Die Sowjetunion, die 2+Vier-Verträge & NATO-Osterweiterung: Teil 2

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Moderator: Barbarossa

andreassolar
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@Marianne E., vielleicht konnten meine vorstehenden Ausführungen zur ministeriellen Rezeption bzw. NichtRezeption der Vorlage/Aufzeichnung von Neubert bzw. Lambach hinreichend belegt u. überzeugend wirken.
Marianne E.
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Hallo andreassolar,
mein Interesse richtete sich ausschließlich auf evtl. Dokumente, sofern diese archiviert und allgemein schon zugänglich sind. Mir ist bewusst, wie schwierig das alles ist.

Eine Diskussion über die Inhalte sind immer lohnenswert, nicht nur aus dem aktuellen Grund.

Ich gebe aber zu bedenken, dass eine Beurteilung der Geschichte zunächst nur nach dem damaligen Stand vorgenommen werden kann. Und erst danach dürfen Rückschlüsse auf heutiges Verhalten vorgenommen werden. Man könnte sonst von Geschichtsklitterung sprechen.

Mit dem Wissen von heute kann das Geschehen von damals - egal was und wann - nicht bewertet werden. Man darf Lehren ziehen, wenn man kann und wenn man will.
andreassolar
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D' accord, Marianne, schön geschrieben.
Ich gebe aber zu bedenken, dass eine Beurteilung der Geschichte zunächst nur nach dem damaligen Stand vorgenommen werden kann. Und erst danach dürfen Rückschlüsse auf heutiges Verhalten vorgenommen werden. Man könnte sonst von Geschichtsklitterung sprechen.
Das heutige Verhalten ist für meine Seite weniger ein relevanter Gesichtspunkt, das damalige stets im Mittelpunkt, via damaliger Medienberichterstattung, Editionspublikation damaliger Aufzeichnungen, Vorlagen und Protokolle (=Dokumente) und früher wissenschaftlicher Literatur, früher autobiographischer Titel usw. usw. Ergänzt und auf Basis substanzieller geschichtlicher, politischer, sozialer und wirtschaftlicher Kenntnisse der komplexen, vielschichten Situation und Wirklichkeit der damaligen Regionen, Länder, Staaten usw.

Daher wird das jüngere und aktuelle Handeln des Putin-Regimes gegenüber der Ukraine beispielsweise hier im Faden-Thema meinerseits praktisch gar nicht referiert und ist auch kein Ausgangspunkt für Wertungen oder Einschätzungen. Aktuelle Wissenschaftsliteratur natürlich schon.

Bei diesem Faden-Thema hier spielt ebenso meine damalige zeitgenössische, vertiefte Wahrnehmungen der Ereignisse und der Medienberichtserstattung, mein damals ausgeprägtes Interesse und erhebliche alte Kenntnisstände eine Rolle.

Eine Einführung oder ein Exkurs, eine Vertiefung der Kenntnisse über die Arbeitsweise, den Organisationsaufbau, den üblichen und festgelegten bürokratischen Ablauf in einem großen BRD-Ministerium des Jahres 1990, hier des Bonner Außenministerium mit seinen auch 1990 schon mehreren hundert Mitarbeitern, gehört m.E. nicht zum Thema, hoffe ich.
andreassolar
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andreassolar hat geschrieben: 15.04.2023, 23:19
Die im Neuen Narrativ kolportierte 'Garantie der NATO-Nichtausdehnung' müsste damals entlang des Neuen Narrativs ja eine Sensation für die sowjetischen Verantwortlichen gewesen sein. Ein Traum für alle Hardliner und auch Moderaten in Moskau, ein Superthema für die alle und besonders die sowjetischen Medien.
Völlige Fehlanzeige. Auch damit lässt sich das Neue Narrativ wiederholt als sehr junge, moderne nachträgliche Legendenbildung ohne hinreichende reale, plausible, wissenschaftliche Basis anführen.
Auch aktuell, und wie schon damals, lässt sich anhand damaliger Medienberichterstattung, von gemeinsamen offiziellen, damaligen Erklärungen/Statements, von Editionsreihen inzwischen veröffentlichter diplomatischer Berichte dazu und autobiographischen Zeugnissen, die in den Jahren nach Ottawa erschienen sind, zeigen/belegen, dass weder
  • auf der Open Sky-Konferenz von NATO und WP in Ottawa am 13./14. Februar 1990
  • auf Nato-Außenministertagung in Turnberry. 7. Juni 1990
  • auf dem NATO-Gipfel in London am 5./6. July 1990
ex- wie implizit eine Nichtausdehnung der NATO nach 'Osten' Richtung Grenzen der SU für die Zukunft oder jede oder alle weiteren Zukünfte offeriert, zugesagt oder verbindlich gegenüber sowjetischen Entscheidern garantiert wurde.


