Geschichte des IS

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Moderator: Barbarossa

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Balduin
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Wie ist denn der IS entstanden? Wer sind die zentralen Anführer?

Ich habe gelesen, dass die Anfänge schon einige Jahre zurückliegen und die Planungen sehr systematisch durchgeführt wurden. In der breiten Öffentlichkeit wurden die Terroristen ja mit ihren barbarischen Videos bekannt.

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He has called on the best that was in us. There was no such thing as half-trying. Whether it was running a race or catching a football, competing in school—we were to try. And we were to try harder than anyone else. We might not be the best, and none of us were, but we were to make the effort to be the best. "After you have done the best you can", he used to say, "the hell with it". Robert F. Kennedy - Tribute to his father
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Barbarossa
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Also zunächst bedarf es ja mal einer Erklärung, wie so etwas wie ISIS/IS überhaupt entstehen konnte. Und da muss man wohl leider feststellen, dass es dabei ausschließlich ums Öl ging. Aber der Reihe nach und erst mal aus dem Gedächtnis, darum auch fast ohne Jahreszahlen:

Der IS bzw. in der vorherigen Bezeichnung ISIS will ausdrücklich den Irak und Syrien territorial umfassen. Ausgangspunkt war aber der Irak.
Hintergrund des ersten Irak-Krieges war die Besetzung Kuwaits durch den Irak. Laut einer Dokumentation (die ich gesehen habe) war Kuwait daran nicht ganz unschuldig, denn die Kuwaitis versuchten dem Irak Erdöl zu stehlen, in dem Öl-Bohrungen in einem solchen Winkel durchgeführt wurden, dass Öl-Lagerstätten unter irakischem Territorium angezapft werden konnten. Dies nahm Saddam Hussein zum Anlass, Kuwait militärisch zu besetzen. Dies rief wiederum die USA auf den Plan, für die Kuwait ein enger Verbündeter in der Region war. Zur Vorbereitung des Krieges wurde eine große Kampagne gefahren, bei der selbst US-Journalist Don Jordan das schwere Los der "armen, armen Kuwaitis" beklagte (daran erinnere ich mich noch genau) - später stellte sich heraus, dass denen kein Haar gekrümt wurde. So kam es zum ersten Irak-Krieg, in dem die irakischen Truppen vollständig besiegt wurden, Hussein jedoch an der Macht belassen wurde. In diesem Zusammenhang wurde auch bekannt, dass Hussein bei seiner Machtausübung nicht davor zurückschreckte, Massenvernichtungswaffen gegen Teile seines eigenen Volkes einzusetzen - die Rede war von chemischen Waffen. Hussein selbst war Sunnit und auch sein Regime war sunnitisch, während Minderheiten, wie die Kurden im Norden und selbst die Bevölkerungsmehrheit, die Schiiten, vor allem im Süden des Landes unterdrückt wurden.
Dem Irak wurde u.a. auferlegt, UN-Kontrolleure ins Land zu lassen, die die Beseitigung der Massenvernichtungswaffen überwachen sollten. Dies gelang auch.

Doch damit sollte sich der gerade ins Amt eingeführte Bush jr. nicht zufrieden geben. Ich weiß noch genau, dass eine der ersten Amtshandlungen dieses Präsidenten es war, erst einmal eine Bombe auf den Irak zu werfen. Damit stellte er klar, wie seine Politik aussehen würde. Tatsächlich war nach dem 11. September 2001 nicht nur das von den Taliban beherrschten Afghanistan ein militärisches Ziel der USA, sondern auch der Irak. Dabei wurde Hussein vorgeworfen, er würde noch immer Massenvernichtungswaffen besitzen - was nicht stimmte, wie später nachgewiesen wurde - und beim erneuten Einmarsch der US-Truppen und seiner Verbündeten in Bagdad war das erste Regierungsgebäude, das dort besetzt wurde, bezeichnenderweise das Ölministerium - auch daran erinnere ich mich noch genau. In unseren Medien hat man dann noch versucht zu erklären, das es reiner Zufall sei, dass gerade dieses Gebäude als erstes besetzt wurde - ich glaube das heute noch nicht.
Saddam Hussein selbst wurde in einem Erdloch gefunden und später hingerichtet.
Was dann geschah, erklärte einmal unser Mitglied "Karlheinz" in einem Beitrag recht gut,
siehe: http://geschichte-wissen.de/forum/viewt ... 158#p21158

Aber "Karlheinz" stellt auch Fragen, wie: "Wieso konnten sich Deutschland und Japan nach einer amerikanischen Besatzung als funktionierende und wohlhabende Demokratien etablieren und warum ist dies in Afghanistan und dem Irak so vollständig misslungen?"

