War der Erste Weltkrieg für das Deutsche Kaiserreich ein Verteidigungskrieg? Das kann mit einem klaren Nein beantwortet werden. Militär, führende Politiker, Adel und Industrie wollten Deutschland zur beherrschenden Macht Europas machen – auch durch Krieg. Bereits damals wurde der Boden für eine Ideologie bereitet, die etwa 20 Jahre später in den Zweiten Weltkrieg münden sollte. Bernhard Sauer setzt sich in seinem neuen Buch „Der Erste Weltkrieg – Ein Verteidigungskrieg?“ mit diesen Themen auseinander und fasst einige seiner Erkenntnisse in diesem Artikel zusammen. Wir danken Herrn Sauer für seine Mitwirkung auf Geschichte-Wissen.

Ziele des Deutschen Kaiserreichs im Ersten Weltkrieg

Buchcover von "Der Erste Weltkrieg - ein Verteidigungskrieg?
Bernhard Sauer geht in seinem Buch der Frage nach, ob der Erste Weltkrieg ein Verteidigungskrieg war. (c) Duncker & Humblot Verlag Berlin 2023

In den offiziellen Erklärungen des Deutschen Kaiserreiches befand sich Deutschland in einem Verteidigungskrieg gegen den „russischen Despotismus“. Dem stand allerdings entgegen, dass die deutsche Regierung gleich zu Beginn des Krieges mit ihrem „Septemberprogramm“ weitreichende annexionistische Kriegsziele formulierte. Mit diesem Programm skizzierte die Regierung, welche Ziele der Krieg aus deutscher Sicht haben und wie Europa nach einem Sieg des Deutschen Reiches aussehen sollte.

Ziel war es, die Vorherrschaft des Deutschen Reiches in Mitteleuropa auf erdenkliche Zeit zu sichern. Gefordert wurde die Annexion der französischen Bergbauregion Longwy-Briey, die Umwandlung Belgiens in einen deutschen Vasallenstaat und die Schaffung eines deutschen Kolonialreichs in Mittelafrika. Die Vorstellungen von dem deutschen Kolonialreich wurden wenig später präzisiert. Das zu schaffende mittelafrikanische Kolonialreich Deutschlands sollte folgende Gebiete umfassen: Angola, die Nordhälfte von Mozambique, Belgisch-Kongo mit den wertvollen Kupfergruben Katangas, Französisch-Äquatorialafrika bis zur Hälfte des Tschadsees, Dahomé und das Gebiet südlich des Niger-Bogens bis Timbuktu.

Die gegenüber Russland zu erzielenden Ziele sollten später geprüft werden.

Das Militär und die Industrie wollten Deutschland zur beherrschenden Macht in Europa machen

Große Teile der Militärs, der Alldeutsche Verband mit seinen Gliederungen sowie die großen Industrieverbände hatten noch viel weitergehende Kriegsziele. Für sie war das „Septemberprogramm“ nur so etwas wie ein Minimalprogramm, das durch weitere Forderungen ergänzt werden müsse. Der Alldeutsche Verband sowie relevante Teile der Schwerindustrie hatten schon vor Ausbruch des Krieges Neuland für das Deutsche Reich gefordert, das notfalls auch mit den Mitteln des Krieges erworben werden sollte.

In den am 5. Mai 1915 vom Alldeutschen Verband verabschiedeten Leitsätzen zum Kriegsziel wurden die polnischen Grenzgebiete, die russisch-litauischen Gouvernements und die Ostseeprovinzen als zukünftige Siedlungsgebiete genannt. Im Westen sollte neben Belgien die nordfranzösische Küste am Kanal bis etwa zur Mündung der Somme gewonnen werden. „Wie im Osten, so dürfe auch im Westen der nichtdeutschen Bevölkerung kein politischer Einfluß gewährt werden; industrielle Unternehmungen sowie größerer und mittlerer Landbesitz seien deutschen Staatsbürgern zu übereignen“.[1] Die Bewohner der zu annektierenden französischen Gebieten sollen nach Rest-Frankreich überführt werden, und in den wichtigsten Teilen des Neulandes im Osten soll eine „völkische Feldbereinigung“ vorgenommen werden durch den Austausch der Russen gegen die Wolga- und Schwarzmeerdeutschen. Darüber hinaus wurde von Frankreich die Abtrennung Toulons mit angemessenem Hinterland als festen Mittelmeerstützpunkt gefordert. Marokko, Senegambien und der Französische Kongo sollen in Deutschland fallen, ebenso der Belgische Kongostaat.

Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg
Der Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg – Bild von Nicola Perscheid. Das Bild ist gemeinfrei.

Das „Septemberprogramm“ sollte geheim bleiben, und Reichskanzler Bethmann Hollweg verbot jede öffentliche Diskussion über die Kriegsziele. Er wollte die Arbeiterschaft für den Krieg gewinnen und nach Möglichkeit England in dem Krieg neutral halten. Eine allzu offene annexionistische Kriegszielpolitik hätte diese Vorhaben gefährdet. Bethmann Hollweg hat sicherlich auch deshalb eine öffentlich geführte Debatte über die Kriegsziele abgelehnt, weil solch eine Debatte die Propaganda von der russischen Bedrohung und vom Verteidigungskrieg entlarvt hätte.

Die SPD wollte den Krieg verhindern

Die sozialdemokratischen und sozialistischen Parteien Europas haben auf ihren internationalen Konferenzen wiederholt beschlossen, sich mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln gegen den drohenden Krieg zu stellen.

Noch am 25. Juli 1914 – also drei Tage, bevor Österreich-Ungern Serbien den Krieg erklärt hat – hatte der „Vorwärts“ eindringlich vor der Kriegsgefahr gewarnt: „Gefahr ist im Verzuge. Der Weltkrieg droht! Die herrschenden Klassen, die Euch in Frieden knechten, verachten, ausnutzen, wollen Euch als Kanonenfutter mißbrauchen. Überall muß den Machthabern in den Ohren klingen: Wir wollen keinen Krieg! Nieder mit dem Kriege! Es lebe die internationale Völkerverbrüderung!“[2] Auf Initiative der SPD haben in diesen Tagen kurz vor Ausbruch des Krieges bis zu 750 000 Menschen sich an Antikriegsdemonstrationen beteiligt.

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Die Herrschenden wussten, dass die Sozialdemokratie ihnen bei der Entfesselung eines Krieges erhebliche Schwierigkeiten hätte bereiten können. Aus diesem Grunde wurde wiederholt die Forderung erhoben: Erst die Sozialisten ausschalten, dann den Krieg! Bereits während der ersten „Marokkokrise“ hatte Kaiser Wilhelm II. in einem Neujahrsbrief an den damaligen Reichskanzler Fürst von Bülow erklärt: „Erst die Sozialisten abschießen, köpfen und unschädlich machen, wenn nötig, per Blutbad, und dann Krieg nach außen. Aber nicht vorher und nicht á tempo!“[3] Ähnlich dachten auch führende Militärs. Sie hatten die Absicht, bei Kriegsbeginn den SPD-Vorstand zu verhaften und die Partei aufzulösen.

Bethmann Hollweg verfolgte eine andere Strategie. Er wollte die Arbeiterschaft langfristig für den Krieg gewinnen. Seiner Überzeugung nach konnte Deutschland einen Krieg nicht ohne das Mitgehen der organisierten Arbeiterschaft führen. Die Taktik Bethmann Hollwegs, die Arbeiterbewegung in den Krieg einzubinden, hatte Erfolg. 1914 hat kein Land das Deutsche Kaiserreich bedroht, auch Russland nicht. Doch das Kalkül, Deutschland als Opfer einer russischen Bedrohung erscheinen zu lassen, ging auf. Erhebliche Teile der Bevölkerung, einschließlich einer Mehrheit in der SPD, glaubten tatsächlich, dass Deutschland der Angegriffene sei und lediglich seine Werte verteidige gegen einen barbarischen Feind. Die SPD stellte ihre so eindrucksvoll begonnenen Antikriegsaktivitäten ein. Das war ein verhängnisvoller Fehler, da durchaus – wie dies in dem Buch ausführlich dargestellt wird – die Chance bestand, den Krieg doch noch zu verhindern.

