuell nicht beansprucht wird (es heißt nicht dass dort klüger Köpfe nicht gibt!)

Oben die Schicht der Reichen. Ich möchte aber auch hier vermeiden die Reduzierung auf Einkommen. Wenn wir Intellekt als wesentliches Unterschiedsmarker anwenden, dann müsste es auch hier vorkommen. Vielleicht könnte es als eine Schicht genannt werden, deren Mitglieder ihren Intellekt für Erhaltung und Vermehrung des Kapitals anwenden.
Es bemüht auch die Mittelschicht, die ein gewisses Vermögen hat. Dennoch verdient sie ihres Geld auf anderen Gebieten. Die dritte Schicht - die Schicht der Reichen wäre nach diesem Muster - nur mit sich selbst beschäftigt.

Ich weiß, es ist ein theoretisches Konstrukt. Aber die Welt, die ich hinter mein Fenster sehe ist ja auch nur theoretisches Konstrukt. Solange dieser Konstrukt hilft mir in der Welt zu orientieren, hat er Berechtigung ihn ernst zu nehmen :wink:
Wallenstein

Das Modell der Sinus-Milieus wurde in Deutschland entwickelt und ist auch nur für dieses Land gedacht. In anderen Ländern gibt es verwandte Modelle. Man kann es nicht übertragen auf andere Gesellschaften wie China, Albanien, Syrien oder Botswana und hoffen, dass es dann irgendwie auch stimmt. Für diese Länder muss man Modelle entwickeln durch empirische Studien in diesen Ländern selbst. Dann kann man auch sehen, ob es Ähnlichkeiten oder Unterschiede gibt. Auf keinen Fall handelt es sich um ein universalhistorisches Konzept und will es auch nicht sein. Diese Milieus wurden mit Hilfe multivariater Datenanalysen ermittelt.

Es wäre aber unseriös, jetzt über die quantitative und qualitative Entwicklung dieser Milieus exakte Aussagen machen zu wollen, denn diese ist abhängig von der Veränderung zahlreicher politischer, ökonomischer und sozialer Variablen, die wir nicht kennen. Wir können allenfalls Szenarien entwerfen, die einen gewissen Wahrscheinlichkeitsgrad haben. Wie sagte doch der größte Philosoph aller Zeiten, Carl Valentin:

„Prognosen sind schwierig, besonders wenn sie die Zukunft betreffen.“


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Die früheren Einteilungen sahen vor:
Oberschicht: Adel, Großbürgertum, Besitzbürgertum, Bildungsbürgertum

Alter Mittelstand: Handwerker, Bauern, Händler

Neuer Mittelstand: Angestellte, höhere Beamte

Unterschicht: Arbeiter, Deklassierte

Dieses Schema stammt aus dem 19. Jahrhundert. Jede Schicht korrespondierte mit gewissen Wertvorstellungen und Verhaltensweisen.

Aber es ist heute so nicht mehr gültig, weil die Gesellschaft viel komplexer geworden ist. Das Modell der Sinus-Welten hat gezeigt, das sozialökonomische Positionen nicht mehr übereinstimmen mit bestimmten Wertvorstellungen, sondern diese überlagern sich.

Im Übrigen gibt es unzählige Theorien über dies Thema. Ich erinnere nur an die Habitustheorie und den Kapitalbegriff von Pierre Bourdieu. (Nur ein Beispiel)

Ich persönlich finde diese Diskussion nun nicht besonders interessant und werde mich aus ihr zurückziehen. Es gibt eine riesige Literatur über dieses Thema, erstellt von Sozialwissenschaftlern, empirische und theoretische Arbeiten.
Wer sich dafür interessiert, sollte sich in diesen Fundus einarbeiten.
Renegat
Mitglied
Beiträge: 2045
Registriert: 29.04.2012, 19:42

Die Sinus-Milieus und ähnliche Modelle finde ich interessant, da sie zeigen, dass gerade die vielzitierte, gesellschaftliche Mitte nur schwer einzuschätzen ist. Schon in der Mitte differenziert und überlappt sie sich, was sich auf der Seite der Neuorientierung fortsetzt. Keines dieser Milieus hat einen mehrheitsbildenden Anteil, auch wenn die %-Zahlen nur grobe Schätzwerte sein können.

Die Modelle machen deshalb für mich ganz gut die Schwierigkeiten erklärbar, die politische Parteien und andere "Volkseinschätzer" haben, die berühmte "Mitte der Gesellschaft", den Mainstream, den mehrheitsfähigen "Willen des Volkes" zu erkennen.
Sie finden sie schlicht deshalb nicht, weil es eine anteilmäßig große Mitte so nicht (mehr) gibt.

Die Unterscheidung in Hand- und Kopfarbeiter hilft in der heutigen Arbeitswelt auch nicht mehr wirklich weiter. Dabei könnte man höchstens die Entwickler von den Anwendern unterscheiden.
Aneri hat geschrieben: Ich sehe auch eine Tendenz in gesellschaftlichen Entwicklung, indem immer mehr die intellektuelle Kräfte beansprucht werden, die vorher s. z. "konserviert" wurden. Z.B. die Frauengleichstellung ist die signifikanteste. Eine Hälfte der Gesellschaft, die vorher in kleinen gesellschaftlichen Zellen - der Familien - eingeschlossen war, wird befreit und nimmt aktiv an gesellschaftlichen Leben teil. Die "intellektualisierung" der Handwerker-berufe gehören auch dazu. Die Digitalisierung unseres Alltags, die besondere Kenntnisse bzw. Ausbildung erfordert gehört auch dazu.
Schwierig - ich mag das Thema noch nicht so schnell begraben. Kann man ausgehend von den Milieus vielleicht verknüpft mit demographischen Generationen doch ein paar Bedeutungen für gesellschaftliche Entwicklungen finden?

Zur Zeit betrachtet man öfter die neue Generation Y https://de.wikipedia.org/wiki/Generation_Y, die hat verschiedene Namen, überlappt sich teilweise mit Generation Praktikum.
Wählerzahlenmäßig werden z.Zt. alle nachfolgenden Generationen von den Babyboomerjahrgängen der Nachkriegszeit beherrscht. 1964 ist in D der absolute Geburtengipfel, d.h. die älteren 50+ Jahrgänge dominieren die Gesellschaft, egal in welcher Schicht. Wie wirkt sich das auf gesellschaftliche Entwicklungen aus?

Falls die Demographie zu weit von der Mittelschicht wegführt, passt es hier http://geschichte-wissen.de/forum/viewt ... 6&start=15
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