Neuere Demokratietheorien

Allgemeine politikwissenschaftliche Diskussionen

Moderator: Barbarossa

Wallenstein

In diesem Forum wird gerade über Demokratie diskutiert. Vielleicht deshalb ein kleiner Beitrag über Demokratietheorien nach 1945.

Während des zweiten Weltkriegs und danach entstanden neue Theorien über die Demokratie, die bis heute entscheidend sind.

Joseph Schumpeter (1883-1950) entwickelte am Beispiel der USA die sogenannte „realistische Demokratietheorie“, die sich am Markt orientiert und sie lediglich als Konkurrenzmodell begreift. Der Bürger hat nur die Möglichkeit, zwischen verschiedenen Eliten zu wählen, sollte sich aber sonst aus der Politik heraushalten. „Die Wähler außerhalb des Parlaments müssen die Arbeitsteilung zwischen ihnen selbst und den von ihnen gewählten Politikern respektieren. Sie dürfen diesen zwischen den Wahlen nicht allzu leicht das Vertrauen entziehen und müssen einsehen, dass, wenn sie einmal jemanden gewählt haben, die politische Tätigkeit seine Sache ist und nicht die ihre.“ (J.A. Schumpeter, Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, Berlin 1956, S. 468)

Die „realistische Demokratietheorie“ geht davon aus, dass es einen Gegensatz gibt zwischen politikinkompetenten Massen und verantwortlichen Eliten.

Gibt es also eine demokratische Elitenherrschaft? Dies wurde in den USA heftig diskutiert. David Riesman sprach von einem pluralistischen Gegeneinander von „Veto Gruppen“, nicht nur in der Politik, sondern auch von Wirtschaftsverbänden, Medien, Militärs, Gewerkschaften, die sich gegenseitig in Schach halten. Charles Wrigt Mills hingegen glaubte eine „Machtelite“ verorten zu können, mit asymmetrischen Einflussmöglichkeiten auf die Politik.

Diese Diskussion fand auch Eingang in der jungen BRD. Sie wurde weitgehend bestimmt durch die Pluralismus Theorie von Ernst Fraenkel (1898-1975). Seine Vorstellung: Die westlichen Demokratien sollten sich am Idealtypus eines autonom-heterogen-pluralistischen Rechts- und Sozialstaats orientieren im Gegensatz zu einer totalitären Diktatur.

„Autonom“ bedeutet: Das Gemeinwohl wird nicht durch Ideologien vorgegeben, sondern ist das Ergebnis freier, streitiger Opposition legitimierender Diskussion.

„Heterogen“ besagt: Die unterschiedlichen Interessen und Strukturen einer differenzierten Gesellschaft dürfen nicht durch Zwang gleichgeschaltet werden.

„Pluralistisch“ besagt, dass die Interessen , d.h. die bewusst gewordenen Bedürfnisse sich in allen faktisch zur Verfügung stehenden verfassungsrechtlich zulässigen Formen artikulieren und organisieren können, wobei die Aktivität und Rivalität konkurrierender Gruppen den Willensbildungs- und Entscheidungsprozess auszeichnet. Die politischen Entscheidungen ergeben sich dann wie in einem Kräfteparallelogramm durch das Aufeinanderwirken der Gruppierungen, innerhalb und außerhalb des Parlaments. Die demokratische Partizipation der Bürger erfolgt durch Wahlen, Abstimmungen und Mitwirkungen in Parteien und Vereinigungen.

Ein konfliktfähiges Gemeinwesen braucht aber einen Basiskonsens. Fraenkel unterscheidet zwischen einem notwendigen „unstreitigen Sektor“, Konsens (Grund- und Menschenrechte, gesicherte Verfahrensregeln) und einem „streitigen Sektor“ Dissens, dem Bereich des politischen Konflikts und Kontroversen. Je stabiler der Konsensbereich ist, desto tragfähiger das System.

Die demokratische Eliteherrschschaft kann abgemildert werden durch innerparteiliche Demokratie und andere Theoretiker sprachen von „Funktionseliten“, nicht von Machteliten.

Dieses Konzept von Fraenkel geriet bald in Kritik:
1. Nicht alle Interessen sind autonom organisierbar. Säuglinge oder Embryos oder kleine Kinder hätten gleichfalls Interessen. Sie sind aber ebenso wenig organisierbar wie die Interessen von Randgruppen, psychisch Kranken, Drogensüchtigen, Alkoholikern oder Obdachlosen.

2. Der Pluralismus suggeriert ein Machtgleichgewicht zwischen den Gruppen. Dieses sei aber nicht vorhanden. Wirtschaftsverbände haben z. B. größere Macht als Verbraucherverbände. Die Beziehungen in der Gesellschaft sind asymmetrisch. Manche Gruppen sind kaum konfliktfähig. Gewerkschaften können streiken, Arbeitslose nicht.

