von Orianne » 20.09.2014, 15:50
«Für Freiheit und Vaterland! Hoch über der Ajoie patrouillieren Leutnant Meuli und Oberleutnant Gürtler mit ihrem in Thun gebauten Aufklärungsflugzeug C-35 am vergangenen Samstag der Schweizer Grenze entlang. Plötzlich tauchen zwei deutsche Flieger auf und schiessen sie hinterhältig ab, Meuli und Gürtler haben keine Chance. Die Nachricht von der feigen Attacke verbreitet sich rasch, sofort schrauben sich fünfzehn Schweizer Militärpiloten auf ihren schlanken Maschinen in den Himmel und stellen sich mutig dem zahlenmässig deutlich überlegenen Feind. Und siehe da: Die Piloten Lindecker, Egli, Kuhn, Streiff setzen Treffer um Treffer, Görings Luftwaffe verliert 3 von 28 Flugzeugen. Oberleutnant Homberger kämpft sich mit Kugeln in Rücken, Lunge und sogar im Portemonnaie zurück zum Flugplatz Biel-Bözingen. Unsere Fliegertruppen beweisen: Die Schweiz leistet Widerstand!»
Die Details über diese Luftschlacht vom 8. Juni 1940 stimmen exakt. Aber der Text ist fingiert. Die Schweizer Zeitungen dürfen solche Artikel in dieser für die Schweiz heiklen Phase des Zweiten Weltkriegs nicht abdrucken, die Armeeabteilung Presse und Funkspruch untersagt ausführliche Berichte und Kommentare über die erwähnten Ereignisse.
Messerschmitt ME 109G-6, Bild aus meiner Sammlung
Die Schweizer Flieger- und Fliegerabwehrtruppen mobilisierten am 28. August 1939, drei Tage vor Kriegsausbruch. Sie verfügten über 86 Jagd- sowie 121 Beobachtungs- und Erdkampfflugzeuge. Von den 21 Fliegereinheiten galten nur deren drei als kriegstüchtig; fünf besassen keine Flugzeuge. Die Lücke wurde sukzessive durch Ankauf von weiteren Messerschmitt Me-109 Maschinen (Gesamtzahl später 58) und in Lizenz gefertigten Morane-Saulnier D-3800 Jägern geschlossen. 1943 nahm das Eidgenössische Flugzeugwerk in Emmen seinen Betrieb auf.
Nachdem 1941 klar war, dass sich die Schweizer Armee in den Alpenraum zurückziehen würde, mussten dort nebst viel Infrastruktur auch neue Militärflugplätze erstellt werden. In kürzester Zeit zog sich die Fliegertruppe ins Réduit zurück. Geschützte Flugplatzanlagen entstanden, z.B. in Alpnach, Meiringen und Turtmann. Am 8. Juli 1942 landete auf dem neu erstellten Réduit-Flugplatz St. Stephan im Berner Oberland erstmals ein Flugzeug, eine C-3603.
Die Zahl der Flugplätze und Feldstützpunkte ist seit Beginn des Aktivdienstes bis 1941 von 29 auf 48 Anlagen gesteigert worden. Im Réduit standen nun die Flugplätze Bellinzona, Buochs, Ems, Interlaken, Kägiswil, Magadino, Meiringen, Mollis, Samedan und Sion zur Verfügung. Die Ablösungsdienste dieses Jahres (1941) fanden auf den Flugplätzen Avenches, BeIp, Bleienbach, Buochs, Emmen, Luzern-Horw, Thun und Utzenstorf statt.
1942/1943 wurde der Flieger-Gebirgsschiessplatzes Axalp-Ebenfluh in Betrieb genommen. Das 1941 gegründete Ueberwachungsgeschwader konnte ab 1943 aktiv eingreifen. 1944 wurde versuchsweise ein Nachtgeschwader gebildet, das 1950 wieder aufgelöst wurde.
Der Angriffsgeist der Schweizer Besatzungen, die insbesondere anfangs Juni 1940 ihre defensive Aufgabe erfüllten, wurde zum eindrücklichen Symbol des Widerstandswillens. Die Fliegertruppe schoss im Luftkampf mehrere Flugzeuge der Luftwaffe Görings ab. Sie hatte aber in dieser Zeit auch selber drei Todesopfer zu beklagen. Am 20. Juni 1940 (und bis Ende Oktober 1943) verbot General Guisan aus politischen Gründen Luftkämpfe über schweizerischem Hoheitsgebiet bis in den Oktober 1943. Im September 1944 gab es noch einen Abschuss einer Schweizer Maschine mit Todesfolge, diesmal durch eine Besatzung der United States Army Air Force (USAAF).