Eine Antwort darauf könnte sein, dass die bisherigen Eliten ihre Privilegien verloren und sich nun als die eigentlichen Verlierer begriffen, während die bisher unterdrückten Minderheiten sich entweder faktisch unabhängig machten - wie die Kurden - bzw. die Bevölkerungsmehrheit - die Schiiten - nun die Regierung ausübten. Dies führte zu Terroranschlägen im ganzen Land, die immer mehr an der Tagesordnung waren. Auch die nachweisliche Brutalität der US-Truppen gegen die normale irakische Bevölkerung trug ihren Anteil dazu bei. So ist es kein Zufall, dass die Organisation ISIS eine sunnitische Bewegung war, die sich immer weiter radikalisierte und am Anfang zu einem großen Teil aus ehemaligen Soldaten der Armee Saddam Husseins bestanden haben soll.

Die Möglichkeit, sich über den Irak hinaus auszubreiten - möglicherweise sogar zuerst größere Territorien in ihre Hand zu bekommen - bot sich für ISIS, als eine prekäre Situation in Syrien entstand, nach dem der dortige Präsident Assad auf anfänglich friedliche Demonstranten schießen ließ und die Situation eskalierte. So geriet der Arabische Frühling für Syrien zum Bürgerkrieg und für ISIS zum Startschuss, die erst viel zu spät von der Öffentlichkeit - nach meiner Erinnerung auch von unseren Medien - als Terrororganisation wahrgenommen wurde, da sich zunächst die öffentliche Empörung gegen Assad richtete. Das begünstigte die Ausbreitung von ISIS in der Anfangszeit.

So sind meine Erinnerungen über die Hintergründe des Geschehens - wie gesagt, aus dem Gedächtnis und ohne jetzt etwas nachgelesen zu haben.
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Wallenstein

Der Irak ist eigentlich alles andere als ein religiöses Land. Die Revolution von 1958 schuf einen rein säkularen Staat. Die Baath-Partei war ursprünglich von einem Christen gegründet worden. Sie vertrat den Mittelstand, war ausgesprochen weltlich orientiert und gefiel sich in einem dubiosen „arabischen Sozialismus“. Die Opposition kam hautsächlich von den Kommunisten, die in der irakischen Bevölkerung früher stark verankert waren. Die KP des Irak regierte Ende der fünfziger Jahre zeitweilig in Mosul und beherrschte mit ihren Milizen den Norden des Irak, ungefähr die gleiche Region, die heute vom IS kontrolliert wird, bis sie von der Baath-Partei ausgeschaltet wurde.

Saddam Hussein hatte das Land mit Gewalt in die Moderne geprügelt. Bis zum Ausbruch der Golfkriege verfügte das Land über eine bemerkenswerte Infrastruktur und eine sich rasch entwickelnde industrielle Leistungsfähigkeit. An den Universitäten entstand eine große Schicht von aufgeklärten Intellektuellen und die Emanzipation der Frau war weit fortgeschritten. Die Schiiten, obwohl in der Mehrheit, ließen sich von der islamischen Revolution im Nachbarland Iran nicht anstecken. Die ethnischen und kulturellen Gegensätze zwischen Persern und Arabern sind viel größer als ihre religiösen Gemeinsamkeiten. Das Land hatte gute Aussichten, ein moderner, aufgeklärter Staat zu werden, wenn nicht der blutrünstige Despot den Irak in militärische Katastrophen getrieben hätte.

Der IS ist, soweit wir es in Erfahrung bringen können, eine Allianz aus hohen Funktionären der Baath-Partei und Islamisten. Diese unnatürliche Koalition aus ganz unterschiedlichen Gruppen, die sich früher erbittert bekämpft hatten, entstand nach 2003. Die Anführer saßen damals unter den Amerikanern gemeinsam im Gefängnis und kamen während der Haft in Kontakt miteinander. Die gemeinsam erlittene Haft verbindet sie miteinander. Dort entstand dieses merkwürdige Bündnis.