3. Der Staat ist nicht neutral. In ihm haben Machteliten das sagen, die nicht wirklich vom Wähler kontrollierbar sind.

4. Das Gemeinwohl ergibt sich nicht immer automatisch als Folge der Diskussion der Gruppen. Es wird natürlich ein Kompromiss angestrebt, aber manche Gruppen können von ihren Forderungen mehr durchsetzen als andere.

5. Sind die Funktionseliten in den Verbänden nicht in Wirklichkeit doch Machteliten mit eigennützigen Forderungen?

Fraenkel wollte nun allerdings auch keinen Idealstaat schaffen, weil er dies für nicht realistisch hielt. Er wollte aber einen funktionsfähigen Staat schaffen, soweit dies überhaupt möglich ist.
Ruaidhri
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Danke einmal mehr für einen strukturierten Denk-Anstoß!
Nur kurz und flüchtig:
Wallenstein hat geschrieben:1. Nicht alle Interessen sind autonom organisierbar. Säuglinge oder Embryos oder kleine Kinder hätten gleichfalls Interessen. Sie sind aber ebenso wenig organisierbar wie die Interessen von Randgruppen, psychisch Kranken, Drogensüchtigen, Alkoholikern oder Obdachlosen.
Ist als Frage gemeint, nicht als Statement.
Werden nicht Interessen von Säuglichen und Embryos auch stellvertretend organisiert vertreten? Sicher, autonom ist das nicht, aber?
Die von Dir genannten Randgruppen haben sich inzwischen auch organisiert. Inwieweit da nun wirklich direkt Betroffene selbst agieren und/ oder ihre Interessen von anderen eingebracht werden, vermag ich nicht genau zu beurteilen.
Manche Gruppen sind kaum konfliktfähig. Gewerkschaften können streiken, Arbeitslose nicht.
Bleibt noch das Mittel der Demonstration auch für nicht organisierte Gruppen. Ändert aber nichts an der grundsätzlich richtigen Aussage.
5. Sind die Funktionseliten in den Verbänden nicht in Wirklichkeit doch Machteliten mit eigennützigen Forderungen?
Ja. Und das nicht nur in der Politik, sondern in allen Organisationen. Von ngos bis Sportverein und Hundewesen.
Ein konfliktfähiges Gemeinwesen braucht aber einen Basiskonsens. Fraenkel unterscheidet zwischen einem notwendigen „unstreitigen Sektor“, Konsens (Grund- und Menschenrechte, gesicherte Verfahrensregeln) und einem „streitigen Sektor“ Dissens, dem Bereich des politischen Konflikts und Kontroversen. Je stabiler der Konsensbereich ist, desto tragfähiger das System.]
Genau vor den Fragen und Bewährungsproblemen stehen wir gerade.
[Die demokratische Eliteherrschschaft kann abgemildert werden durch innerparteiliche Demokratie und andere Theoretiker sprachen von „Funktionseliten“, nicht von Machteliten.
Gerade das trägt aber auch dazu bei, dass sich Bürger ausgeschlossen fühlen, auch solche, die sich eigentlich beteiligen und einbringen möchten.
Die "demokratische " Eliteherrschaft zeigt sichderzeit oft bei von sich selbst als Demokraten überzeugten im Verhängen von Maulkörben- Dir sollte man das Schreiben verbieten, Du gehörst zum Pack" "an den Pranger stellen" jeder kritischen Äußerung in der Flüchtlingsfrage. Und sei sie weitab von Vorurteilen, Rassismus, nur ganz konkret nach dem " und was nun?"
So geschehen in ein einem anderen Forum, bekam man gerade noch so ohe Eingreifen der Admins hin, solches zu klären.
Ein Mini-Beispiel aus der "Herrschaft von tatsächlichen oder gefühlten nich organisierten Funktionseliten" im Alltag.
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LG Ruaidhri
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Barbarossa
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Diese "neueren Demokratietheorien" erscheinen für heutige Verhältnisse schon wieder sehr der Zeit entrückt. Denn heute wird ja verstärkt nach Transparenz gerufen, wo sich Forderungen, wie: "Der Bürger hat nur die Möglichkeit, zwischen verschiedenen Eliten zu wählen, sollte sich aber sonst aus der Politik heraushalten." geradezu von selbst verbieten. Genauso: "Der Staat ist nicht neutral. In ihm haben Machteliten das sagen, die nicht wirklich vom Wähler kontrollierbar sind." Insgesamt geht das doch schon sehr in eine Richtung von 'wählbarer Oligarchie', d.h. wo man nur die Wahl zwischen verschiedenen Oligarchen hat.
Das hat einfach nichts mit der Demokratie zu tun, wie ich mir Demokratie vorstelle. Natürlich gibt es auch bei uns Berufspolitiker, doch die werden sehr wohl von verschiedenen Seiten kontrolliert - von der Opposition, von den Medien - um nur die wichtigsten zu nennen. Und baut eine Regierung zu viel "Mist", ist sie u. U. auch zwischen den Wahlen nicht zu halten und muss zurücktreten.