General Guisan am 31. März 1940 die Piloten an, im Schweizer Luftraum ohne vorherige Warnung auf Maschinen kriegführender Parteien zu schiessen. Am 10. Mai wird auch das Verbot, in Grenznähe zu fliegen, aufgehoben.
Endlich! Sofort stürzen sich die Piloten auf feindliche Flugzeuge innerhalb der Schweizer Grenzen, auch wenn es sich um vereinzelte, verirrte, beschädigte Maschinen handelt. Schon am 10. Mai schiesst Kampfpilot Hans Thurnheer als erster Schweizer Soldat gegen einen Feind. Doch er trifft nicht. Am Abend holen dann Walo Hörning und Albert Ahl eine deutsche Dornier Do-17 vom Himmel. Dieser «Fliegende Bleistift» geht gegenüber von Altenrhein SG jenseits der Grenze nieder. Am 16. Mai trifft es einen durch einen Schneesturm vom Weg abgekommenen deutschen Bomber Heinkel He-111, er stürzt im zürcherischen Kemleten bei Illnau ab.
Auf Schweizer Seite sind die Piloten mit den gerade eben aus Deutschland gelieferten Jagdeinsitzern Me-109 unterwegs - ausschliesslich gegen deutsche Gegner. Am 1. Juni überfliegen 36 He-111 des Kampfgeschwaders Legion Condor, die auf dem Weg zu einem Einsatz im französischen Rhonetal sind, die Schweiz. Dabei wird einer dieser Bomber abgeschossen, er stürzt bei Lignière im Kanton Neuenburg ab. Als auf dem Rückweg hinter den Bombern wieder Flugzeuge auftauchen, meldet ein deutscher Bordfunker seinen Kameraden: «Achtung, nicht schiessen, es sind Me-109, also eigener Jagdschutz!» Erst als die Schweizer schiessen, bemerken die Deutschen ihren Fehler, eine He-111 landet brennend im französischen Oltingue.
Am folgenden Tag kann sich ein bereits über Frankreich getroffener deutscher Bomber He-111 zwar noch in die Schweiz retten, wo er aber von einer Zweierpatrouille Me-109 endgültig flugunfähig geschossen wird. Der Bomber landet bei Ursins im Kanton Waadt auf dem Bauch.
Das gefällt der deutschen Luftwaffe nicht. Sie schickt am 4. Juni eine Strafexpedition in die Schweiz. 28 schwere Jagdzweisitzer Me-110 («Zerstörer» nennen sie die Deutschen) fliegen provokativ über dem Neuenburger Jura im Kreis. Sie werden von insgesamt 16 Schweizer Kampfflugzeugen - neben den Me-109 sind auch D-3800 dabei - angegriffen. Wie die Luftkämpfe abgelaufen sind, lässt sich nicht mehr genau rekonstruieren. Am Abend ist Rudolf Rickenbacher mit seiner Me-109 D bei Boécourt, zehn Kilometer westlich von Delémont, tödlich abgestürzt, zwei deutsche Me-110 sind auf französischem Gebiet zerschellt. Nach Rickenbachers Begräbnis im bernischen Lotzwil zerreisst die Bevölkerung einen gespendeten Kranz. Er kommt vom Chef der deutschen Luftwaffe, Hermann Göring, der damit eine unter Kampfpiloten (den Rittern der Lüfte!) durchaus übliche Ehrenbezeugung leisten wollte.
Am 5. Juni 1940 übergibt der deutsche Gesandte Otto Köcher dem Schweizer Aussenminister und Bundespräsidenten Marcel Pilet-Golaz eine Protestnote der Reichsregierung. In Berlin ist man sehr erzürnt über die Attacken der Schweizer Piloten, die, behaupten die Deutschen, auch über französischem Gebiet stattgefunden hätten. Am Schluss der Note heisst es: «Die Reichsregierung erwartet, dass die Schweizer Regierung ihre förmliche Entschuldigung wegen dieser unerhörten Vorkommnisse ausspricht und dass sie den entstandenen Sach- und Personenschaden ersetzt. Im übrigen behält sich die Reichsregierung zur Verhinderung derartiger Angriffsakte alles weitere vor.» Am nächsten Tag trifft die Fliegerabwehrtruppe mit fünf Schüssen aus 7,5-cm-Kanonen ein deutsches Flugzeug, das dann offenbar in Frankreich abstürzt.
