Herbert Marcuse: einige seiner Ideen

Allgemeine politikwissenschaftliche Diskussionen

Moderator: Barbarossa

ehemaliger Autor K.

In diesem Forum wurde häufiger auf den Philosophen Herbert Marcuse (1898-1979) Bezug genommen, der zu einem der exponiertesten Vertreter der sogenannten „Frankfurt Schule“ gehörte. Sie wird so benannt nach einem „Institut für Sozialforschung“ in Frankfurt in den zwanziger Jahren, in dem Wissenschaftler aus verschiedensten Richtungen zusammen arbeiteten. Einige von ihnen versuchten die Theorien von Marx, Sigmund Freud, Martin Heidegger und noch anderen zu vereinheitlichen. Die meisten von ihnen emigrierten nach 1933 in die USA, so auch Marcuse.

Ich befürchte aber, dass wohl niemand in diesem Forum Marcuses Werk je gelesen hat, sie sind auch nicht gerade einfach geschrieben. Um dem abzuhelfen, wollte ich kurz auf sie eingehen, betrachte aber nur Marcuses Beitrag über die Sprache. Dies bietet sich an im Zusammenhang mit der polical correctness.

(seine Werke befinden sich in meinem Ferienhaus, das ich derzeit vermietet habe. Ich werde aus dem Kopf referieren und beziehe mich vor allem auf sein Hauptwerk „Der eindimensionale Mensch“ (1964).

Marcuse geht es vor allem um die Frage: Warum hat es in den hochindustrialisierten Ländern entgegen den Aussagen von Marx keine Revolutionen gegeben und warum wird sie wahrscheinlich auch nicht stattfinden? Dazu untersucht er zahlreiche Aspekte unserer heutigen Gesellschaft, unter anderem auch die Sprache.

Die gegenwärtige Sprache sei eine Herrschaftssprache und Marcuse vergleicht sie mit Orwells Neusprech aus dem Roman 1984. Neusprech ist eine herrschaftskonforme Sprache gewesen, die Widersprüche „verschleiert“ (Marcuses Lieblingswort), statt sie aufzudecken.

Marcuse bringt folgendes Beispiel: Früher sagte man: Bourgeoisie und Proletariat. Damit wurde sofort klar: dies sind zwei verschiedene Gruppen mit konträren Interessen. Heute heißt es: Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Damit wird der eigentliche Gegensatz aber nicht mehr deutlich. Diese neuen Begriffe suggerieren stattdessen eine harmonische Gemeinschaft, die keinen richtigen Interessenkonflikt mehr kennt. Statt Auseinandersetzung herrscht jetzt Harmonie, aus Konfrontation wird Kooperation, statt Klassenkampf gibt es jetzt „Sozialpartnerschaft“ (wieder ein Neusprech-Wort). Die neue Herrschaftssprache verschleiert also den Konflikt zwischen Arbeit und Kapital, vorgetäuscht wird durch diese neuen Begriffe eine Gemeinschaft zweier gleichberechtigter Partner, was in Wirklichkeit Ungleichheit ist und ein Herrschaftsverhältnis darstellt.

Marcuse bringt noch weitere Beispiele. „Befriedete Zonen“ war ein Begriff aus dem damaligen Vietnamkrieg. „In befriedeten Zonen“ wurde alles zerbombt und liquidiert. In Wirklichkeit sind es also Kriegsgebiete. In Orwells Buch gibt es das sogenannte „Wahrheitsministerium“, welches in Wirklichkeit ständig Lügen verbreitet. Die „befriedeten Zonen“ sind so eine Lüge, das Wort bedeutet in Wirklichkeit nämlich Krieg, ist also das genaue Gegenteil von dem, was es scheinbar bedeutet.(bei Orwell heißt es ja bezeichnenderweise auch „Krieg ist Frieden“).

Die neue Orwellsche Syntax würde sich laut Marcuse immer weiter ausdehnen. Die Herrschaftssprache verschleiert alle Widersprüche, statt sie aufzudecken. Dies führt dazu, das die Menschen, ähnlich wie bei Orwell, gar nicht mehr die Realität erkennen können, weil ihnen die Vokabeln dafür fehlen und die Wörter, die sie kennen, die Wirklichkeit nicht richtig widerspiegeln, sondern in geschönter oder falscher Form wiedergeben.