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Ruaidhri
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Barbarossa hat geschrieben:Das hat einfach nichts mit der Demokratie zu tun, wie ich mir Demokratie vorstelle.
Gegenkonzept?
Das die Form der Demokratie, die auch ein Willy Brandt befürwortete.
http://www.faz.net/aktuell/politik/inla ... 15576.html

Mehr direkte Demokratie wagen?

http://www.welt.de/debatte/henryk-m-bro ... wagen.html
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Barbarossa
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Ruaidhri hat geschrieben:
Barbarossa hat geschrieben:Das hat einfach nichts mit der Demokratie zu tun, wie ich mir Demokratie vorstelle.
Gegenkonzept?
Das die Form der Demokratie, die auch ein Willy Brandt befürwortete.
http://www.faz.net/aktuell/politik/inla ... 15576.html
Nicht wirklich, denn der Artikel beschreibt ja, dass Brandt mehr Mitbestimmung der Bürger wollte und dazu ist auch mehr Transparenz notwendig.
Ruaidhri hat geschrieben:Mehr direkte Demokratie wagen?

http://www.welt.de/debatte/henryk-m-bro ... wagen.html
Kann man machen, bin ich auch ein großer Befürworter davon. Auf Länderebene gibt es das bereits vielfach. Auch auf Bundesebene könnte man ein plebiszitäres Element einführen.
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Wallenstein

Barbarossa
Das hat einfach nichts mit der Demokratie zu tun, wie ich mir Demokratie vorstelle. Natürlich gibt es auch bei uns Berufspolitiker, doch die werden sehr wohl von verschiedenen Seiten kontrolliert - von der Opposition, von den Medien - um nur die wichtigsten zu nennen. Und baut eine Regierung zu viel "Mist", ist sie u. U. auch zwischen den Wahlen nicht zu halten und muss zurücktreten.

Auch wenn das vielleicht nicht deine Auffassung von Demokratie ist, so funktioniert sie doch weitgehend so, wie sie von den Theoretikern beschrieben wird.

Die liberalen Theoretiker glaubten, dass sich das Gemeinwohl durch den Konkurrenzkampf der einzelnen Bürger ergibt. Die Pluralismus Theoretiker gehen hingegen davon aus, das wir es in Wirklichkeit mit Interessenverbänden und ihren Funktionseliten zu tun haben, die um Einfluss kämpfen und das sind nicht nur Parteien, sondern auch Gewerkschaften, Unternehmerverbände, Haus- und Grundstückseigentümer, Ständeorganisationen von Ärzten, Juristen usw. um nur einige von vielen zu nennen. Das Gemeinwohl, so die Theorie, geht davon aus, entsteht durch den Konkurrenzkampf dieser Gruppen, der verhindert, dass sich die egoistischen Sonderinteressen einzelner Organisationen durchsetzen. Selbst wenn wir es mit Berufspolitikern und Machteliten zu tun haben, ist dies nicht weiter schlimm, da sich die Machteliten durch ihren wechselseitigen Konkurrenzkampf in Schach halten, eben die von Riesmann skizzierten Vetogruppen.

Und eine einmal gewählte Regierung kann man in Deutschland nicht so ohne weiteres ablösen und das machen auch nicht die Bürger. Geschehen kann dies nur durch das Parlament mit einem konstruktiven Misstrauen von Seiten der Abgeordneten im Bundestag. Die Oppositionspartei muss genügend Abgeordnete finden, die bereit sind, dem Kanzler das Misstrauen auszusprechen und dann einen anderen Kanzler wählen. Mit anderen Worten, die Berufs Politiker der Opposition wollen gerne wieder selber an die Regierung kommen.

Erfolg hatte dies nur einmal und zwar 1982 stürzte Helmut Kohl den SPD- Kanzler Helmut Schmidt. Kohl hatte es auf dem üblichen Weg nicht geschafft, an die Regierung zu kommen. 1976 unterlag er in der Bundestagswahl. Also versuchte man es jetzt auf andere Weise. 1982 trennte sich die FDP von ihrem Koalitionspartner SPD und lief zur CDU über. Die Abgeordneten von FDP und CDU hatten jetzt plötzlich die Mehrheit im Bundestag, stürzten Helmut Schmidt und votierten für Kohl als neuen Kanzler. In der Öffentlichkeit sah das aus wie eine Art Putsch, eine miese parlamentarische Intrige. Hatten doch die Wähler 1980 für eine SPD/FDP Koalition gestimmt und bekamen nun plötzlich eine nicht gewählte CDU/FDP Koalition vorgesetzt.

Das war natürlich untragbar und deshalb kam es 1983 zur Neuwahl, die Kohl gewann. Wahrscheinlich hatten die Wähler nach 13 Jahren SPD den Wunsch, etwas Neues zu versuchen. Helmut Schmidt bekam die Arbeitslosigkeit und die Staatsverschuldung nicht in den Griff, der NATO-Doppelbeschluss spaltete seine Partei. Außerdem kandidierte Helmut Schmidt selber nicht wieder als Kanzlerkandidat, sondern der eher weiniger beliebte Hans-Jochen Vogel.
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