Durch die amerikanische Invasion 2003 brach der irakische Staat vollkommen zusammen. Weil die Menschen aber im Chaos nicht leben können, begannen sie sich neu zu organisieren. Ansatzpunkte für Gruppenbildungen werden durch soziale Merkmale bestimmt. Dazu zählen ethnische, religiöse, politische, aber auch andere Merkmale wie Reichtum, Prestige, sozialer Status. Oder aber auch: alte Seilschaften aus Militär, Verwaltung und Geheimdienst sowie frühere Kampfgemeinschaften. Weil die Amerikaner die Armee auflösten, waren 400.000 Männer auf einem Schlag arbeitslos geworden. Die meisten von ihnen junge, kampferfahrene Krieger, schwer bewaffnet, aber ohne Perspektiven, bereit, jedem zu folgen, der ihnen glaubhaft eine bessere Zukunft versprechen konnte.
Diese Gruppen wurden angeführt von charismatischen Personen, meistens ehemalige Offiziere, aber auch religiöse Prediger oder traditionellen Stammesführer.

Regionale Warlords ergriffen an vielen Orten die Macht, begannen ihre Gebiete zu arrondieren und zu homogenisieren, indem sie alle Opponenten und Personen, die andere soziale Merkmale hatten als die übrigen Gruppenmitglieder, aus ihren Bereich vertrieben. Die irakische Gesellschaft begann sich neu zu sortieren, sozial und regional nach sozialen Kriterien. Dies führte zu einem Krieg aller gegen alle.

Die Amerikaner waren in diesem Chaos völlig hilflos und erwiesen sich als unfähig, neue tragfähige Strukturen zu entwickeln. Sie mussten sich mit zahlreichen Gegnern herumschlagen, so z.B. mit der „Armee des Mahdi“ von dem fanatischen Schiitenführer Muqtada es-Sadr, der die Besatzer in arge Bedrängnis brachte. In dieser Zeit kamen auch erste Mitglieder von Al-Quida ins Land die sich mit regionalen Herrschern verbündeten, aus denen später der IS entstand.

Die Sunniten machen zwar nur 20% der Bevölkerung aus, genossen aber unter Saddam besondere Privilegien, da sie den größten Teil des Personals in Verwaltung und Wirtschaft stellten. Der Zusammenbruch des Systems traf sie in besonderem Maße und zudem wurden sie von den Amerikanern kollektiv der Komplizenschaft mit Saddam Hussein verdächtigt. Schon gleich nach dem Einmarsch bildeten sich sunnitische Widerstandsnester wie in Faludscha und in den folgenden Jahren entstanden erste „Kalifate“.

Der Bürgerkrieg forderte zahlreiche Opfer, auch zunehmend unter den Amerikanern. Deren Strategie bestand in den ersten Jahren darin, regionale Warlords militärisch auszuschalten und sich anschließend wieder aus deren Gebiet zurückzuziehen, mit dem Ergebnis, das sich anschließend dort sofort wieder neue unabhängige Machtzentren bildeten.

Im Januar 2007 beschloss Bush jr. den Krieg militärisch zu beenden durch eine erhebliche Erhöhung der Zahl der Soldaten. Der Irak sollte systematisch zurückerobert und die besetzten Gebiete dauerhaft gehalten werden. Diese Strategie, das sagten die Generäle, würde längerfristig Erfolg zeigen, zuerst aber würde alles erheblich schlimmer werden. In den nächsten zwei Jahren gelang es den Amerikanern, große Gebiete unter gewaltigen Verlusten und nach mörderischen Kämpfen zu erobern. Doch sie stützten sich dabei auf kooperationswillige Kurden und Schiiten, die eigene egoistische Ziele dabei verfolgten. Deshalb erschien vor allem den Sunniten die USA als eine von vielen Kriegsparteien, anstatt eine Neutralität zu wahren. Der irakische schiitische Ministerpräsident Maliki (2006-2014) war in ihren Augen eine amerikanische Marionette. Sein repressiver Kurs verschärfte das innenpolitische Klima. Der mörderische Krieg kostete über 100.00 Menschen das Leben.

Immerhin, Ende 2008 hatten die USA eine gewisse Kontrolle über das Land gewonnen. Die „Kalifate“ allerdings agierten im Untergrund weiter und versuchten durch Terroranschläge das Land unregierbar zu machen. Aus einer dieser Widerstandszellen entwickelte sich der IS, zunächst nur ein Ableger von al-Quaida, machte er sich bald selbstständig. Im Norden des Landes gelang es ihm, einzelne Gebiete zu kontrollieren.