Überrascht sind die Deutschen aber auch von der Aggressivität der Schweizer Piloten. Nachdem seit Kriegsbeginn Dutzende von Verletzungen des Schweizer Luftraums ungeahndet geblieben sind, werden nun plötzlich deutsche Flugzeuge angegriffen, die unabsichtlich über Schweizer Gebiet gelangt sind. Rechtlich ist das zwar zulässig, aber es reizt die Deutschen sehr.
Der Armeeführung war wohl sich zu wenig bewusst, was passieren kann, wenn sie die Flieger ohne Einschränkungen kämpfen lässt. Aber sie hätte wissen müssen, dass Militärpiloten, die monatelang nicht eingreifen dürfen, eventuell etwas übermotiviert sind und als selbst ernannte Elitetruppe aussergewöhnlich viel Wert auf Ruhm und Prestige legen. Der Chef des Generalstabs Jakob Labhart - kein Freund Guisans - bemängelte Ende 1939 «die Tendenz der Fliegertruppe, eine Armee für sich zu bilden», und warnte, dass «wir im Ernstfall von der Fliegerei überhaupt keinen positiven Nutzen für unsere Landesverteidigung zu erwarten haben».
Die Kampfpiloten reizen einen starken Gegner, ohne ihm wirklich gewachsen zu sein. Der Chef des persönlichen Stabs des Generals Bernard Barbey notiert in seinem Tagebuch, dass die Schweizer Flieger im Kriegsfall höchstens zwei Tage zu überleben vermöchten: «Ihr Auftrag wäre Selbstaufopferung.» Nicht mit dieser nüchternen Beurteilung einverstanden ist einer der beteiligten Flieger, Walo Hörning, der 1959 schreibt: «Ich höre noch heute die Stimmen einiger wankelmütiger Eidgenossen, die unsere Aktionen als Provokationen verurteilten und der Meinung waren, der Krieg sei bald vorüber und es sei gefährlich, den unberechenbaren ‹Führer des tausendjährigen Reiches› mit solchem Unsinn zu reizen.»
Tatsächlich beginnt sich auch Hitler für die aus deutscher Sicht an sich völlig nebensächlichen Ereignisse am Schweizer Himmel zu interessieren. Am 9. Juni 1940 «hat der Führer selbst die Weiterbearbeitung dieser Angelegenheit in die Hand genommen», wie aus deutschen Quellen hervorgeht. Ob er die zweite, im Ton noch schärfere Note vom 19. Juni beeinflusst, ist nicht klar. Sie bezeichnet die Luftschlacht vom 8. Juni als «einen flagranten feindseligen Akt», bei dem Schweizer Flieger zusammen mit den Franzosen über französischem Gebiet gegen die deutsche Luftwaffe gekämpft hätten. Falls es noch einmal zu Luftkämpfen komme, nähme die Reichsregierung «die deutschen Interessen in anderer Weise» wahr. Der Gesandte Köcher sagt bei der Übergabe, wenn den deutschen Forderungen, irrtümlich Schweizer Gebiet überfliegende deutsche Flugzeuge nicht mehr zu beschiessen, nicht entsprochen werde, könne er für nichts mehr garantieren.
Im Rückblick scheint die Situation im Sommer 1940 verblüffend klar. Zwei Hauptdarsteller verkörpern die zwei Wege, die der Schweiz offen stehen: General Henri Guisan und Bundespräsident Marcel Pilet-Golaz. Während Pilet-Golaz das Land duckmäuserisch den Deutschen auszuliefern versuche, sei es dem General zu verdanken, dass sich die neutralen Eidgenossen mit widerständigem Willen Freiheit und Heimat bewahren. Die mutigen Flieger, als einzige im Kampfeinsatz, wären dafür eigentlich bestens geeignete Symbolfiguren.
Tatsächlich äussert sich Guisan noch am 15. Mai, als ein deutscher Angriff jeden Moment erwartet wird, als Vertreter des unbedingten Widerstands: «Solange ein Mann noch eine Patrone hat oder sich seiner blanken Waffen noch zu bedienen vermag, ergibt er sich nicht.» Das entspricht ganz dem Credo der tollkühnen Flieger.