Und von sowjetischer Akteurs- und Entscheider-Seite wurde dies ebenso wenig, soweit recherchierbar, selbständig in Verhandlungen, Treffen, Arbeitsbesuchen angesprochen, thematisiert oder womöglich als Forderung gegenüber der NATO, ihren anerkannten offiziellen Vertretern oder wichtigen politischen Akteuren der NATO-Mitgliedsstaaten, wie dem US-Verteidigungsminister oder -Außenminister, formuliert.
andreassolar
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Im Abschnitt Die Kontroverse um Zusagen an die Sowjetunion im TanteWiki-Artikel NATO-Osterweiterung war es nun möglich, besonders für den Zeitraum 1. Hälfte des Jahres 1990 etwas mehr damalige zeitgenössische Medienberichterstattung und weitere wissenschaftliche Literatur aus den 1990er Jahren zur Rezeption beispielsweise des damaligen 'Genscher-Planes' (Tutzing-Rede usw.) einzuarbeiten, verbunden mit gelegentlichen Kürzungen, mehr Plausibilität und Struktur.

Der Altbestand war eher heterogen und teils wirr, stark von entkontextualisierten Teilzitaten, Zitatfragmenten und Ent- sowie Unterstellungen geformt, und spiegelte vielfach mehr die sehr aktualistische, moralisch-politisch aufgeladene und verzerrte 'gesellschaftlich-mediale' Diskussion wider, oft lediglich moderiert entlang WP-Regeln, scheint mir.
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Es kann doch gut sein, daß diese Zusicherung der Nichtausdehnung nach Osten im Zuge der Vereinigungsprozesses sich nur auf eben diese Gebiete Deutschlands bezog:

[...]
Es habe keine Zusage gegeben, das Bündnis nicht zu erweitern, obwohl Gorbatschow in demselben Interview auch erklärte, er halte die Erweiterung für einen "großen Fehler" und "einen Verstoß gegen den Geist der 1990 abgegebenen Erklärungen und Zusicherungen".
[...]

https://theconversation.com/ukraine-the ... ast-177085

Das berühmte Versprechen des ehemaligen Chefs des US-Außenministeriums James Baker, die NATO werde sich "keinen Zentimeter nach Osten bewegen", als er am 9. Februar 1990 mit dem sowjetischen Präsidenten Michail Gorbatschow zusammentraf, war nur eines von vielen, die er der sowjetischen Führung im Rahmen des deutschen Vereinigungsprozesses machte.
Das zeigen sowjetische, amerikanische, britische und französische Dokumente, die das National Security Archive der George Washington University am 12. Dezember veröffentlichte.
[...]

https://regnum.ru/news/2357302
Zuletzt geändert von Balduin am 26.07.2023, 14:02, insgesamt 1-mal geändert.
Grund: Änderung bzw. Kürzung aus urheberrechtlichen Gründen
andreassolar
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Ein in jenem WP-Lemma auftretendes Phänomen zeigte sich u.a. darin, dass eine fundierte Sach- oder Fachkompetenz teils als nicht notwendig erachtet wurde.

Das führte u.a. dazu, dass beispielsweise eine Bearbeitungen meinerseits rückgängig gemacht wurden, da die von mir genannte Person nicht in der referierten Quelle genannt wurde, dafür sein unmittelbarer Chef (Gorbi), wenngleich ich inhaltlich nun zutreffend die wissenschaftliche Quelle zusammen gefasst hatte.
Mit der Reversion meiner Edierung wurde nun der alte, aber erst recht auch inhaltlich nicht zutreffende, mehr entstellende Text-Zustand in WP wieder hergestellt.

Das beleuchtet so bisschen die Herausforderungen bei komplexen, dafür stark politisierten Fachthemen auf WP: Die geduldete sachliche Inkompetenz bzw. die Übung, nur nach oberflächlichen, aber den WP-Regeln vermeintlich entsprechenden Methoden/Kriterien vorzugehen.
andreassolar
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Eines der Selbstzeugnisse eines führenden sowjetisch-russischen politischen Akteurs bis zum Machtantritt Putins, welches auch im deutschsprachigen Raum erschienen ist, stellt der Titel 'Im Schatten der Macht' von Jewgenij Primakow dar.

Dieser war u.a. noch in der UdSSR in verschiedenen KGB-Positionen tätig, in der 1. Hälfte der 1990 Chef das Auslands-Nachrichtendienstes der Russ. Föderation, dann ihr Außenminister und kurzzeitig 1998/1999 Ministerpräsident der RF.

Gorbi betraute ihn zuletzt mit einigen Aufgaben.

Primakows 'Im Schatten der Macht' war 2001 erschienen, und thematisiert u.a. die NATO-Osterweiterung und die Vorgeschichte dazu.
Primakow, den man wohl ehesten als gemäßigten, linken Zentristen bezeichnen kann, zeigt in seiner Veröffentlichung von 2001 die heute vielfach vertretene, selektive Darstellung/Wahrnehmung der Vorgeschichte der NATO-Osterweiterung. So referiert er verschiedene Äußerungen 'westlicher' Politiker der Jahre 1990/1991, blendet aber vollkommen die breite sowjetische, auch öffentliche Ablehnung beispielsweise der Tutzinger Ideen Genschers aus, in dessen Fahrwasser der damaligen US-Außenminister Baker ähnliche Vorschläge im Februar 1990 in Moskau offerierte, die genauso wenig rezipiert, akzeptiert und aufgegriffen wurden.