Anfang 2011 brach in Syrien der Bürgerkrieg aus. Das Regime von Assad konnte die räumlich recht großen, aber dünn besiedelten Areale im Osten nicht lange halten und in dieses Vakuum stieß nun der IS vor. 2014 proklamierte er einen eigenständigen Staat.

Ich wollte in diesem Beitrag nur die allgemeinen Voraussetzungen für die Gründung des IS darstellen. Nähere Einzelheiten finden sich bei:
https://de.wikipedia.org/wiki/Islamisch ... isation%29
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Balduin
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Vielen Dank ihr beiden! Das war sehr aufschlussreich

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Paul
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Der IS soll sich mit einem Video, wahrscheinlich mit Insiderwissen zu dem Anschlag auf das russische Flugzeug bekannt haben.

https://www.facebook.com/15231643512966 ... =3&theater

Es sind wirklich Selbstmörder, die sich mit der ganzen Welt ablegen, jetzt auch direkt mit Russland.
Russland wird jetzt den Kampf gegen den IS besonders verstärken und sucht eigentlich dafür das Bündnis mit den USA u.a.. Russland wird eine Erklärung dazu abgeben.
Sie verhandeln auch mit der FSA, um einen Frieden mit dem Regime zu vermitteln.
Die Kurden können von beiden Großmächten Unterstützung annehmen, um Isis schneller zu besiegen.
Russland wird schnell versuchen die Versorgung des IS aus der Türkei zu stoppen. Der schnellste Weg hierzu ist die Befreiung der Grenzregion zur Türkei vom IS z.B. durch Rojava.
viele Grüße

Paul

aus dem mittelhessischen Tal der Loganaha
Paul
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Die Geschichte des IS wird immer mehr eine Geschichte der Niederlagen. Sie haben jetzt fast zeitgleich die Schlacht um Shingal und Al Hawl verloren. Die nächsten Tage wird noch die Region im Süden Shingals von Extremisten gesäubert.
Die Peschmerga werden sich dann der Befreiung von Tal Afar widmen. Barsani lehnt die Hilfe der PKK ab. Hoffentlich funktioniert das dann trotzdem. In Shingal hat die PKK dennoch geholfen. Die PUK in Kirkuk nimmt die Hilfe der PKK gerne an.
Jetzt warten auf Isis in Syrien die Niederlagen in Tischrin, Raqqa und Shadadah.
viele Grüße

Paul

aus dem mittelhessischen Tal der Loganaha
Wallenstein

Hier vielleicht noch einige Nachträge zu den anderen Berichten. Den IS gibt es ja erst seit 2014. Er entstand aus mehreren Zellen von al-Quaida. Der kurze Krieg gegen Hussein forderte lediglich 138 US-Soldaten das Leben. Insgesamt hatten die Amerikaner aber dann in der Zeit von 2003 bis Ende 2011 4.486 Tote und 32.200 Verwundete zu beklagen. Hinzu kamen 486 Tote von privaten Sicherheitsfirmen (vor allem von Blackwater Worldwide). Ein beträchtlicher Teil der Amerikaner fiel im Kampf mit verschiedenen islamischen Terrororganisationen, oftmals Vorläufer des späteren IS.
https://de.wikipedia.org/wiki/Irakkrieg

Al-Quaida hatte ab 2004 damit begonnen, einzelne „Kalifate“ zu errichten. Bekannt sind vielleicht noch die heftigen Kämpfe um Falludscha. April 2004 hatte sich der Begründer einer al-Quaida- Zelle, die als Wurzel des späteren IS gilt, unter Abu Musab az-Zarqawi, dort in der Stadt verschanzt. Die Kämpfe forderten 81 US-Soldaten das Leben, als sie die Stadt eroberten. Kurze Zeit später wurde der Ort von den Rebellen zurückerobert und in einer erneuten Offensive November 2004 verloren die Amerikaner 71 Soldaten. Aber auch danach blieb die Stadt Hochburg der Islamisten