Heutige Beispiele: Arbeiter werden nicht entlassen, sondern freigesetzt (Freiheit ist positiv, also schön), Bombenzerstörungen sind nur noch Kollateralschaden, als ob es sich um einen banalen Versicherungsfall handeln würde usw. Gerade Political correchtness trägt auch weiter zur Verschleierung bei. Mit dem Wort „Gastarbeiter“ verband man noch die Vorstellung, dass dies wohl für den Betreffenden nicht unbedingt eine vorteilhafte Situation ist. Bei einem „Menschen mit Migrationshintergrund“ wird dies nicht immer sofort klar. Dies erinnert mich an den Professor Pangloss aus dem Roman von Voltaire „Candide“. Der hatte ja die Fähigkeit, alle unangenehmen Dinge mit schönen Worten zu umschreiben. Politcal correctness redet auch viele Dinge schön.

Nun, wie dem auch so. Marcuse forderte daher, neue Wörter zu schaffen, die Widersprüche aufdecken, statt sie zu verschleiern. Da aber viele Menschen dazu intellektuell nicht in der Lage wären, sei es nun Aufgabe der Intelligenz, dies zu tun.
Diese Aufforderung stieß damals bei vielen Studenten auf eine positive Resonanz. Sie waren offensichtlich dazu berufen, hinter all den „Verschleierungen“ die wahren Herrschaftsverhältnisse zu erkennen, um diese nun der restlichen Bevölkerung mitzuteilen. Das revolutionäre Subjekt war nun nicht mehr das Proletariat, sondern die Intelligenz.

Das erinnert mich an Platos Höhlengleichnis. Die Gefangenen in seiner Höhle sahen ja auch nicht die Realität, sondern nur deren Schatten, die sie mit der Wirklichkeit verwechselten. Erst als einigen von ihnen die Flucht gelang und diese die wahre Welt zum ersten Mal erblickten, konnten sie bei ihrer Rückkehr den anderen Gefangenen berichten, das das, was sie bisher gesehen haben, ein falsches Abbild der Wirklichkeit gewesen ist.
Tja, wenn das dann nun so ist…..


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Marek1964
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Man kann Dinge schönreden, man kann Dinge auch schlecht machen und man kann Dinge "true and fair" darstellen, wie die Wirtschaftsprüfer sagen würden. Und man kann Dinge total verdrehen, wie die Nazis. Sieht man sich alte Wochenschauen hört man die Phrasen von Kampf für die Freiheit gegen jüdischem Bolschewismus und englischer Plutokratie.

Die 68er Bewegung, oder zumindest ein Teil davon, die ja gerne Marcuse zitiert hat, hat allerdings die Akrobatie geschafft, die eigentlich guten Verhältnisse der westlichen Demokratien schlecht zu reden und einen Massenmörder wie Mao zum grossen Lichtblick zu stilisieren. Darüber haben wir hier http://geschichte-wissen.de/forum/viewt ... =75&t=4049 schon diskutiert.

Dass es zu keinen Revolutionen in den Industrieländern gekommen ist, ist sicher dem wachsenden Wohlstand geschuldet, aber wohl auch der Demokratie, die Konflikte nicht eskalieren lassen und einen Interessensausgleich bewerkstelligen sollte.

Und ohnehin war die Vorstellung von Karl Marx, dass es aufgrund seiner Verelendungstheorie zu Revolutionen kommen sollte, falsch. Diese basierte aber darauf, dass er zu wenig von Wirtschaft verstand, und mein Verdacht ist, dass dies auch auf Marcuse zutrifft, so wie ich den Post von Karlheinz lese.

Zu Karl Marx Unterständnis habe ich mich schon einmal ausführlich geäussert:

http://geschichte-wissen.de/forum/viewt ... x&start=30

Ich denke, Marcuse unterschätzte die menschliche Fähigkeit, auch gegenüber autoritären oder totalitären Sprachdiktionen resistent zu werden. Ich kenne das aus dem Sozialismus, wo am Schluss alle die Phrasen satt hatten. Mit sprachlichen Manipulationen allein verhindert man keine Revolution, genauso wie political correctness irgendwann auch wegbricht, weil sich die Wahrheit nicht ewig schönreden lässt.
ehemaliger Autor K.

