Wir haben das Thema ja schon einmal gehabt, aber ich bringe es noch einmal aus eigener Perspektive, da Ralph ja darum gebeten hatte, eigene Erlebnisse aus der Zeitgeschichte zu berichten. Dass immer mehr Menschen an ihrer Arbeit leiden, krank werden, ausbrennen, das ist langsam bekannt, auch wenn dies häufig von der Politik und den Kassen nicht als wirkliche Krankheit angesehen wird.
Ich hatte lange Zeitlang recht erfolgreich als Geschäftsführer ein Unternehmen geleitet, das später Bestandteil eines größeren Konzerns wurde. Doch in den letzten Jahren, ich war damals schon über 55 Jahre alt, merkte ich, das mich die Arbeit langsam überforderte. Die wöchentliche Arbeitszeit von 60-70 Stunden, auch jedes Wochenende war ich im Betrieb, praktisch überhaupt keine freie Zeit mehr, ich erreichte immer schneller die Grenze der psychischen Belastbarkeit, es lief nicht mehr so wie früher. Burn out, so nennt man dies heute wohl. Das wirtschaftliche Umfeld entwickelte sich zudem schwieriger, die Umsätze stagnierten, die Konzernleitung wurde unzufriedener, der Druck immer größer. Mich belastete auch das betriebliche Klima, da ich ständig unpopuläre Entscheidungen treffen musste und Personal abbaute. Ich wurde immer mehr zum Hassobjekt, galt als der „böse Mann“ mit dem kalten Blick. Als Kind hatte man mir beigebracht, keine Emotionen zu zeigen. Meine scheinbare Gefühlskälte und die häufige Arroganz, die aus Unsicherheit entsprang, verschärften noch die Spannungen. Außerdem war ich gezwungen, sie ständig anzulügen, sie in scheinbarer Sicherheit zu wiegen, obwohl ich wusste, dass dies nur Lug und Trug war und nichts davon stimmte. Dabei ließ mich das Schicksal der Menschen keineswegs gleichgültig, im Gegenteil, nur konnte ich meine Anteilnahme nicht offen zeigen und ich durfte sie auch nicht wirklich aufklären.
Zum Schluss flüchtete ich in Tablettenkonsum. Mein Tablettenmissbrauch erreichte schnell einen dramatischen Höhepunkt, weit jenseits der Vorstellungskraft eines Normalbürgers, für den die Einnahme von zwei Schlaftabletten für die unruhige Nacht schon einen dramatischen Höhepunkt darstellt.
Wenn man die Zahl 2 mit 10 multipliziert erhält man 20. Dies war die Anzahl Schlaftabletten, die ich inzwischen täglich zu mir nahm. Dies war aber noch längst nicht alles. Hinzu kamen noch 10 Tabletten Valium, insgesamt 100 mg und 30 mg Tramadol in Form von Tropfen, ein künstliches Opiat. Diese Ration reicht aus, um einen Elefanten zu betäuben, hinterließ allerdings bei mir kaum noch irgendeine spürbare Wirkung.
So ging es einfach nicht weiter. Ich einigte mich mit der Konzernleitung auf mein Ausscheiden. Wenn in einem Konzern die Geschäfte schlecht gehen, besteht die übliche Vorgehensweise des Managements darin zu entscheiden, wem man die Schuld zuschieben soll. Es sollte jemand sein, der nicht an der Spitze der Nahrungskette steht, andererseits aber einen gewissen Bekanntheitsgrad besitzt.
Die dann folgende Anhörung vor einem selbst ernannten Ausschuss ist eine reine Formsache. Noch nie wurde eine Befragung dazu einberufen, Informationen zu sammeln. Eher schon handelt es sich um ein Manöver, das ausschließlich der Selbstdarstellung dient, durchgeführt von Personen, die sich ihre Meinung längst gebildet haben und nur auf der Suche nach Munition sind, um ihre Position zu festigen.
Was dann nach der Anhörung passiert ist nur noch reine Formsache. Der Beschuldigte, also damals ich, erhält eine reichliche Abfindung, die ihn für die nächsten fünf Jahre aller materiellen Sorgen entlädt, bekommt außerdem einen langen, bezahlten Urlaub, aus dem er nie wieder zurückkehrt.