Abu Musab az-Zarqawi zählt heute als Begründer des späteren IS. 2006 wurde er von den Amerikanern liquidiert. Schon 2004 ließ er eine Reihe von Ausländern entführen und liquidieren. Seine Nachfolger starteten von 2007 bis 2009 eine Serie verheerender Bombenanschläge in Bagdad und Mossul mit weit über 1.000 Toten.
https://de.wikipedia.org/wiki/Falludscha

Die schwersten Verluste hatten die Amerikaner während der großen Offensiven 2007 und 2008, als sie versuchten, die verschiedenen „Gottesstaaten“ von den Islamisten zurückzuerobern. Dabei hatten sie durchaus Erfolge und einen Teil des Irak konnten sie kontrollieren. Die verschiedenen al-Quaida-Zellen bekämpften sie aber weiter mit Bombenanschlägen, doch sie waren damals noch nicht vereinigt und bildeten keine zusammenhängende Organisation. Der Rückzug der Amerikaner und deren fataler Entschluss das Maliki-Regime zu unterstützen, stärkte die verschiedenen islamistischen Gruppierungen. Denen gelang es, ab 2013 rivalisierende Zellen zu vereinigen und ihre Organisation durch verschiedene Zusammenschlüsse zu verstärken und vor allem hatten sie nun auch in Syrien ein Rückzugsgebiet bekommen. Im Norden des Irak begannen sie Anfang 2014 größere Gebiete zu kontrollieren und riefen im Sommer 2014 den islamischen Staat aus. Gleichzeitig begannen sie im Juli 2014 mit einer großen Offensive, die sie bis 50 km an Bagdad heranführte und es schien so, als würden sie den gesamten Irak in Kürze erobern. Das zwang die Amerikaner zum Eingreifen und sie starteten mit Luftschlägen gegen den IS.
Aneri

Wallenstein hat geschrieben:Der Irak ist eigentlich alles andere als ein religiöses Land.
Es war ein religiöses Land, aber ein säkulares Staat
Durch die amerikanische Invasion 2003 brach der irakische Staat vollkommen zusammen.
Es begann viel früher. Mit der Wirtschaftsblokade. Es wird viele hundert tausende Kinder gestorben, durch fehlende Impfungen, Medikamente, durch Armut. Auch die Mittelschicht war in dieser Zeit ausgelöscht. Es wurde ganze Generation Analphabeten heranwuchsen. Gute Boden für Religionsfanatiker.

Michael Luder hat es sehr gut erklärt. Nach dem Chaos des Krieges, kehr man zu dem, was einem sozialen Wesen - Menschen eine Sicherheit gibt - eine Gemeinschaft. Ob es Großfamilie, ethnischer Stamm, oder Religionsgemeinde ist. Insofern ist es nicht verwunderlich, was dort passiert.

Und noch was. Zu den Kriegen hat es immer USA ermuntert. Ich kenne aus mehrere Quellen die Erzählung, dass Irak der USA Botschafterin es vorher mitgeteilt hat um die Absichten des Krieges mit Kuweit. Sie wollten sicher gehen, dass Amerikaner nicht gegen sind. Da vorher Kriege mit Iran war von USA unterstützt worden. Der Antwort war ganz klar und deutlich: es eure Sache. Wir mischen uns da nicht ein. Im Grunde ist es zu verstehen als eine Falle, in die USA Irak gelockt hat.
Scurinter
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Registriert: 08.12.2015, 14:30

Danke an Barbarossa und Wallenstein für die detailierten Aussagen. Das sind Dinge, die wahrscheinlich sehr viele Leute nicht wissen, die aber trotzdem sehr interessant sind, wenn man den IS verstehen will.
Wallenstein

Aneri
Es war ein religiöses Land, aber ein säkulares Staat.
Ich bezog mich hier darauf, inwiefern die Religion das Leben und Denken der Menschen bestimmte. Das lässt sich natürlich quantitativ schwer messen. Ob die Iraker religiöser sind als die Menschen in Süditalien, in Nordirland, im früheren Polen, in Nepal oder Bhutan, in Ladakh oder in Südindien, das kann man natürlich nicht sagen. Allerdings hatten die Kommunisten früher sehr viele Anhänger im Irak und auch die Baath-Partei ist rein säkular. Ebenfalls gab es bürgerlich, nicht religiöse Parteien mit größerem Einfluss. Der radikale politische Islam ist ja eine sehr neue Erscheinung, die erst in den letzten Jahrzehnten entstanden ist. Aus der Vergangenheit des Landes schließe ich, das die religiöse Komponente im Irak nicht viel stärker ausgeprägt war als in anderen Staaten.
Aneri:
Michael Luder hat es sehr gut erklärt. Nach dem Chaos des Krieges, kehr man zu dem, was einem sozialen Wesen - Menschen eine Sicherheit gibt - eine Gemeinschaft. Ob es Großfamilie, ethnischer Stamm, oder Religionsgemeinde ist. Insofern ist es nicht verwunderlich, was dort passiert.