Marek1964
Zu Karl Marx Unterständnis habe ich mich schon einmal ausführlich geäussert:

viewtopic.php?f=73&t=2607&hilit=Marx&start=30
Diesen Aufsatz kannte ich noch nicht. Er enthält aber einige Fehler, wie hier zum Beispiel:
Karl Marx werte ich heute als einen historischen Wirtschafts- Gesellschaftstheoretiker und Philosoph, der aber die Kernprobleme des 19. Jahrhunderts nicht richtig verstand - nämlich die Bevölkerungsexplosion. Ihr entgegen wirkte die Industrialisierung, für die eine Kapitalbildung ein Ding der schlichten Notwendigkeit war
Marx hatte sehr wohl die Bevölkerungsexplosion gesehen und zwar anders als Malthus oder Ricardo. Malthus glaubte, das die Bevölkerung auf der Erde ständig wächst und zwar in geometrischer Folge, während die Nahrungsmittelproduktion nur in arithmetischer Reihenfolge wächst. Das würde zur Katastrophe führen. Marx wies daraufhin, dass es so ein absolutes Bevölkerungsgesetz nicht gibt. Die Vermehrung ist abhängig von der Produktionsweise. Jäger- und Sammlergesellschaften können nur wenige Menschen ernähren und haben deshalb nur kleine Populationen. Die deutsche Feudalgesellschaft hatte gleichfalls nur begrenzte Möglichkeiten, deshalb lebten hier im Mittelalter nur 6-8 Millionen Menschen. Die bestimmende Variable ist also die Produktionsweise, die bestimmte Variable dagegen die Bevölkerungszahl. Das Bevölkerungswachstum ist somit eine Folge der Industrialisierung und nicht eine völlig unabhängige Variable. Die fortschreitende Industrialisierung führt laut Marx zu Wachstum und kann daher auch mehr Arbeiter beschäftigen.
Materieller Unterbau und ideeler Überbau - naja, das findet immer mal so in Wellen statt. Mal ist eine Gesellschaft mehr, mal weniger materialistisch, aber genug zu essen braucht sie immer.

Hier ist etwas vielleicht etwas falsch verstanden worden. Materialismus bedeutet nicht Schlemmen, Völlerei oder dergleichen. Der sogenannte Unterbau ist die Art und Weise wie die Menschen produzieren, so etwas tun sie immer. Der Überbau ist hingegen alles andere, der Staat, Kunst, Religion, die Eigentumsverhältnisse.
Schon die Ausbeutungs- und Verelendungstheorie war falsch
Was die Löhne betrifft, er hat seine Theorie im Laufe der Zeit verändert. In der Endfassung: Der Wert der Arbeitskraft wird bestimmt durch das Quantum der zur ihrer Rekonstruktion benötigten Lebensmittel. Die Höhe der Löhne hängt ab von der Kapitalakkumulation und der zur Verfügung stehenden Masse der Arbeitskraft. In dem Maße wie der Wert der Lebensmittel durch die steigende Produktivität sinkt, vermindert sich der Wert der Arbeitskraft. Aber andererseits, durch die steigende Produktivität wird auch der Preis früherer Luxusprodukte herabgesetzt und eine ganze Reihe neuer Waren fließt in das lebensnotwendige Minimum mit ein. Also, der Lohn kann im Wert sinken, doch sagt dies noch nichts aus über die Kaufkraft. Durch die wachsende Produktivität sind nämlich viele Waren billiger geworden und der Lebensstandard steigt. Dieser Aspekt, den Marx schon richtig antizipierte, war zu seinen Lebzeiten aber noch nicht sichtbar.
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Marek1964
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Dann lass uns die Diskussion über Marx hier http://geschichte-wissen.de/forum/viewt ... 413#p41413 weiterführen.
ehemaliger Autor K.

Die kommunistische Propaganda ist töricht und dumm gewesen und konnte schon deshalb keinen Erfolg haben. Das meint Marcuse aber nicht. Die von ihm angesprochene Orwell‘sche Syntax bildet sich unterschwellig, psychologisch heraus und ist schon deshalb viel erfolgreicher als die Slogans kommunistischer Parteien.

Sie ist vielleicht auch deshalb erfolgreich, weil instinktiv viele wissen, was diese Worte wirklich meinen, aber keiner möchte eigentlich die Realität nennen und kaschiert sie deshalb mit neuen Wortschöpfungen.

Beispiele hierfür sind: „Bevölkerungstransfer“ (Massenvertreibung von Menschen), „ethnische Säuberung“ klingt auch harmlos; „Militärschlag“ (Angriffskrieg) „ Verhöre dritten Grades“ (Folter); „Euthanasie (deutsch: Der schöne Tod“) Liquidierung von Menschen; „Störfall“ (Unfall im Atomkraftwerk).

Bei Soldaten gibt es viele solche Ausdrücke: Peacemaker (Pistolen); Argumentverstärker (Schusswaffen); Gegner „neutralisieren“ (ihn töten); knitterfreier Zylinder (Stahlhelm); Metallregen (Bombenabwurf).