Statt dessen erzählt Primakow ausnahmslos die Fama von den Archiv-Dokumenten, die er mit Antritt des Außenministeramtes 1996 habe suchen lassen und gefunden habe, und welche belegen würden....usw. usw. usw.

Das ist schon mutig. Der Kontext 1990/1991 wird völlig ausgeblendet, die vielfachen ablehnenden Kommentare, Bemerkungen der sowjetischen, medialen Öffentlichkeit, sowjetischer Akteure zu den auch öffentlichen Vorschlägen von Genscher und Baker vom Februar 1990 werden mit keinen Wort erwähnt.

Auch der Übergang von der SU zur RF und der damit fast nahtlos aufrecht erhaltene Anspruch der Vormachtstellung im Raum der postsowjetischen Nachfolge-Staaten, mithin in den GUS-Staaten, wird beiläufig ganz selbstverständlich und bruchlos referiert.
Primakows Veröffentlichung offerierte 2001 das Selbstverständnis einen gemäßigten Zentristen noch der Vor-Putin-Zeit, der die Rolle der RF als ungeminderte, globale Supermacht auf Augenhöhe mit den USA, in Nachfolge der aufgelösten SU, sah.

Primakow gehörte zu den gemäßigten linken Zentristen, von den rechten Zentristen, von den russischen Nationalisten und den orthodoxen Kommunisten hob er sich durch seine 'Gemäßigtheit' ab.
andreassolar
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Gerd Koenen hat in einem Vortrag Im Widerschein des Krieges. Nachdenken über Russland im Theodor-Heuss-Haus Anfang diesen Julis, siehe Youtube, zutreffend die Situation bzw. die Haltung der Mehrheit der führenden 'westlichen' politischen Akteure in der NATO zur Frage einer möglichen NATO-Erweiterung Richtung SU während der Jahre 1990/1991, während Gorbatschow noch regierte und die SU noch bestand, referiert.

Keiner der westlichen wesentlichen Regierungschefs hatte damals zumindest öffentlich Interesse an der drohenden Auflösung der SU postuliert, die große Mehrheit wollte die Auflösung nicht aufgrund der vielfältigen Ungewissheiten und drastisch zunehmenden vielfältigen, oft gewalttätigen Konflikte in der SU zwischen den Teil- und Vollrepubliken, zwischen diversen Bevölkerungsgruppen, wollte sie auch nicht aufgrund der möglichen vielen neuen Nachfolgestaaten einer aufgelösten SU.

In dieser Phase gab es jene öffentlichen Statements verschiedener führender 'westlicher' Regierungsmitglieder oder -chefs auch nach Abschluss des 2+4-Vertrags im September 1990, die NATO nicht Richtung SU ausweiten zu wollen - um die Lage Gorbis und die innen- wie außenpolitische Situation der SU zu erleichtern.

Gewiss, die RF ist defacto schließlich als Rechtsnachfolger der SU anerkannt worden. Die fast bruchlose Tradierung oder Wiederaufnahme von Vorstellungen sowjetisch-altrussischer Vormachtstellung und imperial-globaler Bedeutung und Empfindlichkeiten, wie sie durchaus stets bei der Mehrheit der postsowjetischen führenden Politakteure vorhanden war, wie auch inzwischen bei etlichen 'westlichen', sich als kritisch verstehenden Persönlichkeiten in Medien, Politik und Öffentlichkeit, kann damit nicht legitimiert werden oder unkritisch übernommen werden.

Da liegt sonst das Beispiel der Weimarer Republik zu nahe, als Nachfolger des Dt. Kaiserreiches.
andreassolar
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Sarottes Manipulationen, oder wie man das nennen kann bzw. soll, durch Auslassungen, Verkürzungen und Entstellungen, sind unübersehbar, meine ich - und offenbar sehr gut durch die 'Millionen' von Quellenangaben und zahllosen referierten Gespräche mit Zeugen in den Fußnoten/Anmerkungen überdeckt/getarnt, scheint mir.

Die m.E. systematischen Auslassungen und Verkürzungen sowie Ungenauigkeiten und diffusen Andeutungen/Unterstellungen Sarottes sind auch in Not one Inch an zahllosen Stellen erkennbar. Was ihrem medialen und auch wissenschaftlichem Erfolg zu meiner Verwunderung praktisch ausnahmslos keinen Abbruch tat und tut. Und sie bedient offenbar viele Seiten/Positionen.

Immerhin und bisher, soweit mir bekannt, leider nur ein Osteuropa-Historiker hat offenbar ähnliche Erfahrungen mit ihren Behauptungen und Veröffentlichungen gemacht und sie in seiner Doku nicht berücksichtigt, obwohl interviewt und aufgenommen, und dies in einer Jahre später erschienen Publikation kurz angemerkt.
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