1917: Die Zahl der Kriegsgegner nimmt zu

In dem Maße, in dem der vermeintliche Verteidigungskrieg immer deutlicher den Charakter eines imperialen Eroberungskrieges annahm, wuchs auch die Ablehnung der deutschen Bevölkerung zu diesem Krieg. Die Fortsetzung des Krieges, die Beibehaltung der weitreichenden Annexionsziele trotz immer höherer Kriegsopfer und deutlich geringer werdenden Siegeschancen erzeugten eine breite innerdeutsche Opposition gegen den Krieg. 1917 war das deutsche Volk tief gespalten: in Kriegsbefürworter und Kriegsgegner.

Die Schrecken des Krieges werden in diesem Bild sehr eindrucksvoll gezeigt. Bild von Frank Hurley, gemeinfrei

Adolf Hitler hatte sich freiwillig zum Krieg gemeldet und ihn als Ordonnanz und Meldegänger an der Westfront mitgemacht. In „Mein Kampf“ hat er sichausführlich mit dem Ersten Weltkrieg auseinandergesetzt – mit den Fehlern und Versäumnissen, die seiner Meinung nach damals begangen wurden, und mit den Lehren und Konsequenzen, die daraus für den zukünftigen Krieg zu ziehen sind. Wie andere Rechtskräfte auch, behauptete Hitler, dass der Sieg zum Greifen nahe gewesen sei, erst die Antikriegsbewegung, die mit Streiks und Demonstrationen für die Beendigung des Krieges eingetreten war, habe den sicheren Sieg verhindert. Als Führer der Antikriegsbewegung sah Hitler „den Juden“. Für diese Tat werde man sich an den Juden rächen. Mit der Schuldzuweisung für den verlorenen Krieg an „die Juden“ erreichte der Antisemitismus in Deutschland eine neue Dimension. „Nur die Beseitigung der Ursachen unseres Zusammenbruchs sowie die Vernichtung der Nutznießer derselben kann die Voraussetzung zum äußeren Freiheitskampf schaffen“[4], erklärte Hitler. – Der Holocaust hat seine Wurzeln im Ersten Weltkrieg.

Einen weiteren Krieg hielt Hitler für unvermeidlich, wobei der künftige Krieg nicht nur die „unerledigten“ Ziele des Ersten Weltkrieges im Nachhinein verwirklichen sollte, sondern sehr viel weitergehende Zielvorstellungen beinhaltete. Aufgabe des „deutschen Volkes“ müsse es sein, neue Siedlungsgebiete im Osten zu erlangen. Es könne „nicht Absicht des Himmels sein (…), dem einen Volk fünfzigmal so viel an Grund und Boden auf dieser Welt zu geben als dem anderen“.[5]

Inspiriert von den Eroberungszielen des Alldeutschen Verbandes und der Politik Erich Ludendorffs entwickelte Hitler seine „Bodenpolitik“ – die gewaltsame Eroberung von neuem Siedlungsland im Osten. Das war für Hitler Zeit seines Lebens das unverrückbare strategische Ziel. Ohne den Ersten Weltkrieg und dessen Hinterlassenschaft ist der Zweite Weltkrieg nicht denkbar. Der Nationalsozialismus war vor allem ein Ergebnis des Ersten Weltkrieges.

Bernhard Sauer: Der Erste Weltkrieg – ein Verteidigungskrieg?

Das Buch ist im Duncker & Humblot Verlag, Berlin erschienen und für 49,90 € als Buch bzw. E-Book erhältlich. Weitere Informationen

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[1] Alfred Krug, Geschichte des Alldeutschen Verbandes, 1890-1939, Wiesbaden 1954, S. 86

[2] Aufruf des Parteivorstandes vom 25. Juli 1914 im „Vorwärts“

[3] Zit. nach: Fritz Fischer, Griff nach der Weltmacht. Die Kriegszielpolitik des kaiserlichen Deutschlands 1914-18, Düsseldorf 1961 und 2013, S. 30

[4] Adolf Hitler, Mein Kampf. Zwei Bände in einem Band. Ungekürzte Ausgabe, 58. Auflage, München 1933, S. 680

[5] Ebd., S. 152

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