Bei uns im Konzern hatten wir eine Abteilung, die sich mit dem Abbau von Arbeitskräften im Betrieb beschäftigte. Diese Abteilung nannte sich: „Kompetenzzentrum“

Und hier haben wir jetzt auch den Bezug zu unserem Thread über Political correctness:
Die Sprache der Politiker, aber auch in anderen Bereichen, ist voll von Worten und immer neuen Wortschöpfungen, die Ungeheuerlichkeiten vornehm umschreiben mit neuen schönen Begriffen, eben eine Art Neusprech.
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Triton
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Fast immer, wenn den Wählern neue Belastungen oder Einschränkungen zugemutet werden, kommt doch Neusprech zu Einsatz. Neben schlicht falschen Bezeichnungen, Beispiele sind schon genannt, kommen immer mehr Wortneukreationen zum Zug, die aus einem positiv und einem negativ besetzten Begriff zusammengesetzt werden und so dem eigentlich unverschämten Vorgang die Schärfe zu nehmen.

Spontan fällt mir ein:
Infrastrukturabgabe - Maut ohne Ausweichmöglichkeit
intelligente Maut - der Autofahrer bezahlt für die Überwachung seines Fahrprofils
Anti-Terror-Gesetze - Abschaffung des Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung
Ökosteuer - Energiesteuer für Privatkunden und Kleinunternehmer
Vorratsdatenspeicherung - Abschaffung des Grundrechts auf "Vergessen"
Demographiefaktor - Rentenkürzung für spätere Generationen

Fast schlimmer als Neusprech finde ich Nullsprech. Seitdem Politiker nichts mehr sagen oder nur noch politisch Korrektes, interressiert sich kaum noch jemand für sie. Und das mit Recht.
"Tatsachen schafft man nicht dadurch aus der Welt, in dem man sie ignoriert." (Aldous Huxley)
Renegat
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Karlheinz hat geschrieben: Sie ist vielleicht auch deshalb erfolgreich, weil instinktiv viele wissen, was diese Worte wirklich meinen, aber keiner möchte eigentlich die Realität nennen und kaschiert sie deshalb mit neuen Wortschöpfungen.

Beispiele hierfür sind: „Bevölkerungstransfer“ (Massenvertreibung von Menschen), „ethnische Säuberung“ klingt auch harmlos; „Militärschlag“ (Angriffskrieg) „ Verhöre dritten Grades“ (Folter); „Euthanasie (deutsch: Der schöne Tod“) Liquidierung von Menschen; „Störfall“ (Unfall im Atomkraftwerk).

Bei Soldaten gibt es viele solche Ausdrücke: Peacemaker (Pistolen); Argumentverstärker (Schusswaffen); Gegner „neutralisieren“ (ihn töten); knitterfreier Zylinder (Stahlhelm); Metallregen (Bombenabwurf).

Bei uns im Konzern hatten wir eine Abteilung, die sich mit dem Abbau von Arbeitskräften im Betrieb beschäftigte. Diese Abteilung nannte sich: „Kompetenzzentrum“
Mmh, das sind alles Beispiele für Neusprech, wie Triton es nannte. Verschleierungstaktik, Herrschaftssprache nach Marcuse kann ich darin nicht erkennen, denn Sprachkontext verbreitet sich rasend schnell. So weiß z.B. jeder, was mit Störfall oder ethnischer Säuberung gemeint ist.
Karlheinz hat geschrieben:Und hier haben wir jetzt auch den Bezug zu unserem Thread über Political correctness:
Die Sprache der Politiker, aber auch in anderen Bereichen, ist voll von Worten und immer neuen Wortschöpfungen, die Ungeheuerlichkeiten vornehm umschreiben mit neuen schönen Begriffen, eben eine Art Neusprech.
Die vornehme Umschreibung erfüllt doch schon innerhalb ganz kurzer Zeit ihren Verschleierungszweck nicht mehr. Denn entweder ist der unschöne Kontext bei mehrmaligem Gebrauch bekannt oder keiner versteht, was gemeint ist.
Wird Sprache nicht verstanden, erfüllt sie ihren 1. Zweck = Verständigung nicht. Dann kann sich der Sprecher eigentlich die Spucke sparen, da ihm sowieso keiner zuhört.
2. Zweck von Sprache ist Abgrenzung gegenüber Outgroups, anderen Schichten usw., meinte Marcuse das?
Und wenn ja, wer fällt denn auf sowas rein, ohne zu hinterfragen, nachzuhaken - also dem Kaiser zu sagen, dass er nackt ist?
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