Schluss mit der endlosen Arbeit, die das Gehirn zukleistert. Schluss mit dem Ruf der Unfehlbarkeit, der glänzenden Fassade, hinter der sich quälende Selbstzweifel und das Wissen um die eigenen Schwächen und Unzulänglichkeiten verbargen. Die Maskerade darf nicht zerstört werden, nie endet der Karneval. Schluss aber auch mit der menschlichen Hybris, der Unduldsamkeit und Arroganz gegenüber eingeschüchterten Mitarbeitern, der Unfähigkeit, sich für die vielen Taktlosigkeiten zu entschuldigen, ja sie überhaupt zu bemerken.
Ein schwarzer Abgrund öffnet sich und das Verlangen, den geheimnisvollen Grund zu erkunden auf der Suche nach einer anderen, vielleicht besseren, aber keinesfalls schlechteren Welt, wird übermächtig. Die Toten kommen nicht zurück, sie haben etwas Besseres gefunden, ihnen geht es gut.
Doch das Hier und Heute hält einen unerbittlich zurück. Ein Sprung ist unmöglich und das Land, aus dem kein Wanderer wiederkehrt, wie es bei Shakespeare heißt, verschwindet wie ein spukhaftes Gebilde in der Dämmerung.
Langsam dreht sich die Spirale abwärts. Wenigstens fällt man weich.
Was bleibt ist eine Erkenntnis. Weisheit beginnt mit dem Eingeständnis der Unzulänglichkeit. Wir sind alle ein bisschen langsam. Wir haben unsere großen Momente, aber am Ende flüchten wir uns doch nur in Wichtigtuerei.
Ich war endlich frei, aber ich musste die verdammte Tablettensucht loswerden. Ich meldete mich in einer psychiatrischen Anstalt an und bat um eine Entziehungskur. Sie sollten mich in die geschlossene Abteilung einweisen, in ein Zimmer einsperren, solange, bis es vorbei war. Ganz so schlimm wurde es aber nicht, ich wurde langsam entwöhnt, nach 6 Wochen war es soweit, ich hatte mich auch jetzt von den Tabletten befreit, konnte endlich wieder ein normales Leben beginnen. Ich flog zu meinem Bruder nach Australien, der dorthin vor vielen Jahren ausgewandert war und in Sydney ein großes Haus besitzt. Dort konnte ich mich mehrere Monate erholen. Nach meiner Rückkehr nach Deutschland bekam ich eine Stelle an der Universität.
In der Anstalt lernte ich viele Leute kennen, denen es ähnlich gegangen war wie mir. Stress, Überarbeitung, Burn out, Drogen, Zusammenbruch. Viele waren wesentlich jünger als ich. Unser System produziert haufenweise kaputte Existenzen, psychische Wracks. Wenn ich sehe, wie heute in vielen Betrieben gearbeitet wird, wird ihre Zahl schon bald gewaltig anwachsen und damit eine gesamtgesellschaftliche Belastung werden.
Müssen wir mit diesem Krebsgeschwür leben? Das System, welches uns täglich mit Gütern und Dienstleistungen versorgt, wird aufgrund seiner Effizienz immun gegen jegliche Kritik und lässt sie als rückständig oder illusionär erscheinen. Die Rationalität des Gesamtsystems verträgt sich mit der Irrationalität seiner Einzelteile und verbucht sie als marginale Störfaktoren, die bei passender Gelegenheit entsorgt werden.
Der Leviathan, den wir selber erschaffen haben, fordert seinen Preis ein und hat sich verselbstständigt. Die Menschheit ist zu weit vorwärtsgegangen, um sich zurückzuwenden und bewegt sich zu rasch, um anzuhalten. Dies hat Churchill einmal ganz richtig erkannt.
Der Preis, den wir alle dafür zahlen müssen, scheint vertretbar, ist doch selbst das Leben in einer psychiatrischen Anstalt dem Leben eines steinzeitlichen Jägers oder eines Bauern im Mittelalter vorzuziehen.
Oder wird dieser Preis eines Tages zu hoch sein? Werden wir ihn vielleicht nicht mehr bezahlen können? Ich weiß es nicht.