Das habe ich weiter oben bereits selber geschrieben:

Weil die Menschen aber im Chaos nicht leben können, begannen sie sich neu zu organisieren. Ansatzpunkte für Gruppenbildungen werden durch soziale Merkmale bestimmt. Dazu zählen ethnische, religiöse, politische, aber auch andere Merkmale wie Reichtum, Prestige, sozialer Status. Oder aber auch: alte Seilschaften aus Militär, Verwaltung und Geheimdienst sowie frühere Kampfgemeinschaften. Weil die Amerikaner die Armee auflösten, waren 400.000 Männer auf einem Schlag arbeitslos geworden. Die meisten von ihnen junge, kampferfahrene Krieger, schwer bewaffnet, aber ohne Perspektiven, bereit, jedem zu folgen, der ihnen glaubhaft eine bessere Zukunft versprechen konnte.
Diese Gruppen wurden angeführt von charismatischen Personen, meistens ehemalige Offiziere, aber auch religiöse Prediger oder traditionellen Stammesführer.

Regionale Warlords ergriffen an vielen Orten die Macht, begannen ihre Gebiete zu arrondieren und zu homogenisieren, indem sie alle Opponenten und Personen, die andere soziale Merkmale hatten als die übrigen Gruppenmitglieder, aus ihren Bereich vertrieben. Die irakische Gesellschaft begann sich neu zu sortieren, sozial und regional nach sozialen Kriterien. Dies führte zu einem Krieg aller gegen alle.



Bis 2003 war der Staat aber noch weitgehend intakt. Armee, Geheimdienste, der gesamte Unterdrückungsapparat funktionierte noch. Erst durch die Invasion brach er zusammen.
Aneri

Wallenstein hat geschrieben:Ich bezog mich hier darauf, inwiefern die Religion das Leben und Denken der Menschen bestimmte.
Nicht nur Religion das Leben und Denken bestimmt. Es ist unsere Überzeugungen, unsere Weltanschauung. Ich denke, hierzulande ist sich selbst nicht bewusst, wie unsere Grundsätze uns bestimmen.

Ich meinte es nicht "böse" kritisch, sondern man sollte auf die Formulierung achten.

Was betrifft Religiosität, dann denke ich , dass Muslime - verallgemeinernd -mehr religiös sind als Christen hierzulande. Wann geht hier ein kirchenanhänger in der Kirche?! Sie würden nicht so leer stehen und zum verkauf angeboten. Man vergisst im alltag einfach. Der Muslime muss dagegen viele Male am Tag zu bestimmte Zeit betten.
Bis 2003 war der Staat aber noch weitgehend intakt. Armee, Geheimdienste, der gesamte Unterdrückungsapparat funktionierte noch. Erst durch die Invasion brach er zusammen.
Ja und gerade weil intellektuelle Mittelschicht ausgelöst war, könnte er sich nicht reorganisieren!!!
Scurinter
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Aneri hat geschrieben:Was betrifft Religiosität, dann denke ich , dass Muslime - verallgemeinernd -mehr religiös sind als Christen hierzulande. Wann geht hier ein kirchenanhänger in der Kirche?! Sie würden nicht so leer stehen und zum verkauf angeboten. Man vergisst im alltag einfach. Der Muslime muss dagegen viele Male am Tag zu bestimmte Zeit betten.
Diese Einschätzung beruht doch aber auch nur darauf, dass du einen Moslem nur daran erkennst, wenn er wirklich religiös ist.
Es gibt viele, die die Religion genauso wenig juckt wie die Mehrheit der Christen. Diese Leute erkennst du aber nicht, wenn sie dir auf der Straße entgegenkommen und deshalb gehen viele davon aus, dass es sie nicht gibt
Wallenstein