Quellen: Eigene Aufzeichnungen, Schweizer Luftwaffe
«Für Freiheit und Vaterland! Hoch über der Ajoie patrouillieren Leutnant Meuli und Oberleutnant Gürtler mit ihrem in Thun gebauten Aufklärungsflugzeug C-35 am vergangenen Samstag der Schweizer Grenze entlang. Plötzlich tauchen zwei deutsche Flieger auf und schiessen sie hinterhältig ab, Meuli und Gürtler haben keine Chance. Die Nachricht von der feigen Attacke verbreitet sich rasch, sofort schrauben sich fünfzehn Schweizer Militärpiloten auf ihren schlanken Maschinen in den Himmel und stellen sich mutig dem zahlenmässig deutlich überlegenen Feind. Und siehe da: Die Piloten Lindecker, Egli, Kuhn, Streiff setzen Treffer um Treffer, Görings Luftwaffe verliert 3 von 28 Flugzeugen. Oberleutnant Homberger kämpft sich mit Kugeln in Rücken, Lunge und sogar im Portemonnaie zurück zum Flugplatz Biel-Bözingen. Unsere Fliegertruppen beweisen: Die Schweiz leistet Widerstand!»
[i]Die Details über diese Luftschlacht vom 8. Juni 1940 stimmen exakt. Aber der Text ist fingiert. Die Schweizer Zeitungen dürfen solche Artikel in dieser für die Schweiz heiklen Phase des Zweiten Weltkriegs nicht abdrucken, die Armeeabteilung Presse und Funkspruch untersagt ausführliche Berichte und Kommentare über die erwähnten Ereignisse.[/i]
[url=http://www.imagebam.com/image/dba7d5352492276][img]http://thumbnails112.imagebam.com/35250/dba7d5352492276.jpg[/img][/url]
Messerschmitt ME 109G-6, Bild aus meiner Sammlung
Die Schweizer Flieger- und Fliegerabwehrtruppen mobilisierten am 28. August 1939, drei Tage vor Kriegsausbruch. Sie verfügten über 86 Jagd- sowie 121 Beobachtungs- und Erdkampfflugzeuge. Von den 21 Fliegereinheiten galten nur deren drei als kriegstüchtig; fünf besassen keine Flugzeuge. Die Lücke wurde sukzessive durch Ankauf von weiteren Messerschmitt Me-109 Maschinen (Gesamtzahl später 58) und in Lizenz gefertigten Morane-Saulnier D-3800 Jägern geschlossen. 1943 nahm das Eidgenössische Flugzeugwerk in Emmen seinen Betrieb auf.
Nachdem 1941 klar war, dass sich die Schweizer Armee in den Alpenraum zurückziehen würde, mussten dort nebst viel Infrastruktur auch neue Militärflugplätze erstellt werden. In kürzester Zeit zog sich die Fliegertruppe ins Réduit zurück. Geschützte Flugplatzanlagen entstanden, z.B. in Alpnach, Meiringen und Turtmann. Am 8. Juli 1942 landete auf dem neu erstellten Réduit-Flugplatz St. Stephan im Berner Oberland erstmals ein Flugzeug, eine C-3603.
Die Zahl der Flugplätze und Feldstützpunkte ist seit Beginn des Aktivdienstes bis 1941 von 29 auf 48 Anlagen gesteigert worden. Im Réduit standen nun die Flugplätze Bellinzona, Buochs, Ems, Interlaken, Kägiswil, Magadino, Meiringen, Mollis, Samedan und Sion zur Verfügung. Die Ablösungsdienste dieses Jahres (1941) fanden auf den Flugplätzen Avenches, BeIp, Bleienbach, Buochs, Emmen, Luzern-Horw, Thun und Utzenstorf statt.
1942/1943 wurde der Flieger-Gebirgsschiessplatzes Axalp-Ebenfluh in Betrieb genommen. Das 1941 gegründete Ueberwachungsgeschwader konnte ab 1943 aktiv eingreifen. 1944 wurde versuchsweise ein Nachtgeschwader gebildet, das 1950 wieder aufgelöst wurde.
Der Angriffsgeist der Schweizer Besatzungen, die insbesondere anfangs Juni 1940 ihre defensive Aufgabe erfüllten, wurde zum eindrücklichen Symbol des Widerstandswillens. Die Fliegertruppe schoss im Luftkampf mehrere Flugzeuge der Luftwaffe Görings ab. Sie hatte aber in dieser Zeit auch selber drei Todesopfer zu beklagen. Am 20. Juni 1940 (und bis Ende Oktober 1943) verbot General Guisan aus politischen Gründen Luftkämpfe über schweizerischem Hoheitsgebiet bis in den Oktober 1943. Im September 1944 gab es noch einen Abschuss einer Schweizer Maschine mit Todesfolge, diesmal durch eine Besatzung der United States Army Air Force (USAAF).
General Guisan am 31. März 1940 die Piloten an, im Schweizer Luftraum ohne vorherige Warnung auf Maschinen kriegführender Parteien zu schiessen. Am 10. Mai wird auch das Verbot, in Grenznähe zu fliegen, aufgehoben.
Endlich! Sofort stürzen sich die Piloten auf feindliche Flugzeuge innerhalb der Schweizer Grenzen, auch wenn es sich um vereinzelte, verirrte, beschädigte Maschinen handelt. Schon am 10. Mai schiesst Kampfpilot Hans Thurnheer als erster Schweizer Soldat gegen einen Feind. Doch er trifft nicht. Am Abend holen dann Walo Hörning und Albert Ahl eine deutsche Dornier Do-17 vom Himmel. Dieser «Fliegende Bleistift» geht gegenüber von Altenrhein SG jenseits der Grenze nieder. Am 16. Mai trifft es einen durch einen Schneesturm vom Weg abgekommenen deutschen Bomber Heinkel He-111, er stürzt im zürcherischen Kemleten bei Illnau ab.
Auf Schweizer Seite sind die Piloten mit den gerade eben aus Deutschland gelieferten Jagdeinsitzern Me-109 unterwegs - ausschliesslich gegen deutsche Gegner. Am 1. Juni überfliegen 36 He-111 des Kampfgeschwaders Legion Condor, die auf dem Weg zu einem Einsatz im französischen Rhonetal sind, die Schweiz. Dabei wird einer dieser Bomber abgeschossen, er stürzt bei Lignière im Kanton Neuenburg ab. Als auf dem Rückweg hinter den Bombern wieder Flugzeuge auftauchen, meldet ein deutscher Bordfunker seinen Kameraden: «Achtung, nicht schiessen, es sind Me-109, also eigener Jagdschutz!» Erst als die Schweizer schiessen, bemerken die Deutschen ihren Fehler, eine He-111 landet brennend im französischen Oltingue.
Am folgenden Tag kann sich ein bereits über Frankreich getroffener deutscher Bomber He-111 zwar noch in die Schweiz retten, wo er aber von einer Zweierpatrouille Me-109 endgültig flugunfähig geschossen wird. Der Bomber landet bei Ursins im Kanton Waadt auf dem Bauch.
Das gefällt der deutschen Luftwaffe nicht. Sie schickt am 4. Juni eine Strafexpedition in die Schweiz. 28 schwere Jagdzweisitzer Me-110 («Zerstörer» nennen sie die Deutschen) fliegen provokativ über dem Neuenburger Jura im Kreis. Sie werden von insgesamt 16 Schweizer Kampfflugzeugen - neben den Me-109 sind auch D-3800 dabei - angegriffen. Wie die Luftkämpfe abgelaufen sind, lässt sich nicht mehr genau rekonstruieren. Am Abend ist Rudolf Rickenbacher mit seiner Me-109 D bei Boécourt, zehn Kilometer westlich von Delémont, tödlich abgestürzt, zwei deutsche Me-110 sind auf französischem Gebiet zerschellt. Nach Rickenbachers Begräbnis im bernischen Lotzwil zerreisst die Bevölkerung einen gespendeten Kranz. Er kommt vom Chef der deutschen Luftwaffe, Hermann Göring, der damit eine unter Kampfpiloten (den Rittern der Lüfte!) durchaus übliche Ehrenbezeugung leisten wollte.
Am 5. Juni 1940 übergibt der deutsche Gesandte Otto Köcher dem Schweizer Aussenminister und Bundespräsidenten Marcel Pilet-Golaz eine Protestnote der Reichsregierung. In Berlin ist man sehr erzürnt über die Attacken der Schweizer Piloten, die, behaupten die Deutschen, auch über französischem Gebiet stattgefunden hätten. Am Schluss der Note heisst es: «Die Reichsregierung erwartet, dass die Schweizer Regierung ihre förmliche Entschuldigung wegen dieser unerhörten Vorkommnisse ausspricht und dass sie den entstandenen Sach- und Personenschaden ersetzt. Im übrigen behält sich die Reichsregierung zur Verhinderung derartiger Angriffsakte alles weitere vor.» Am nächsten Tag trifft die Fliegerabwehrtruppe mit fünf Schüssen aus 7,5-cm-Kanonen ein deutsches Flugzeug, das dann offenbar in Frankreich abstürzt.