Aneri
Was betrifft Religiosität, dann denke ich , dass Muslime - verallgemeinernd -mehr religiös sind als Christen hierzulande. Wann geht hier ein kirchenanhänger in der Kirche?! Sie würden nicht so leer stehen und zum verkauf angeboten. Man vergisst im alltag einfach. Der Muslime muss dagegen viele Male am Tag zu bestimmte Zeit betten.
Da hast du sicherlich Recht. Nun sind die Menschen aber in den meisten Entwicklungsländern in der Regel religiöser als wir in Westeuropa. Das beobachtest du auch im Hinduismus, in buddhistischen Ländern oder in streng katholischen Staaten in Lateinamerika. Es ist auch ein Zeichen der Modernisierung von Gesellschafften, das der religiöse Einfluss an Bedeutung verliert, wenn auch nicht bei allen gesellschaftlichen Gruppen gleichermaßen.

Was die moslemischen Ländern betrifft: Ich kenne die meisten von ihnen und habe in einer Reihe von ihnen länger gewohnt und gearbeitet, da ich in einem internationalen Konzern tätig war. Zwischen den Staaten gibt es riesige Unterschiede. In Indonesien stellt sich der Islam sehr viel anders da als in den Golfemiraten. Und in Pakistan wieder anders als in Ägypten. Der Islam schreibt viele Dinge vor, die aber häufig nicht beachtet werden, schon weil dies nicht praktikabel ist. Das fünfmalige Beten z. B. wird von den meisten nicht befolgt. Wenn der Muezzin ruft, passiert in der Regel in den Städten genauso wenig, als wenn bei uns die Kirchenglocken läuten. Nur wirklich strenggläubige laufen dann in die Moschee, die meisten haben dafür keine Zeit und es fehlt auch das Interesse. Manche holen dies gelegentlich nach, andere nicht.

Einige Gebote kann man leicht einhalten wie das Verbot von Schweinefleisch. Etwas schwieriger ist es mit dem Ramadan, der wird allerdings heute strenger beachtet in den meisten Ländern als früher. Jedoch wird in diesem angeblichen Fastenmonat ungefähr viermal so viel gegessen wie in den anderen Monaten, da nämlich abends alles nachgeholt wird. Dann finden überall Familienfeste statt. Wie die Religion gelebt wird ist sehr unterschiedlich.Der Grad der Religiosität ist sehr verschieden ausgeprägt.

Wie sehr Gebote überhaupt beachtet werden, hängt davon ab, wie leicht man sie einhalten kann. Je schwieriger es wird, desto weniger werden sie beachtet. Strenggläubige erkennt man daran, wie sehr sie auf die Regeln achten. Auch bei uns rennt nicht jeder Katholik am Sonntag in die Kirche, betet Rosenkränze, spricht das täglichen Tischgebet, geht zur Beiche usw. sondern praktiziert ein Katholizismus „light“. Und das ist in den moslemischen Ländern durchaus ähnlich, auch hier praktizieren viele einen Islam „light“, auch wenn es natürlich mehr gibt, die ihren Glauben ernst nehmen als bei uns.

Zahlreiche religiöse Gebote und Verbote bestimmen übrigens auch das Leben von Menschen in Indien oder in buddhistischen Ländern.

Wie gesagt: in weniger entwickelten Ländern hat die Religion meistens einen größeren Einfluss als bei uns, doch ist der Grad der Religiosität sehr unterschiedlich. Es ist vorstellbar, dass ein höherer Grad an Modernisierung dies verändern wird. Hier muss man aber in längeren Zeiträumen denken. Vorübergehende Rückentwicklungen wie derzeit muss man einkalkulieren.
Aneri

Ich kenne Moskau relativ gut, war dort viele Male. Hier ist ein Video, der mich in gewisse Maße erschreckt hat. Es ist doch Moskau, s. z. das Herz des orthodoxen Christentums.

Was wegen Religiosität, wenn ich an christlichen Feiern würde auch so viele Leute in der Kirche gehen, dann ja, würde ich sagen, ja es ist vergleichbare Situation hinsichtlich Religiosität.
Ruaidhri
Mitglied
Beiträge: 1901
Registriert: 06.05.2015, 18:09

Religion und Bekenntnis sind heute eher Privatsache für Christen und nicht mehr an den Ort und die Institution Kirche gebunden.
Muttersprache: Deutsch Vaterland: Keins. Heimat: Europa
LG Ruaidhri
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