Überrascht sind die Deutschen aber auch von der Aggressivität der Schweizer Piloten. Nachdem seit Kriegsbeginn Dutzende von Verletzungen des Schweizer Luftraums ungeahndet geblieben sind, werden nun plötzlich deutsche Flugzeuge angegriffen, die unabsichtlich über Schweizer Gebiet gelangt sind. Rechtlich ist das zwar zulässig, aber es reizt die Deutschen sehr.
Der Armeeführung war wohl sich zu wenig bewusst, was passieren kann, wenn sie die Flieger ohne Einschränkungen kämpfen lässt. Aber sie hätte wissen müssen, dass Militärpiloten, die monatelang nicht eingreifen dürfen, eventuell etwas übermotiviert sind und als selbst ernannte Elitetruppe aussergewöhnlich viel Wert auf Ruhm und Prestige legen. Der Chef des Generalstabs Jakob Labhart - kein Freund Guisans - bemängelte Ende 1939 «die Tendenz der Fliegertruppe, eine Armee für sich zu bilden», und warnte, dass «wir im Ernstfall von der Fliegerei überhaupt keinen positiven Nutzen für unsere Landesverteidigung zu erwarten haben».
Die Kampfpiloten reizen einen starken Gegner, ohne ihm wirklich gewachsen zu sein. Der Chef des persönlichen Stabs des Generals Bernard Barbey notiert in seinem Tagebuch, dass die Schweizer Flieger im Kriegsfall höchstens zwei Tage zu überleben vermöchten: «Ihr Auftrag wäre Selbstaufopferung.» Nicht mit dieser nüchternen Beurteilung einverstanden ist einer der beteiligten Flieger, Walo Hörning, der 1959 schreibt: «Ich höre noch heute die Stimmen einiger wankelmütiger Eidgenossen, die unsere Aktionen als Provokationen verurteilten und der Meinung waren, der Krieg sei bald vorüber und es sei gefährlich, den unberechenbaren ‹Führer des tausendjährigen Reiches› mit solchem Unsinn zu reizen.»
Tatsächlich beginnt sich auch Hitler für die aus deutscher Sicht an sich völlig nebensächlichen Ereignisse am Schweizer Himmel zu interessieren. Am 9. Juni 1940 «hat der Führer selbst die Weiterbearbeitung dieser Angelegenheit in die Hand genommen», wie aus deutschen Quellen hervorgeht. Ob er die zweite, im Ton noch schärfere Note vom 19. Juni beeinflusst, ist nicht klar. Sie bezeichnet die Luftschlacht vom 8. Juni als «einen flagranten feindseligen Akt», bei dem Schweizer Flieger zusammen mit den Franzosen über französischem Gebiet gegen die deutsche Luftwaffe gekämpft hätten. Falls es noch einmal zu Luftkämpfen komme, nähme die Reichsregierung «die deutschen Interessen in anderer Weise» wahr. Der Gesandte Köcher sagt bei der Übergabe, wenn den deutschen Forderungen, irrtümlich Schweizer Gebiet überfliegende deutsche Flugzeuge nicht mehr zu beschiessen, nicht entsprochen werde, könne er für nichts mehr garantieren.
Im Rückblick scheint die Situation im Sommer 1940 verblüffend klar. Zwei Hauptdarsteller verkörpern die zwei Wege, die der Schweiz offen stehen: General Henri Guisan und Bundespräsident Marcel Pilet-Golaz. Während Pilet-Golaz das Land duckmäuserisch den Deutschen auszuliefern versuche, sei es dem General zu verdanken, dass sich die neutralen Eidgenossen mit widerständigem Willen Freiheit und Heimat bewahren. Die mutigen Flieger, als einzige im Kampfeinsatz, wären dafür eigentlich bestens geeignete Symbolfiguren.
Tatsächlich äussert sich Guisan noch am 15. Mai, als ein deutscher Angriff jeden Moment erwartet wird, als Vertreter des unbedingten Widerstands: «Solange ein Mann noch eine Patrone hat oder sich seiner blanken Waffen noch zu bedienen vermag, ergibt er sich nicht.» Das entspricht ganz dem Credo der tollkühnen Flieger.
Quellen: Eigene Aufzeichnungen, Schweizer Luftwaffe